Leitsatz (redaktionell)

Auch bei einem Einfamilienhaus beginnt der unfallversicherungsrechtlich geschützte Weg zur Arbeitsstätte mit dem Durchschreiten der Außentür des Hauses.

 

Normenkette

RVO § 550 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. Juni 1964 und des Sozialgerichts Detmold vom 11. Juli 1963 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin die Aufwendungen, welche diese wegen der Folgen des Arbeitsunfalls des Hilfsarbeiters Stefan H vom 12. Dezember 1961 gemacht hat, zu ersetzen, soweit sie nach §§ 1504 ff RVO aF zu Lasten der Beklagten gehen.

Die Beklagte hat dem Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Hilfsarbeiter Stefan H (H.) wurde am 12. Dezember 1961 von einem Unfall betroffen. Er verunglückte, als er sich von seiner in der Landgemeinde V gelegenen Wohnung zur Arbeitsschicht nach Gütersloh begeben wollte. Er bewohnt ein ihm gehörendes Einfamilienhaus. Dem Wohnhaus ist eine Waschküche und dieser ein Stall angebaut. Die drei Gebäude stehen so zueinander, daß die Waschküche einige Meter zurückliegt und dadurch ein Hofraum mit einer Fläche von etwa 10 x 10 m entstanden ist. Von diesem Hofraum aus ist das Wohnhaus zu betreten. Das Grundstück liegt an einem Gemeindeweg, zu dem man von der Haustür aus über den Hof, um das Wohnhaus herum auf einem das Nachbargrundstück abgrenzenden Privatweg gelangt.

Am Unfalltag wollte H. wie gewöhnlich zur Haltestelle des Autobusses gehen, um zur Arbeit zu fahren. Auf dem Hof seines Grundstückes rutschte er aus und zog sich einen Knöchelbruch des linken Fußgelenkes zu. Wegen dieser Verletzung war er bis zum 20. März 1962 arbeitsunfähig krank.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 6. September 1962 ab, den Unfall des Verletzten H. vom 12. Dezember 1961 als Arbeitsunfall anzuerkennen und Entschädigung nach dem Dritten Buch der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren. Zur Begründung ist ausgeführt: H. sei nicht auf dem versicherten Weg zur Arbeit gestürzt. Dieser Weg hätte erst begonnen, wenn H. sich auf dem öffentlichen Weg befunden hätte. Die Unfallstelle habe jedoch noch innerhalb seines eigenen Grundstücks gelegen.

Diesen Bescheid hat die Allgemeine Ortskrankenkasse für den Kreis W. (AOK) angefochten und beantragt festzustellen, daß der Verletzte einen Arbeitsunfall erlitten hat und daß ein Anspruch auf Krankenbehandlung gegen die Beklagte entstanden ist. Das Sozialgericht Detmold hat durch Urteil vom 11. Juli 1963 die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat hiergegen Berufung eingelegt.

Im Termin zur Berufungsverhandlung hat das Landessozialgericht (LSG) den Unfallverletzten H. zum Verfahren beigeladen.

