Entscheidungsstichwort (Thema)

Zollgrenzschutz

 

Leitsatz (amtlich)

1. Lehnt ein Versicherungsträger nach bindend gewordener Rentenfeststellung in einem neuen Bescheid die Anrechnung einer weiteren Versicherungszeit ab, so muß es sich nicht um die Ablehnung eines "Zugunstenbescheides" nach RVO § 1300 handeln; der neue Bescheid kann auch als ein inhaltlich (gegenständlich) beschränkter Zweitbescheid zu werten sein mit der Folge, daß die Nichtanrechnung der Versicherungszeit im gerichtlichen Verfahren uneingeschränkt auf ihre Rechtmäßigkeit nachzuprüfen ist.

2. Der Dienst eines Beamten der Zivilverwaltung kann nur dann militärähnlicher Dienst und damit Ersatzzeit iS des BVG § 3 Abs 1 Buchst d, RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 sein, wenn die Verwendung zur Unterstützung militärischer Maßnahmen die Verwendung des Beamten für andere Zwecke überwogen hat (Anschluß an BSG 1977-10-20 11 RA 108/76).

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Tätigkeit im verstärkten Grenzaufsichtsdienst/Küsten (Zollgrenzschutz) in der Zeit von 1939 bis 1945 ist kein militärähnlicher Dienst iS des BVG § 3 und kann daher bei der Rentenberechnung nicht als Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 angerechnet werden.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1300 Fassung: 1957-02-23; BVG § 3 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1950-12-20; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 03.02.1977; Aktenzeichen V IBf 14/76)

SG Hamburg (Entscheidung vom 13.01.1976; Aktenzeichen 19 J 93/75)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. Februar 1977 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem verstorbenen Ehemann der Klägerin eine höhere als die von der Beklagten festgestellte Rente zustand.

Die Beklagte gewährte dem Ehemann der Klägerin (Versicherter) mit Bescheid vom 28. März 1962 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Bei der Berechnung blieb die Zeit vom 25. August 1939 bis zum 31. März 1945, während der der Versicherte Zollbeamter im Verstärkten Grenzaufsichtsdienst/Küste (VGAD/K) gewesen war, unberücksichtigt. Der Versicherte hat diesen Bescheid nicht angefochten. Mit Schreiben vom 28. Juni 1974 beantragte er, die genannte Zeit als Ersatzzeit anzurechnen, weil er einem militärischen Kommando unterstellt gewesen sei. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 17. Oktober 1974 die Anrechnung als Ersatzzeit ab, weil sich die Aufgaben des Versicherten nach Kriegsbeginn nicht wesentlich geändert hätten. Der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 5. November 1975 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 13. Januar 1976 abgewiesen. Der Versicherte ist nach Berufungseinlegung am 28. November 1976 gestorben. Die Klägerin, die mit ihm bis zu seinem Tode in häuslicher Gemeinschaft gelebt hatte, nahm das unterbrochene Verfahren auf. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 3. Februar 1977 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Rentenfeststellungsbescheid vom 28. März 1962 sei bindend geworden, so daß die Beklagte nach § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nur dann zum Erlaß eines Zugunstenbescheides verpflichtet sei, wenn sie sich von der Unrichtigkeit des Feststellungsbescheides überzeugen müsse. Die Nichtanrechnung der begehrten Ersatzzeit sei aber nicht offensichtlich fehlerhaft. Der Versicherte habe in der streitigen Zeit keinen militärähnlichen Dienst iS des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 3 Abs 1 Buchst d 2. Halbsatz des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) verrichtet. Er habe als Zollbeamter im wesentlichen das gleiche wie vor dem Kriege getan. Sowohl als Leiter der Zollschiffsstation als auch als Leiter der Schiffsdurchsuchungsstation habe er ein- und auslaufende Schiffe kontrollieren lassen. Sein Regeldienst sei über eine allgemein unterstützende Tätigkeit ohne militärische Merkmale nicht hinausgegangen. Lediglich im Frühjahr 1940, als wegen der Truppeneinschiffung nach Norwegen ein Teil des Hafens von C abgesperrt worden sei, müsse eine Unterstützung militärischer Maßnahmen angenommen werden. Diese Aktion habe jedoch nicht einmal 24 Stunden gedauert. Bei der Beteiligung an Großfahndungen nach geflüchteten Kriegsgefangenen im Jahre 1943 sowie an militärischen bzw Alarmübungen in den Jahren 1943 und 1944 habe der Versicherte keine militärischen Maßnahmen unterstützt, sondern allenfalls einen Beitrag zur gesamten deutschen Kriegsführung geleistet. Er habe auch nicht im Sinne des § 3 Abs 1 Buchst b 2. Halbsatz BVG auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht freiwillig oder unfreiwillig, sondern aufgrund seines Beamtenverhältnisses und wohl auch mit Rücksicht auf die von seinem obersten Vorgesetzten genehmigte Unterordnung unter militärische Stellen Dienst geleistet.

Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, das Berufungsurteil beruhe auf einer Verletzung des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 3 Abs 1 Buchst b und d 2. Halbsatz BVG. Die Unterstellung des VGAD unter militärische Befehlsgewalt und seine militärischen Aufgaben ergäben sich aus verschiedenen Unterlagen, die dem LSG vorgelegen hätten, sowie aus den Zeugenaussagen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Anrechnung einer Ersatzzeit vom 25. August 1939 bis zum 1. April 1945 zu verurteilen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht das die Klage abweisende Urteil des SG bestätigt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung eines neuen Rentenbescheides unter Berücksichtigung einer Ersatzzeit vom 25. August 1939 bis zum 31. März 1945.

