Leitsatz (amtlich)

Schüler, die an einer von der Schulaufsichtsbehörde nicht genehmigten Veranstaltung teilnehmen (Skifreizeit in den Ferien) stehen unter Unfallversicherungsschutz, wenn nach dem Gesamtbild der objektiven Umstände, unter denen die Veranstaltung geplant und organisiert ist und unter denen sie ablaufen soll, beteiligte Eltern und Schüler davon ausgehen können, sie werde als Schulveranstaltung durchgeführt (Fortführung von BSG 1977-06-23 2 RU 25/77 = BSGE 44, 94).

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 19.04.1978; Aktenzeichen L 3 U 1313/77)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 02.11.1977; Aktenzeichen S 4 U 218/76)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. April 1978 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte die Folgen eines Skiunfalles der Klägerin als Schülerunfall zu entschädigen hat.

Die 1958 geborene Klägerin nahm mit weiteren Schülern ihrer Schule, der A. in K., in den Osterferien 1976 an einer 16tägigen sogenannten Skifreizeit auf der Aberg-Alm bei Maria Alm in Österreich teil. Diese Veranstaltung war von dem Oberstudienrat der A., ..., organisiert worden. Dieser hatte dafür im Januar 1976 ua mit einem Anschlag am "Schwarzen Brett" der Schule geworben, der folgenden Wortlaut hatte:

"Liebe Skifreunde!

Für Ostern 1976 haben wir etwas Besonderes geplant: eine Skifreizeit auf der Abergalm (1500 m hoch) mitten im Skigebiet des Abergs (bei Maria Alm, Hinterthal, Nähe Zell am See/Saalfelden). Da es sich hier um ein nordseitiges Skigebiet mit bekannter Schneesicherheit handelt (1000 - 2100 m) hoffen wir, auch zu dieser späten Jahreszeit noch gut Skilaufen zu können. Das Gelände ist für leicht fortgeschrittene bis sehr gute Skiläufer geeignet, die Auffahrt zum Berggasthaus Abergalm erfolgt gleich mit dem Lift (Sessel- unf Schlepplift).

Voraussetzung für die Teilnahme ist vor allem die Bereitschaft, in einer Gruppe von Gleichaltrigen (es fahren auch Oberstufenschüler aus Bad Vilbel mit) eine harmonische Ferienzeit mit viel Spaß aber ohne großen Komfort verbringen zu wollen. Die Gestaltung des Tagesablaufs ist völlig in unserer Hand, die Wirtsleute sind der Jugend gegenüber sehr aufgeschlossen.

4. - 20. 4.

Die Kosten der 16-tägigen Fahrt betragen für Vollpension, Fahrt und Skikurs 425,-- DM und sind zu entrichten an die Volksbank ... (F. Volksbank, Zweigstelle ..., Fahrtenkonto R., Konto-Nr. Kennwort ABERGALM, möglichst sofort. Für weitere Auskunft stehe ich am Samstag, dem 31.1. um 11.30 Uhr in Raum 1 der AKS zur Verfügung.

Ski Heil

gez. F.

hier abtrennen

Meine Tochter (Mein Sohn) ........... Klasse ....... nimmt an der Skifreizeit auf der Abergalm teil.

......................

Unterschrift"

Die Schulleitung hatte keine Genehmigung als Schulveranstaltung beantragt. Neben Schülern nahmen auch einige Studenten sowie die Sportlehrerin der Schule, S., teil. In einer Vorbesprechung am 31. Januar 1976 teilte der Oberstudienrat R. die Einzelheiten der Veranstaltung sowie deren Teilnehmer mit. Vor- und nachmittags fanden Skikurse statt, im übrigen hatten die Teilnehmer Freizeit.

Am 14. April 1976 stürzte die Klägerin bei der Auffahrt mit einem Schlepplift aus der Spur, rutschte den Skihang hinunter und schlug gegen das Gerüst eines Stahlgittermastes, wobei sie sich schwer verletzte. Sie ist seitdem querschnittsgelähmt.

Der Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 25. Juni 1976 ab, den Unfall zu entschädigen, weil der Unfall kein versicherter Schulunfall sei, sondern eine Schädigung bei einer privaten Urlaubsreise der Klägerin.

Das Sozialgericht (SG) Frankfurt am Main hat den Beklagten verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 14. April 1976 nach den gesetzlichen Bestimmungen zu entschädigen (Urteil vom 2. November 1977). Auf die Berufung des Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 19. April 1978).

Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 62, 103, 106, 128 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-; Artikel 103 Abs 1 des Grundgesetzes -GG-; § 539 Abs 1 Nr 14b, Abs 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO-).

