Leitsatz (amtlich)

Wer durch einen vorsätzlichen Angriff verletzt wird, steht, auch wenn er zu dieser Zeit keine versicherte Tätigkeit ausübt, unter Versicherungsschutz, sofern der Täter wesentlich aus einem Beweggrund gehandelt hat, der mit dem Unternehmen des Verletzen ursächlich zusammenhängt.

 

Normenkette

RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09, § 537 Nr. 8 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 29. August 1958 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1889 geborene Kläger betreibt eine Landwirtschaft von 15 1/2 ha in N./ Krs. Schleswig. Seine Hofstatt ist der eine Teil eines ehemals einheitlichen landwirtschaftlichen Unternehmens; den anderen Teil bewirtschaftet der im Jahre 1915 geborene Landwirt K. Die beiden seit 1936 eng benachbarten Bauern leben miteinander in einem gespannten Verhältnis. Am 23. März 1957 gegen 19 Uhr war der Kläger zu dem ebenfalls in Neuberend wohnenden, damals 81 Jahre alten landwirtschaftlichen Arbeiter H unterwegs. Auf der Dorfstraße begegnete ihm sein Nachbar K, der in Begleitung seiner Ehefrau aus einer Gastwirtschaft gekommen war. K stürzte auf den Kläger zu und griff in einem plötzlichen Zornesanfall tätlich an; er versetzte ihm Faustschläge und Beinstöße. Dadurch wurde der Kläger erheblich verletzt. K wurde wegen Körperverletzung und Beleidigung des Klägers mit drei Wochen Gefängnis bestraft.

Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch durch Bescheid vom 28. August 1957 mit der Begründung ab, zu der tätlichen Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und K sei es wegen eines seit Jahren zwischen beiden bestehenden Zerwürfnisses gekommen, das hauptsächlich private Gründe habe.

Mit der Klage hiergegen hat der Kläger geltend gemacht, er habe mit seinem Nachbarn stets sachlich und ruhig verkehrt; H habe er an dem Unfallabend aufsuchen wollen, um ihn zur Arbeitshilfe zu bestellen. Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat die Ehefrau des Klägers und die Eheleute H als Zeugen darüber vernommen, weshalb der Kläger unterwegs war, als er von K angegriffen wurde. Auf den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag des Klägers, die Beklagte unter Aufhebung ihres ablehnenden Bescheides zur Gewährung einer angemessenen Unfallrente zu verurteilen, hat das SG am 21. April 1958 die Beklagte verurteilt, den Unfall vom 23. März 1957 als Arbeitsunfall anzuerkennen. Es ist der Ansicht, zwischen dem schädigenden Ereignis und der Betriebstätigkeit des Klägers sei ein innerer Zusammenhang gegeben, da der Kläger im Zeitpunkt des Überfalls die Eheleute H aus betrieblichen Gründen habe aufsuchen wollen und deshalb einer betriebsbedingten Gefahr ausgesetzt gewesen sei.