Die Klägerin hat in diesem Termin beantragt, unter Änderung des Urteils erster Instanz festzustellen, daß der Beigeladene einen entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall erlitten hat, und weiter beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihr die entstandenen Barleistungen anläßlich des Unfalls vom 12. Dezember 1961 zu ersetzen. Das LSG hat durch Urteil vom 30. Juni 1964 die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Der Beigeladene habe sich im Zeitpunkt des Unfalls noch nicht auf dem nach § 543 RVO aF versicherten Weg befunden. Zwar trete ein Arbeitnehmer, der zur Arbeit gehen wolle, diesen Weg grundsätzlich in dem Augenblick an, in dem er die Außentür seines Wohnhauses durchschritten habe. Die Haustür des Wohnhauses bilde grundsätzlich die Grenze zwischen dem versicherten Arbeitsweg und dem eigenwirtschaftlichen Bereich des Versicherten. Davon bestehe aber eine Ausnahme, wenn es sich bei dem Hause des Versicherten um ein in seinem Eigentum befindliches Einfamilienhaus handele und der Versicherte sein Grundstück nicht durch die Haustür verlasse, sondern zunächst durch seinen Hof oder durch seinen Garten gehen müsse, um den öffentlichen Weg zu erreichen. Im vorliegenden Falle habe jedermann erkennen können, daß der Hofraum, der vom Wohnhaus, von der Waschküche und dem Stallgebäude begrenzt werde, zum Grundstück des Beigeladenen gehöre und im allgemeinen nur von diesem und seinen Familienangehörigen benutzt werde. Die Grenze des häuslichen Bereichs werde hier allenfalls durch die offene Seite des Hofraumes gebildet. Der Unfall, der auf dem Hof eingetreten sei, habe sich daher noch im häuslichen Bereich des Verletzten ereignet.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Klägerin am 17. August 1964 zugestellt worden. Sie hat am 25. August 1964 Revision eingelegt und diese am 14. Oktober 1964 wie folgt begründet: Im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes zur Abgrenzung des häuslichen Bereichs bei Wegen nach der Arbeitsstätte, die von der Wohnung aus angetreten werden, sei von den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung in jahrzehntelanger Übung die Außentür des Wohngebäudes als die maßgebliche Grenze angesehen worden, und zwar sowohl bei Mietshäusern wie auch bei Mehrfamilienhäusern. Die Rechtssicherheit wäre in nicht tragbarer Weise gefährdet, wenn der Versicherungsschutz in Fällen der vorliegenden Art darauf abgestellt würde, daß es sich nur um Mieter handeln müsse.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zum Ersatz des Hausgeldes für die Zeit vom 13.12.1961 bis 22.12.1961 in Höhe von 115,95 DM und des Krankengeldes für den 12.12.1961 sowie für die Zeit vom 27.1.1962 bis 20.3.1962 in Höhe von 781,80 DM zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie nimmt im wesentlichen auf die Begründung des angefochtenen Urteils Bezug und weist auf die Entscheidungen des 2. Senats vom 30. September 1964 - 2 RU 145/60 und 2 RU 221/60 - hin; aus ihnen ergebe sich, daß die gesamte Liegenschaft des Wohngrundstückes in den häuslichen Bereich einzubeziehen sei.

Der Beigeladene war im Verfahren vor dem Bundessozialgericht nicht vertreten.

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Die Klägerin verfolgt entgegen der Ansicht des LSG nicht mehr den Entschädigungsanspruch des Beigeladenen aus Anlaß seines Unfalls vom 12. Dezember 1961 (§ 1511 RVO). Sie macht vielmehr in zulässiger Änderung ihres Klagebegehrens (§ 99 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) mit ihrem in der Berufungsverhandlung gestellten Antrag nur noch den Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen geltend, die sie wegen der Folgen des angeführten Unfalls erbracht hat (§ 1509 Abs. 1 RVO aF). Über diesen Anspruch ist im Revisionsverfahren zu entscheiden.

Diese Entscheidung hängt, wie die Vorinstanzen zutreffend angenommen haben, davon ab, ob der Beigeladene unter Versicherungsschutz nach § 543 RVO aF gestanden hat, als er auf dem Hof seines Grundstücks ausglitt. Das LSG hat dies verneint, weil sich der Beigeladene an der Unfallstelle noch innerhalb seines häuslichen Bereichs befunden habe und daher noch nicht nach der Arbeitsstätte unterwegs gewesen sei. Diese Auffassung hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Ist, wie im vorliegenden Streitfall, der Ausgangspunkt des Weges zur Arbeit die Wohnung, so bildet das Verlassen des häuslichen Wohnbereichs die rechtliche Grenze für das Zurücklegen des nach § 543 RVO aF geschützten Weges. Soweit innerhalb dieses Bereichs, in dem sich das private Leben des Versicherten abspielt, auch bereits Wegstrecken zurückgelegt werden müssen, um den Weg nach dem Arbeitsort beginnen zu können, bestehen für sie in der Regel keine ins Gewicht fallenden ursächlichen Beziehungen zur bevorstehenden versicherten Arbeitstätigkeit (vgl. das zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung des Bundessozialgerichts - BSG - vorgesehene Urteil des erkennenden Senats vom 30. September 1964 - 2 RU 221/60 -).