Das Berufungsgericht ist zwar zu Unrecht davon ausgegangen, bei dem angefochtenen Bescheid vom 17. Oktober 1974 handele es sich um einen negativen Bescheid nach § 1300 RVO, der nur dann rechtswidrig sei, wenn die Beklagte sich von der Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenfeststellung überzeugen müsse. Tatsächlich handelt es sich um einen - inhaltlich begrenzten - "Zweitbescheid", der unabhängig von der Überzeugung des Versicherungsträgers auf seine Rechtmäßigkeit nachzuprüfen ist (vgl hierzu BSG in SozR Nr 35 zu § 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Für die Beurteilung der Rechtsnatur eines Bescheides daraufhin, ob es sich um einen "Zugunstenbescheid" oder um einen voll nachprüfbaren "Zweitbescheid" handelt, sind die Umstände des Einzelfalles, insbesondere der Inhalt des Bescheides maßgebend (vgl BSG in SozR Nr 12 zu § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VerwVfG -). Der Bescheid vom 28. März 1962 enthielt keine ausdrückliche Entscheidung über die Anrechnung der streitigen Zeit als Ersatzzeit, zumal der Versicherte damals lediglich angegeben hatte, er sei von 1918 bis 1945 Zollbeamter gewesen. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 17. Oktober 1974 hat die Beklagte in dem von der Begründung getrennten Verfügungssatz entschieden: "Die Anrechnung von Ersatzzeiten wird abgelehnt". In der Begründung hat sie sich nicht auf die Bindungswirkung des Rentenfeststellungsbescheides berufen; sie hat damit unabhängig von der Bindungswirkung eine neue Entscheidung, wenn auch nur über die Anrechnung der begehrten Ersatzzeit, getroffen. Damit ist zwar die Nachprüfung der Rentenberechnung inhaltlich auf die Klärung dieser Frage, nicht jedoch in ihrer Intensität beschränkt worden. Bei dem angefochtenen Bescheid vom 17. Oktober 1974 handelt es sich also um einen inhaltlich (gegenständlich) beschränkten Zweitbescheid, der unabhängig von den Voraussetzungen des § 1300 RVO nachzuprüfen ist (vgl Urteil des 11. Senats - 11 RA 12/76 - vom 3. Februar 1977). Gleichwohl ist die Revision der Klägerin unbegründet, denn auch die von der Überzeugung der Beklagten unabhängige Nachprüfung ergibt, daß die streitige Zeit nicht als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO anzurechnen ist.

Der Dienst des Versicherten im VGAD war nicht militärähnlicher Dienst iS des § 3 BVG. Nach § 3 Abs 1 Buchst d BVG gilt als militärähnlicher Dienst ua der Dienst der Beamten der Zivilverwaltung, die auf Befehl ihrer Vorgesetzten zur Unterstützung militärischer Maßnahmen verwendet und damit einem militärischen Befehlshaber unterstellt waren. Der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat bereits entschieden, daß der Dienst der Beamten der Zivilverwaltung nur dann als militärähnlicher Dienst gewertet werden kann, wenn die Verwendung zur Unterstützung militärischer Maßnahmen die Verwendung für andere Zwecke überwogen hat (Urteil vom 20. Oktober 1977 - 11 RA 108/76 -). Der erkennende Senat schließt sich dieser Entscheidung an.

Im vorliegenden Falle ist eine überwiegende Verwendung des Versicherten zur Unterstützung militärischer Maßnahmen nicht festgestellt. Die Klägerin hat die tatsächlichen Feststellungen im Berufungsurteil nicht mit einer Verfahrensrüge im Sinne des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG angegriffen; die Revisionsbegründung enthält lediglich eine andere Beweiswürdigung. Nach den somit gemäß § 163 SGG bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG hat sich aber in dem Dienstablauf des Versicherten durch den Krieg nichts Wesentliches geändert. Ihm oblagen im Grunde die gleichen (zivilen) Aufgaben wie zuvor. Soweit der Versicherte mit seinem üblichen Dienst als Zollbeamter zugleich im Interesse der Abwehr oder der Marine tätig wurde, unterstützte er nicht konkrete militärische Maßnahmen, sondern allenfalls die deutsche Kriegsführung allgemein. Auch die Teilnahme an militärischen bzw an Alarmübungen und an Großfahndungen nach geflüchteten Kriegsgefangenen lagen noch im Rahmen der von einem Zollgrenzschutz erwarteten Tätigkeit; sie dienten ebenfalls der Erfüllung der diesem Verband gestellten Aufgaben. Dabei spielt es keine Rolle, daß sich diese Tätigkeiten zum Teil von den Tätigkeiten im Frieden unterschieden und daß einzelne Aufgaben auch von militärischer Seite hätten wahrgenommen werden können (vgl das zitierte Urteil vom 20. Oktober 1977). Als Unterstützung konkreter militärischer Maßnahmen kommt nur die Beteiligung des Versicherten an der Hafenabsperrung bei der Truppeneinschiffung nach Norwegen in Betracht. Diese Absperrung hat aber nicht einmal 24 Stunden gedauert, so daß sie die Verwendung für andere, zivile Zwecke nicht in dem für die Anrechnung einer Ersatzzeit geforderten Maße überwogen hat.

Für die anderen in § 3 Abs 1 BVG enthaltenen Tatbestände liegen keine Anhaltspunkte vor. Insbesondere hat der Ehemann der Klägerin auch nicht im Sinne des § 3 Abs 1 Buchst b BVG aufgrund einer Einberufung durch eine militärische Dienststelle oder auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht freiwillig oder unfreiwillig Dienst geleistet. Seine Dienstleistung beruhte vielmehr auf seiner Dienststellung als Zollbeamter.

Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Klägerin zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651037

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