Leitsatz (amtlich)

Die Versorgungsverwaltung hat der Krankenkasse die Heilbehandlungskosten nach § 19 BVG auch dann zu erstatten, wenn der Beschädigte infolge Bewußtlosigkeit keine Beschädigtenversorgung beantragen konnte, die Verwaltung aber die behandelten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen beurteilt und der Witwe auf ihren Antrag Hinterbliebenenversorgung zuerkannt hat (Ergänzung zu BSG vom 23.2.1987 - 9a RVg 1/85 = BSGE 61, 180 = SozR 3100 § 19 Nr 17).

 

Normenkette

OEG § 1 Abs 1 S 1, § 4 Abs 6 S 1; BVG § 19 Abs 1; BVG § 19 Abs 3

 

Verfahrensgang

SG Mainz (Entscheidung vom 10.03.1987; Aktenzeichen S 6 Vg 1/86)

 

Tatbestand

Die klagende Krankenkasse begehrt eine Erstattung von Krankenhauspflegekosten in Höhe von 20.877,50 DM und von Krankentransportkosten von 471,40 DM für ihr früheres Mitglied P K (K). K wurde am 6. März 1985 von seiner Tochter durch eine Gewalttat schwer verletzt und anschließend auf Kosten der Klägerin stationär behandelt. Er starb am 1. Mai 1985 an den Verletzungsfolgen, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Die Tochter wurde wegen Mordes bestraft. Die Witwe des Getöteten beantragte am 3. Mai 1985 Hinterbliebenenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Dem Antrag ist entsprochen worden (Bescheide vom 18. Juni 1985 und 22. Januar 1986). Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verpflichtet, der Klägerin die Krankenhauspflege- und Krankentransportkosten zu zahlen (Urteil vom 10. März 1987). Das Gericht hält die Versorgungsverwaltung nach dem OEG iVm § 19 Bundesversorgungsgesetz (BVG) für erstattungspflichtig. Die Aufwendungen wegen anerkannter Schädigungsfolgen seien vom Beklagten zu tragen, weil das Anerkenntnis im Juni 1985 nach § 60 Abs 1 Satz 2 BVG zurückgewirkt habe.

Der Beklagte rügt mit der - vom SG zugelassenen - Sprungrevision, das Gericht hätte den Anspruch aus § 19 BVG mangels eines Versorgungsantrages nicht zusprechen dürfen, obwohl der Versicherte wegen Schädigungsfolgen iS des § 1 OEG stationär behandelt worden sei. Ohne einen Antrag habe kein Heilbehandlungsanspruch nach dem OEG bestanden. Für Fälle wie den gegenwärtigen enthalte das Gesetz keine Lücke, die zugunsten der Klägerin auszufüllen wäre.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält eine Gesetzeslücke in einem Fall wie dem vorliegenden für gegeben, wenn der Geschädigte infolge von Bewußtlosigkeit keine Versorgung nach dem OEG habe beantragen können.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.

Wie das SG zutreffend entschieden hat, hat der Beklagte der Klägerin die für ihren Versicherten aufgewendeten Krankenhauspflege- und Krankentransportkosten zu erstatten (§ 1 Abs 1 Satz 1, §§ 4, 6 Abs 1 Satz 1 OEG iVm § 19 Abs 1 BVG vom 22. Januar 1982 -BGBl I 21-/20. Juni 1984 -BGBl I 761-). Nach den Spezialregelungen des § 19 Abs 1 Satz 1 und 2 BVG im Verhältnis zu den §§ 102ff SGB X sind der Krankenkasse, die sowohl nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) als auch nach dem OEG iVm dem BVG zu den bezeichneten Leistungen verpflichtet war, ihre Aufwendungen zu erstatten, wenn die behandelten Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen anerkannt worden sind (vgl dazu BSG SozR 3100 § 19 Nr 7). Die Versorgungsverwaltung lehnt in diesem Fall die begehrte Erstattung ab, weil der Beschädigte mangels eines Antrages keinen Anspruch auf Beschädigtenversorgung (§ 1 Abs 1 Satz 1 OEG, § 10 Abs 1, §§ 11ff, 18c Abs 1 Satz 3, Abs 2, §§ 30 bis 35 BVG) gehabt und weil sie keine Schädigungsfolgen ihm gegenüber anerkannt habe. Diese Weigerung ist unter den besonderen Umständen dieses Falles nicht gerechtfertigt. Bei einer den Zweck dieser Voraussetzungen berücksichtigenden Gesetzesauslegung ist der Erstattungsanspruch als begründet anzusehen (vgl zB BSG GS in BSGE 14, 246, 249f = SozR Nr 2 zu § 58 BVG).