Sie beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. April 1978 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 2. November 1977 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Die von dem LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen nicht aus, um abschließend zu entscheiden, ob der Beklagte als zuständiger Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 657 Abs 1 Nr 5 RVO) verpflichtet ist, den Unfall, den die Klägerin am 14. April 1976 beim Skilaufen erlitt, zu entschädigen.

Als Schülerin war die Klägerin beim Besuch der A-Schule in K., einer allgemeinbildenden Schule, in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert (§ 539 Abs 1 Nr 14b RVO). Zum Besuch der allgemeinbildenden Schule zählt neben dem Besuch des Schulunterrichts auch die Teilnahme an schulischen Veranstaltungen wie Schulausflügen und Schulreisen. Der Schulunterricht ergibt sich regelmäßig aus dem Lehrplan. Zum Besuch einer allgemeinbildenden Schule gehören jedoch nicht nur die Teilnahme an in den Lehrplan aufgenommenen, sondern auch an Veranstaltungen, die sonst in wesentlich innerer Beziehung zur Ausbildung in der Schule stehen (BSGE 28, 204, 206; 44, 94, 95 = SozR 2200 § 539 Nr 37 mN; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 8. Aufl, S 474q IV; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 539 Anm 85b). Nach der Rechtsauffassung des 2. Senats des Bundessozialgerichts (BSG), der der erkennende Senat zustimmt, ist eine Veranstaltung nicht allein deshalb keine versicherte Schulveranstaltung, weil sie nach den einschlägigen Richtlinien des Kultusministeriums von der Schulaufsichtsbehörde hätte genehmigt werden müssen, diese Genehmigung - wie hier für die "Skifreizeit” vom 4. bis 20. April 1976 auf der Aberg-Alm in Österreich - von der Schulleitung aber nicht eingeholt worden war (BSGE 44, 94, 96). Entscheidend ist auch nicht, ob die Skifreizeit nicht den Vorschriften über die Gestaltung von Schulfahrten entsprach. Für den Versicherungsschutz maßgebend ist vielmehr, ob die Teilnahme an der Schulveranstaltung im inneren Zusammenhang mit dem Besuch der Schule stand. Dieser Zusammenhang entfällt nicht, wenn die Schule eine Veranstaltung durchführt und dabei die hierfür erlassenen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften nicht beachtet (aaO, 96). Die Teilnahme der Schüler an einer von der Schule durchgeführten Veranstaltung muß wesentlich durch den Besuch der Schule bedingt sein. Das ist auch dann der Fall, wenn die im inneren Zusammenhang mit der Ausbildung stehende Veranstaltung nicht schulrechtlichen Vorschriften entspricht. Zutreffend weist der 2. Senat des BSG darauf hin, daß es für Eltern und Schüler regelmäßig nicht erkennbar ist, ob eine Veranstaltung der Schule die in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften niedergelegten Voraussetzungen erfüllt, insbesondere ob die Veranstaltung von der hierfür zuständigen Behörde als Schulveranstaltung hätte genehmigt werden müssen und ob diese Genehmigung ggfs erteilt war. In jedem Falle ist versicherungsrechtlich bei nicht in den Lehrplan aufgenommenen Veranstaltungen entscheidend, daß die Schüler an der Veranstaltung deshalb teilnehmen, weil sie von ihrer Schule durchgeführt wird (aaO, 96). Ob die Teilnahme von Schülern an einer Veranstaltung der Schule im inneren Zusammenhang mit dem Schulbesuch steht, richtet sich danach, ob die beteiligten Eltern und auch Schüler davon ausgehen konnten, daß es sich um eine organisatorisch von der Schule als Schulveranstaltung getragene Schulfahrt handelt (aaO, 97). Hierfür kommt es auf die objektiven Umstände an, unter denen die Veranstaltung geplant und organisiert war, und unter denen sie ablaufen sollte. Nicht entscheidend kann sein, ob diese Umstände allen beteiligten Eltern und Schülern insgesamt bekannt waren, und welche Schlüsse einzelne Eltern oder Schüler aus ihnen bekannten Umständen gezogen haben. Denn der Versicherungsschutz kann nur einheitlich für alle Schüler einer Schule beurteilt werden und nicht davon abhängen, ob einzelne Schüler oder Eltern sich mehr oder weniger für die Einzelheiten einer Veranstaltung interessiert haben, oder welche Motive für die Teilnahme im Einzelfall maßgebend waren, oder welche ggfs auch irrtümliche Schlüsse einzelne Beteiligte gezogen haben. Entscheidend ist daher, welches Gesamtbild die Veranstaltung bot, und daß daraus der Schluß für die Beteiligten gerechtfertigt war, sie stehe im oben genannten Sinne mit dem Besuch der Schule im inneren Zusammenhang. Lassen sich - anders als in dem von dem 2. Senat (aaO) entschiedenen Fall - aus Einzelheiten einer schriftlichen Ankündigung ausreichende Merkmale nicht mit genügender Deutlichkeit entnehmen, nach denen die Beteiligten bei vernünftiger Betrachtung annehmen konnten, die geplante Veranstaltung stehe in dem oben genannten Sinne im inneren Zusammenhang mit dem Schulbesuch, kann der Versicherungsschutz nur verneint werden, wenn diese Umstände eindeutig einem solchen Zusammenhang entgegenstehen. Bestehen jedoch Zweifel, so müssen weitere in diesem Zusammenhang entscheidungserhebliche Feststellungen getroffen werden. Das ist hier der Fall.