Mit der Begrenzung des Bereichs, der hiernach für den Beginn des Weges im Sinne des § 543 RVO aF maßgebend ist, hat sich der erkennende Senat in dem Urteil vom 13. März 1956 (BSG 2, 239) befaßt. Die Grundsätze, die in diesem Urteil zur Bestimmung der Grenze des häuslichen Bereichs entwickelt worden sind, hat das LSG bei der Beurteilung des Wohnverhältnisses des Beigeladenen auch berücksichtigt, sie aber insofern nicht zutreffend angewandt, als es dem Grundgedanken der Entscheidung nicht die ihm zukommende Bedeutung beigemessen hat. In der Begründung dieser Entscheidung, auf die im einzelnen verwiesen wird und die sich auf Mehrfamilienhäuser mit abgeschlossenen Etagenwohnungen bezieht, ist ausgeführt, daß der vom Versicherungsschutz nicht erfaßte häusliche Wirkungskreis im allgemeinen nicht schon an der Etagentür endet, sondern sich noch auf das Treppenhaus und alle sonstigen, von den Hausbewohnern gemeinsam benutzten Räumlichkeiten innerhalb des Gebäudes erstreckt, auf jeden Fall erst mit dem Durchschreiten der Außentür verlassen wird. Hierfür ist der wesentliche Grund darin erblickt worden, daß der Versicherungsschutz nicht von beliebig zu variierenden Verschiedenheiten des einzelnen Falles abhängen soll, daß vielmehr bei der Frage, welche Sphäre noch dem privaten, unversicherten häuslichen Bereich zuzurechnen ist, der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit ausschlaggebende Bedeutung hat. Dies hat das LSG bei seinen Darlegungen über den Umfang des häuslichen Bereichs nicht ausreichend berücksichtigt. Zwar kann sich das LSG für seine Auffassung, daß sich bei einem dem Versicherten gehörenden und von ihm mit seinen Angehörigen allein bewohnten Einfamilienhaus, dem ein Hof- und Gartengelände vorgelagert ist, die Grenze des häuslichen Bereichs von der Haustür des Wohngebäudes bis zu der von jedermann erkennbaren Grenze des Grundstücks verschiebe, auf die Erwägungen des angeführten Urteils vom 13. März 1956 insofern berufen, als die in ihm enthaltenen Grundsätze nicht schematisch anwendbar sein sollen und durch sie die Berücksichtigung von Besonderheiten nicht ausgeschlossen ist. Umstände der vom LSG in Betracht gezogenen Art führen jedoch gerade zur Abhängigkeit des Versicherungsschutzes von den tatsächlichen Gegebenheiten des Wohnverhältnisses und damit zu einem Ergebnis, das mit dem Grundgedanken jener Entscheidung nicht vereinbar wäre. Eine Grenzziehung für den unversicherten Wohnbereich im Sinne des § 543 RVO aF an einer anderen Stelle als der Außentür des Wohngebäudes, die seine Einengung (bei Mehrfamilienhäusern) oder seine Ausdehnung (z. B. beim Einfamilienhaus und bei Wohngrundstücken in aufgelockerter Bauweise) zur Folge haben kann, wäre nur zu rechtfertigen, wenn dadurch die Rechtssicherheit, die sich in der Gewährleistung der zu erstrebenden Einheitlichkeit der Rechtsprechung auswirkt, nicht gefährdet würde. In Fällen der vorliegenden Art, bei denen streitig ist, ob auch das Hof- und Vorgartengelände zur privaten Lebenssphäre des Hausbewohners gehört, ließe sich außerhalb des Gebäudes eine klare, den Erfordernissen der Rechtssicherheit entsprechende Abgrenzung des für Beginn und Ende der Wege nach und von der Arbeitsstätte maßgebenden häuslichen Bereichs nicht finden. Auch den Ausführungen des angefochtenen Urteils ist nicht zu entnehmen, daß das LSG eine solche Grenze bezeichnen könnte; aus ihnen geht im Gegenteil hervor, daß sich unter dem Gesichtspunkt der privaten Benutzung der in Betracht zu ziehenden Räumlichkeiten kein eindeutig zu bestimmender Wohnbereich darbietet. Das zu erstrebende Ziel der Rechtseinheitlichkeit wäre jedenfalls in Frage gestellt, wenn die vom LSG für entscheidend gehaltenen Umstände des vorliegenden Streitfalles ausschlaggebende Bedeutung hätten.

Hiernach können die Wohnverhältnisse des Beigeladenen nicht die Schlußfolgerung begründen, daß in seine private Lebenssphäre ein außerhalb des Wohngebäudes befindlicher weiterer Bereich, nämlich das Gelände etwa bis zu der für jedermann erkennbaren Grenze des Grundstücks, hätte einbezogen werden müssen.

Mit diesem Ergebnis steht auch das eingangs angeführte Urteil des erkennenden Senats vom 30. September 1964 nicht in Widerspruch. Nach dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der Verunglückte, der mit dem Fahrrad von der Arbeitsstätte nach Hause gekommen war, im Zeitpunkt des Unfalls die Räumlichkeiten bereits erreicht, die zu seinem häuslichen Bereich gehörten. Der Unfall hatte sich innerhalb eines vom Wohnhaus nicht unmittelbar zugänglichen Holzschuppens ereignet, in dem das Fahrrad wie üblich abgestellt werden sollte. Eine solche Anlage, die sich auch innerhalb des Wohngebäudes befinden kann, ist als ein Teil des von den Gebäudegrenzen bestimmten Bereichs zu betrachten - anders als im vorliegenden Falle das Hof- und Vorgartengelände. In solchen Fällen ist der häusliche Bereich aufgespalten und trotz Fehlens eines unmittelbaren räumlichen Zusammenhangs rechtlich als einheitlicher häuslicher Bereich zu behandeln.

Ebensowenig kann die Beklagte aus der weiteren Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. September 1964 - 2 RU 145/60 - eine ihr günstige Beurteilung der Rechtslage herleiten. Nach dem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt war es für die Bejahung des Versicherungsschutzes nicht ausschlaggebend, daß das Grundstück nicht dem Verunglückten gehörte, sondern daß keine besonderen Gesichtspunkte dafür ersichtlich waren, daß der Hof und die hinter ihm liegenden Gebäude dem persönlichen Lebensbereich des Verunglückten hätten zugerechnet werden müssen.

Hiernach stand der Beigeladene unter Versicherungsschutz, als ihm auf dem Hof seines Grundstückes der Unfall zustieß; er befand sich im Zeitpunkt des Unfalls bereits auf dem versicherten Wege zur Arbeitsstätte.

Für die beantragte Ersatzleistung wegen der Aufwendungen der Klägerin aus Anlaß des Arbeitsunfalls des Beigeladenen vom 12. Dezember 1961 sind die Mindestvoraussetzungen gegeben. Der Erlaß eines Grundurteils im Sinne des § 130 SGG ist daher gerechtfertigt (vgl. SozR Nr. 3 und 4 zu § 130 SGG). Das hat zur Folge, daß die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben sind und die Beklagte zu verurteilen ist, der Klägerin den ihr im Rahmen des § 1509 Abs. 1 RVO aF zustehenden Ersatz ihrer Aufwendungen zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380482

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