Die Beklagte hat hiergegen Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut gehört, das Beweisthema auf das persönliche Verhältnis des Klägers zu seinem Nachbarn K erstreckt und dazu auch den ortskundigen Polizeimeister als Zeugen vernommen. Durch Urteil vom 29. August 1958 hat das LSG die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der Ausspruch des erstinstanzlichen Urteils neu zu fassen sei, und zwar habe die Beklagte dem Kläger einen neuen Bescheid dahin zu erteilen, daß sie ihn wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 23. März 1957 entschädige. Zur Begründung ist in dem Urteil im wesentlichen ausgeführt: K habe den Kläger angegriffen, als dieser unterwegs gewesen sei, um H zur Mithilfe auf seinem Hofe zu bestellen. Der Überfall habe sich daher im Rahmen der betrieblichen Betätigung des Klägers ereignet. Die Beweggründe, die K zu seinem tätlichen Vorgehen gegen den Kläger veranlaßten, hätten in ursächlichem Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit des Klägers gestanden. Bei den durch die enge Nachbarschaft der beiden Familien gegebenen persönlichen Reibungsmöglichkeiten sei es Anfang 1957 zu Meinungsverschiedenheiten wegen eines Koppelknicks gekommen, dessen Holznutzung jeder der beiden Nachbarn für sich beanspruchte. Dieser Grenzstreit sei Anlaß für den Überfall des jähzornigen und damals angetrunkenen K gewesen. Die persönlichen Gründe, die ihn zur Tat bewogen hätten, gingen daher auf betriebliche Angelegenheiten des Klägers zurück.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 1. November 1958 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 25. November 1958 Revision eingelegt und diese mit dem am 2. Februar 1959 eingegangenen Schriftsatz vom 30. Januar 1959 innerhalb der bis zum 1. Februar 1959, einem Sonntag, gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verlängerten Frist wie folgt begründet: Das LSG sei durch verfahrensrechtlich nicht einwandfrei zustande gekommene tatsächliche Feststellungen zu der Auffassung gelangt, daß sich der Kläger auf einem seinem landwirtschaftlichen Unternehmen dienenden Wege befunden habe, als er von K angegriffen wurde. Abgesehen davon beruhe die Annahme des angefochtenen Urteils, der Überfall sei aus Gründen geschehen, die mit der Betriebstätigkeit des Klägers ursächlich zusammenhingen, auf rechtsirriger Anwendung der §§ 537 Nr. 8 und 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, somit zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Das angefochtene Urteil ist in der Sitzung des 6. Senats des LSG Schleswig vom 29. August 1958 unter Mitwirkung eines Landessozialgerichtsrats als Vorsitzendem und eines Landesverwaltungsgerichtsrats sowie eines Sozialgerichtsrats als weiteren Berufsrichtern ergangen. Die Frage, ob diese Besetzung des Berufungsgerichts vorschriftswidrig war (vgl. BSG 9, 137 ff; 11, 22 ff), ist von der Revision nicht aufgeworfen worden. Das Revisionsgericht kann sie, wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits in der zur Veröffentlichung vorgesehenen Entscheidung vom 28. Juli 1961 - 8 RV 145/59 - ausgesprochen hat, nicht von Amts wegen prüfen. Nach dieser Entscheidung ist die Frage der Besetzung des LSG auch bei einer zugelassenen Revision nur zu berücksichtigen, wenn hierzu ein wesentlicher Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts gerügt ist. Die Frage der fehlerhaften Besetzung des LSG steht daher einer Sachentscheidung auf die Revision nicht entgegen.

Das LSG hat ein Grundurteil im Sinne des § 130 Satz 1 SGG erlassen. Es hat sich zu einer Vervollständigung des auf die Verurteilung der Beklagten nur zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls lautenden erstinstanzlichen Urteils veranlaßt gesehen, weil mit diesem Urteilsausspruch dem auf die Verurteilung der Beklagten zur Entschädigungsleistung gerichteten Klageantrag nicht in vollem Umfange entsprochen, sondern nur über eine Anspruchsvoraussetzung entschieden worden sei. Mit dem Begehren, die Beklagte zur Gewährung einer angemessenen Unfallrente zu verurteilen, hatte der Kläger bereits vor dem SG eine Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 4 SGG erhoben. Hierüber hat das LSG entschieden. Es hat, wie sich aus der Begründung des angefochtenen Urteils ergibt, die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Entschädigung aus der landwirtschaftlichen Unfallversicherung für gegeben erachtet und mangels Unterlagen nicht auch über die Leistungshöhe befinden können, so daß der Erlaß des Grundurteils geboten war.

Das LSG hat die körperliche Mißhandlung des Klägers, die er am Abend des 23. März 1957 bei einem tätlichen Angriff durch seinen Nachbarn K erlitten hat, zu Recht als Arbeitsunfall im Sinne des § 542 RVO gewertet. Nach den insoweit von der Revision nicht beanstandeten tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) ist der Kläger von K, mit dem er in einem gespannten Verhältnis lebte, bei einer zufälligen Begegnung vorsätzlich angegriffen und erheblich verletzt worden. Bei einem derartigen Unfallereignis hängt der Versicherungsschutz des Verletzten davon ab, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Angriff und der versicherten Tätigkeit gegeben ist (vgl. BSG 6, 164, 167 ff; 10, 56, 60). Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage sind in der Regel die Beweggründe, die den Angreifer zu seinem Vorgehen bestimmt haben. Sind die vorsätzlichen Tätlichkeiten durch Umstände veranlaßt worden, die mit der versicherten Tätigkeit des Verletzten innerlich verknüpft sind, so ist der für die Annahme eines Arbeitsunfalls erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit gegeben. Von dieser Rechtslage ist das LSG bei seiner Entscheidung ausgegangen und hat demzufolge den Entschädigungsanspruch des Klägers gegen die Beklagte zu Recht für begründet erachtet. Zu den Tätlichkeiten des K gegenüber dem Kläger war es, wie in dem angefochtenen Urteil festgestellt ist, bei der Begegnung zwischen den beiden Nachbarn dadurch gekommen, daß diese seit Anfang 1957 wegen Meinungsverschiedenheiten über das Recht zur Holznutzung in einem Grenzstreifen, das jeder der beiden für sich beanspruchte, in Streit lebten. Die Verärgerung des K über diesen Grenzstreit war nach den Ausführungen des angefochtenen Urteils der Anlaß für seine Tätlichkeiten gegen den Kläger auf der Dorfstraße. Diese Feststellungen hat die Revision nicht wirksam angegriffen. Sie hat insoweit zwar geltend gemacht, K sei durch allgemeine, nicht betrieblich beeinflußte Spannungen zwischen den beiden Nachbarn zu dem Überfall veranlaßt worden; die Möglichkeit, daß sich das bestehende Zerwürfnis wegen des Streites um das Recht auf die Holznutzung zur Feindseligkeit gesteigert habe, reiche nicht aus, einen betriebsbedingten Beweggrund für den Überfall zu schaffen. Mit diesem Vorbringen wendet sich die Revision indessen lediglich gegen das Ergebnis der Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils, macht dem Berufungsgericht aber nicht zum Vorwurf, daß es zu seinen Schlußfolgerungen durch verfahrensrechtliche Verstöße gelangt sei; die Unterlagen ließen im übrigen solche Rechtsverletzungen auch nicht erkennen.