Die schriftliche Ankündigung war zwar am "Schwarzen Brett" angebracht, das für offizielle Bekanntmachungen der Schule bestimmt ist. Sie richtete sich aber nicht ausdrücklich nur an Schüler der A-Schule; sie wies nicht auf die Schule hin, etwa dadurch, daß ein Kopfbogen verwendet oder der Schulstempel angebracht war. Es fehlten auch Hinweise auf Einzelheiten, wie sie der 2. Senat des BSG (aaO) als entscheidungserheblich angesehen hat, etwa die Möglichkeit, besondere Leistungen im Skilaufen bei der Note im Fach "Sport" zu berücksichtigen, oder daß Teilnehmer zurückgeschickt würden, die sich während der Veranstaltung nicht ordnungsgemäß verhielten. Das Fehlen solcher Hinweise spricht aber nicht eindeutig gegen den Charakter der geplanten Skifreizeit als Schulveranstaltung. Hätten solche Umstände tatsächlich bestanden und wären sie bei sachgerechter entsprechender Nachfrage den Interessierten bekanntgegeben worden, könnten sie nicht anders gewertet werden, als wenn sie ausdrücklich schriftlich angekündigt waren. Das gilt ebenso für alle anderen das Gesamtbild prägenden Einzelheiten der Planung, der Organisation und des beabsichtigten Ablaufs.

Für die Entscheidung, ob es sich um eine im inneren Zusammenhang mit dem Schulbesuch stehende Schulveranstaltung oder um einen Ferienaufenthalt einer Gruppe von Schülern handelte, der von der Schule nur mit Rat und Tat gefördert wurde, ist es von ausschlaggebender Bedeutung, welcher Gesamtplan mit seinen Einzelheiten der Veranstaltung zugrunde lag. Daher wird festzustellen sein, welchen Teilnehmern die Veranstaltung offenstand, ob mindestens vorwiegend Schülern der A-Schule oder auch beliebigen anderen Jugendlichen. In dieser Richtung wird zu klären sein, unter welchen Voraussetzungen die in der Ankündigung nicht erwähnten Studenten teilnahmen, ob sie etwa unter derselben finanziellen Belastung lediglich Teilnehmer wie alle anderen waren oder ob sie von den Organisatoren, die zu ermitteln sind, mit besonderen Aufgaben, wie etwa der Aufsicht oder Betreuung oder als Skilehrer betraut waren, und ob diese hierfür persönlich und sachlich geeignet waren. Bedeutsam erscheint auch, ob die Sportlehrerin S... nur mitfuhr, um selbst einen Skiurlaub zu verbringen, oder ob sie bestimmte, aus ihrer Eigenschaft als Lehrerin folgende Aufgaben hatte, insbesondere der Aufsicht und der Betreuung sowie Weisungsbefugnisse. Das gilt insbesondere für den Oberstudienrat R.. Insoweit ist von Belang, ob sich seine Tätigkeit allein auf die Planung und Organisation beschränkte, oder ob auch er entsprechend der Planung an Ort und Stelle ständig, gelegentlich oder gar nicht Aufsichtsfunktionen Wahrzunahmen oder aber mindestens solche sichergestellt hatte. Schließlich kann auch die finanzielle Gestaltung wesentliche Bedeutung gewinnen. Dabei wird zu prüfen sein, ob die von den Teilnehmern zu zahlenden Beträge zur Deckung der tatsächlich unter Ausnutzung von Ermäßigungen für Schülerreisen entstehenden Kosten notwendig waren, oder ob der Oberstudienrat ... oder die Organisatoren oder Dritte nennenswerte Vorteile aus der Veranstaltung gezogen haben.

Insoweit hat das LSG nichts festgestellt. Daher ist das angefochtene Urteil mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die genannten und ggfs weitere ihm beweiserheblich erscheinende Feststellungen wird das LSG vor seiner erneuten Entscheidung nachzuholen haben.

Auf die Verfahrensrügen braucht nicht eingegangen zu werden, nachdem die Revision der Klägerin aus anderen Gründen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 1

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