Das Versorgungsamt hätte iS des § 19 BVG im Verhältnis zum Beschädigten anerkannt haben müssen, daß die auf Kosten der Krankenkasse behandelten Gesundheitsstörungen die Folgen einer Schädigung iS des § 1 OEG sind (§ 1 Abs 1 Satz 1 OEG, § 1 Abs 3 Satz 1 BVG; zur Terminologie: BSGE 41, 84 = SozR 3100 § 35 Nr 2). Eine solche Anerkennung lag nicht zugleich in der im Verwaltungsverfahren der Witwe (§§ 8, 18, 12 Abs 1 Nr 1 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren -SGB X- vom 18. August 1980 -BGBl I 1469-) ausgesprochenen Zuerkennung eines Hinterbliebenen-Versorgungsanspruches mit der Begründung, der Tod sei die Folge einer gesundheitlichen Schädigung iS des § 1 OEG (§ 1 Abs 1 Satz 1 und Abs 5 OEG, § 38 Abs 1 BVG). Aber der in diesem Zusammenhang bestehende Zweck der Anerkennung ist erfüllt. Sie soll für die Krankenkasse klarstellen, für welche Gesundheitsstörungen eine Heilbehandlung gewährt werden darf und muß (vgl zum Wiedergutmachungsrecht: BGH, Recht zur Wiedergutmachung 1965, 73). Diese Klarstellungsfunktion der Anerkennung erübrigt sich indessen. Unter den Beteiligten ist, wie der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, unstreitig, daß die behandelten Gesundheitsstörungen durch eine Verletzung verursacht wurden, die nach dem Bescheid über die Hinterbliebenenversorgung als Schädigung iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zu beurteilen ist. Damit ist eine ähnliche Sach- und Rechtslage gegeben, wie sie bei einer nach § 19 Abs 3 Satz 2 BVG die Anerkennung ersetzenden Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang besteht, falls eine Gesundheitsstörung durch eine Behandlung beseitigt wurde. In diesem Fall ist die Gesundheitsstörung durch den Tod beendet worden; sie hat den Tod herbeigeführt.

Außerdem fehlte hier für die Anerkennung in einem gegenüber der Hinterbliebenenversorgung selbständigen Versorgungsverhältnis zum Beschädigten und für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung der unerläßliche Antrag (BSG SozR 3100 § 19 Nr 9; vgl auch Urteil vom 10. Dezember 1987). Dieses Erfordernis besteht nach dem Urteil des Senats vom 23. Februar 1987 (BSGE 61, 180 = SozR 3100 § 19 Nr 17) grundsätzlich auch für Fälle wie den vorliegenden, in denen der Beschädigte infolge von anhaltender Bewußtlosigkeit vor seinem Tod eine Entschädigung nach dem OEG nicht selbst wirksam beantragen oder nicht einen anderen beauftragen konnte, dies zu tun, und darauf nicht verzichten konnte. Aber der Fall, über den hier zu entscheiden ist, unterscheidet sich von jenem durch einige zusätzliche Besonderheiten, die den Zweck des Antrages gegenstandslos machen. Seine Schutzfunktion ist entfallen.

Die Gründe, die es rechtfertigen, den Versorgungsanspruch nach dem OEG und dessen Anerkennung von einem Antrag des Verletzten abhängig zu machen (BSGE 61, 182), sind nicht mehr gegeben. Der mit dem Antragsrecht bezweckte Schutz des Persönlichkeitsrechts ist mit dem Tod nicht mehr zu gewähren. Der mutmaßliche Wille des Verstorbenen hat sich nicht sicher ermitteln lassen. Aber seit dem Tod ist eine Hinterbliebene, in diesem Fall die Witwe, berechtigt, über die Ausübung des Antragsrechts für sich selbst zu entscheiden und damit eine Aufklärung - im Hinblick auf § 1 Abs 1 Satz 1 und § 2 Abs 1 OEG - zu veranlassen, die der Verstorbene uU nicht gewollt hätte, weil sie den Intimbereich der Familie berührte. Die Witwe als Familienangehörige hat in diesem Fall darüber positiv entschieden und damit die sonst für den Staat gebotene Rücksichtnahme auf schutzwürdige Interessen des und der Betroffenen gegenstandslos gemacht. Dadurch ist der Weg zur Sachaufklärung über Vorgänge im innerfamiliären Bereich eröffnet worden, und diese Aufklärung hat, wie bereits dargelegt, einen Schädigungstatbestand iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG ergeben. Für diese Ausnahmelage würden allerdings die Ermittlungen in dem von Amts wegen betriebenen Strafverfahren nicht genügen.

Unter diesen besonderen Voraussetzungen ist der Beklagte zur Erstattung verpflichtet und deshalb das angefochtene Urteil zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

BSGE, 204

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt SGB Office Professional . Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge