Entscheidungsstichwort (Thema)

Ladung des medizinischen Sachverständigen zur Erläuterung des schriftlichen Gutachtens

 

Orientierungssatz

Hat ein medizinischer Sachverständiger ein schriftliches Gutachten erstattet und der Prozeßbeteiligte die Ladung des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung beantragt, damit dieser sein Gutachten erläutere und Fragen des Prozeßbeteiligten beantworte, so liegt in der Übergehung dieses Antrages ein wesentlicher Mangel des Verfahrens; denn die Ausübung des Fragerechts gegenüber dem medizinischen Sachverständigen ist Ausfluß des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör (vgl BSG vom 5.5.1961 - 1 RA 67/60 = SozR Nr 160 zu § 162 SGG). Die Ladung darf nicht von einer Vorformulierung der Fragen abhängig gemacht werden.

 

Normenkette

SGG § 118 Abs 1 S 1; ZPO § 411 Abs 3; SGG §§ 62, 160 Abs 2 Nr 3

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 23.03.1990; Aktenzeichen L 1 An 72/89)

SG Hannover (Entscheidung vom 16.02.1989; Aktenzeichen S 14 An 27/86)

 

Tatbestand

Streitig ist Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit.

Die 1935 geborene Klägerin war nach dem Besuch der Handelsschule zunächst als Kontoristin und nach einer weiteren Ausbildung ab 1971 als Erzieherin (Sportlehrerin) tätig. In den Jahren von 1977 bis 1979 absolvierte sie eine zweijährige interne Ausbildung für den mittleren Verwaltungsdienst. Seit 1981 steht sie als Sachbearbeiterin beim Sozialamt der Stadt Hannover in einem Beschäftigungsverhältnis.

Nachdem ein 1979 ua wegen Operationsfolgen an beiden Kniegelenken gestellter Rentenantrag erfolglos geblieben war, beantragte die Klägerin im Oktober 1985 bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) erneut Rente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte dies ab (Bescheid vom 7. Januar 1986).

Im anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren hat zunächst der Orthopäde Prof. Dr. St. und sodann - auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) - Prof. Dr. F. am 27. Mai 1988 ein psychosomatisches Gutachten erstattet. Darin heißt es, die bei der Klägerin bestehende psychische Fehlhaltung habe die Ausmaße einer "Kernneurose" erreicht und schließe eine weitere Erwerbstätigkeit aus. Der vom Sozialgericht Hannover (SG) zusätzlich gehörte Arzt für Nerven- und Gemütskrankheiten Dr. med. Sch. ist im Gutachten vom 10. November 1988 nach Aktenlage zu dem Ergebnis gelangt, die psychosomatischen Erörterungen Prof. Dr. med. F. seien überzeugend; die Schlußfolgerungen bezüglich des Leistungsvermögens könnten jedoch nicht ohne weiteres nachvollzogen werden und ließen nicht erkennen, daß in der Tat völlige Erwerbsunfähigkeit bestehe. Es müsse zunächst ein Therapieversuch im Rahmen einer sechs- bis zehnwöchigen Kur in einer psychosomatischen Klinik unternommen und danach erneut das Leistungsvermögen beurteilt werden.

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Februar 1989). Die Klägerin hat Berufung eingelegt und durch ihren Prozeßbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) vom 23. März 1990 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit und weiterhin hilfsweise beantragt, "den Sachverständigen Prof. Dr. F. zur Erläuterung seines Gutachtens vor dem Senat zu hören", nachdem bereits mit Schriftsatz vom 28. Februar 1990 ein entsprechender Antrag gestellt worden war. Das LSG hat die Berufung durch Urteil vom 23. März 1990 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei weder erwerbs- noch berufsunfähig. Sie könne weiterhin ihren bisherigen Beruf als Sachbearbeiterin ausüben. Zwar leide sie an einer mit Schmerzempfindungsstörungen verbundenen generalisierten Fibromyalgie, weswegen sie nicht dauernd im Sitzen arbeiten könne, sondern zwischen Sitzen, Gehen und Stehen wechseln solle. Weitergehende Gesundheitsstörungen hätten sich jedoch nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen lassen. Prof. Dr. F. habe keine überzeugenden Gründe dafür dargetan, daß die Klägerin an einer unüberwindbaren seelischen Fehlhaltung leide. Insofern seien die Ausführungen von Dr. Sch. überzeugender, wonach zunächst ein Therapieversuch angezeigt sei; dies gelte um so mehr, als der Nervenarzt (Vertrauensarzt) Dr. med. B. die Klägerin ab dem 28. April 1989 für arbeitsfähig bezeichnet habe. Es habe auch kein Anlaß bestanden, Prof. Dr. F. zur Erläuterung seines Gutachtens zum Termin zu laden. Es sei nicht zu erkennen, welche weiteren sachdienlichen Fragen dem Sachverständigen gestellt werden sollten. Auch für die Einholung eines zusätzlichen ärztlichen Gutachtens habe keine Veranlassung bestanden.

Die Klägerin hat zur Begründung der - vom Senat zugelassenen - Revision Verfahrensfehler gerügt. Das LSG habe dem im Termin gestellten Beweisantrag entsprechen müssen; das Beweisthema ergebe sich aus dem Sachzusammenhang, die Notwendigkeit der weiteren Beweiserhebung daraus, daß Dr. med. Sch. und der Rheumatologe G. zu einer von Prof. Dr. F. abweichenden Beurteilung gelangt seien. Es müsse auch bedacht werden, daß Dr. med. Sch. nur ein Gutachten nach Aktenlage erstattet habe und dem Rheumatologen die Kompetenz für das psychiatrische Fachgebiet fehle. Aufgrund der beantragten Anhörung des Prof. Dr. F., zu der sich das LSG hätte gedrängt fühlen müssen, wären neue entscheidungserhebliche Erkenntnisse gewonnen worden.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen

vom 23. März 1990 und des Sozialgerichts Hannover vom

16. Februar 1989 aufzuheben sowie die Beklagte unter

Aufhebung des Bescheides vom 7. Januar 1986 zu verurteilen,

ihr Rente wegen Erwerbsunfähigkeit,

hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit ab 1. November

1985 zu gewähren,

weiterhin hilfsweise,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung

an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom

23. März 1990 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten

Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht

zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des Berufungsgerichts sind verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.

Nach § 24 Abs 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) erhält Rente wegen Erwerbsunfähigkeit der Versicherte, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Erwerbsunfähig ist der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (§ 24 Abs 2 Satz 1 AVG).

Gemäß § 23 Abs 2 Satz 1 AVG ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 aaO beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Diese Vorschriften des AVG, das mit dem 1. Januar 1992 außer Kraft getreten ist (Art 83 Nr 1 des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992)), sind weiterhin anzuwenden, weil im Sinne von § 300 Abs 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) über einen vor diesem Zeitpunkt geltend gemachten Anspruch zu entscheiden ist (vgl zum Übergangsrecht; Ruland in NJW 1992, 1, 7 mwN).

Die Feststellungen, aufgrund derer das Berufungsgericht das Bestehen von Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit verneint und damit den geltend gemachten Anspruch abgelehnt hat, sind verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hätte dem Beweisantrag der Klägerin stattgeben und/oder von Amts wegen den medizinischen Sachverhalt weiter aufklären müssen. Der Antrag bezog sich auf die Anordnung des Erscheinens des Sachverständigen Prof. Dr. F. zur Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 411 Abs 3 Zivilprozeßordnung (ZPO)). Hat ein medizinischer Sachverständiger ein schriftliches Gutachten erstattet und der Prozeßbeteiligte die Ladung des Sachverständigen zur mündlichen Verhandlung beantragt, damit dieser sein Gutachten erläutere und Fragen des Prozeßbeteiligten beantworte, so liegt in der Übergehung dieses Antrages ein wesentlicher Mangel des Verfahrens; denn die Ausübung des Fragerechts gegenüber dem medizinischen Sachverständigen ist Ausfluß des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör (vgl BSG, Urteil vom 5. Mai 1961 - 1 RA 67/60 = SozR Nr 160 zu § 162 SGG). Das Berufungsgericht hat zwar den Antrag nicht unbeachtet gelassen, sondern ihn abgelehnt mit der im schriftlichen Urteil enthaltenen Begründung, die Klägerin habe für die Notwendigkeit der Befragung sachliche Gründe nicht nachvollziehbar dargelegt, und es sei insbesondere nicht zu erkennen, welche weiteren sachdienlichen Fragen an den Sachverständigen hätten gestellt werden sollen. Indessen darf auch nach zivilgerichtlicher Rechtsprechung die Ladung nicht von einer Vorformulierung der Fragen abhängig gemacht werden (vgl Thomas-Putzo, ZPO, 13. Aufl, § 411 Anm 3). Soweit das LSG darüber hinaus auch keinen Anlaß gesehen hat, ein weiteres ärztliches Sachverständigengutachten einzuholen, weil es den Sachverhalt aufgrund der vorliegenden Gutachten und sonstigen ärztlichen Unterlagen für geklärt hielt, übersieht es, daß auch nach seiner eigenen Sachdarstellung und Würdigung auf psychiatrischem Gebiet der Sachverhalt noch nicht geklärt gewesen ist. Denn das Berufungsgericht hat sich im wesentlichen auf die Ausführungen von Dr. med. Sch. gestützt mit dem Hinweis, dieser habe einen Therapieversuch (gemeint ist ein Aufenthalt der Klägerin in einer psychosomatischen Klinik für sechs bis zehn Wochen) für angezeigt gehalten, bevor eine unüberwindbare Fehlentwicklung angenommen werden könne (S 10 des Urteils). Da aber ein solcher Therapieversuch nicht stattgefunden hat (er war von der Beklagten während des sozialgerichtlichen Verfahrens abgelehnt worden), konnte auch aus der Sicht des LSG der medizinische Sachverhalt auf psychiatrischem sowie psychosomatischem Gebiet objektiv noch nicht als geklärt gelten. Das LSG mußte sich demnach gedrängt fühlen, entweder dem Antrag der Klägerin stattzugeben oder von Amts wegen den Sachverhalt hinsichtlich der medizinischen Einschätzung des Leistungsvermögens der Klägerin weiter aufzuklären. Diese Fehler hat die Klägerin ordnungsgemäß gerügt und dargelegt, daß die Entscheidung auf der Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) beruhen kann.

Der Senat hat daher den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen, damit die weiteren Beweiserhebungen durchgeführt, die entsprechenden Feststellungen getroffen und bewertet werden können. Dabei dürfte es zweckmäßig sein, zunächst festzuhalten, wie sich die Berufsausübung der Klägerin zuletzt entwickelt hat (Auskünfte hierüber liegen längere Zeit zurück), und es wäre zu erwägen, zunächst eine schriftliche Stellungnahme von Prof. Dr. F. einzuholen. In Betracht kämen auch Überlegungen, ob und von welchem Träger die von Dr. Sch. vorgeschlagene Kur durchgeführt werden kann.

In der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung wird auch über die außergerichtlichen Kosten zu befinden sein.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662290

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