Hiernach hat das LSG ohne Rechtsirrtum angenommen, daß der Landwirt K den Kläger aus Gründen tätlich angegriffen hat, die mit dessen landwirtschaftlichem Unternehmen innerlich zusammenhingen. Denn der zum Überfall auf den Kläger führende Grenzstreit wurzelte in dem den Versicherungsschutz begründenden Unternehmen des Klägers (§ 537 Nr. 8 RVO). Das hat zur Folge, daß sich dieser Versicherungsschutz auf das zu den Gesundheitsschädigungen des Klägers führende Unfallereignis vom 23. März 1957 erstreckte (vgl. BSG aaO, ferner SozR RVO § 542 Bl. Aa 24 Nr. 34 und Handbuch der Unfallversicherung, Bd. I. S. 83 ff; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II 1961, S. 488 a; Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Stand August 1960, S. 68 a, 70 a, Anm. 3 II g u. i zu § 542 RVO).

Soweit die Revision unter Bezug auf die Entscheidung des Bayerischen LSG vom 13. Mai 1954 in BG 1955, 41 in sachlich-rechtlicher Hinsicht in Zweifel zieht, daß die Regelung der Grenzstreitigkeit dem landwirtschaftlichen Betrieb des Klägers zugerechnet werden könnte, weil derartige Angelegenheiten nicht zum fachlichen Verwaltungsteil des Unternehmens gehörten, verkennt sie, daß es sich bei dem zwischen dem Kläger und K strittigen Recht auf die Holznutzung nicht um eine der rein privaten Lebenssphäre des Klägers zugehörende Vermögensangelegenheit handelte (vgl. RVO-Mitgl.-Komm., Bd. III, 2. Aufl., S. 40 Anm. 2 a zu § 544; BSG 1, 258, 260). In dem der angeführten Entscheidung des Bayerischen LSG zugrunde liegenden Streitfall handelte es sich um die Beschaffung einer Verkaufsurkunde über ein Kraftfahrzeug, deren Inhalt die Betriebsinteressen des Unfallverletzten nicht mehr berührte. Im vorliegenden Fall hingegen ging es um die Klärung des Rechts an der Holznutzung auf einem zum landwirtschaftlichen Unternehmen des Klägers gehörenden sog. Koppelknick. Der Streit zwischen den beiden Nachbarn hierüber war daher auch dem Betrieb des Klägers zuzurechnen. Demzufolge hatte das tätliche Vorgehen des Landwirts K gegen den Kläger seinen wesentlichen Beweggrund in dessen versichertem Unternehmen.

Läßt sich sonach, wie vorstehend ausgeführt ist, der Versicherungsschutz des Klägers bereits aus den Beweggründen seines Angreifers herleiten, so ist es für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit des Klägers unerheblich, ob der Angriff auf einem betrieblichen oder privaten Zwecken dienenden Weg stattgefunden hat (vgl. RVA in EuM 42, 259). Daher brauchte entgegen der Auffassung des LSG nicht entschieden zu werden, ob der Kläger angegriffen und verletzt wurde, als er sich auf einem nach §§ 537 Nr. 8, 542 RVO versicherten Wege befand.

Hiernach war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297091

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