Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagter und Revisionsbeklagter

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte es zu Recht abgelehnt hat, dem Kläger wegen Verjährung der Ansprüche Berufsschadensausgleich (BSchA) für die Zeit 1970 bis 1980 zu zahlen.

Am 14. Juni 1970 beantragte der Kläger ohne nähere Angaben BSchA und bat, die erforderlichen Vordrucke zu übersenden. Im Dezember 1970 erinnerte der Beklagte an die Rückgabe der daraufhin übersandten Formulare. Auf eine weitere Erinnerung des Beklagten vom 29. März 1971 antwortete der Kläger mit Schreiben vom 2. April 1971, er benötige für den Antrag auf BSchA noch Unterlagen und habe deshalb an seinen früheren Heimatort geschrieben. Eine Antwort stehe jedoch noch aus, er bitte um Verständnis.

Bis 1985 geschah dann wegen des Antrags auf BSchA nichts mehr. Im April 1985 bat der Kläger um Überprüfung und machte im November 1985 nähere Angaben zu seinem beruflichen Werdegang. Der Beklagte gewährte mit Bescheid vom 24. Januar 1986 wegen schädigungsbedingt vorzeitigen Ausscheidens aus dem Berufsleben BSchA ab 1. Januar 1981. Wegen der Zeit davor - ab 1. Juni 1970 - berief er sich auf Verjährung. Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 4. August 1987, Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 8. Dezember 1988, Urteil des Landessozialgerichts [LSG] Baden-Württemberg vom 28. Februar 1991). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, zwar habe der Leistungsantrag im Jahre 1970 die Verjährung unterbrochen, die Unterbrechung habe jedoch durch Stillstand des Verfahrens wieder geendet. Der Kläger habe das Verfahren nicht mehr betrieben, obwohl ihm durch den übersandten Antragsvordruck und die schriftlichen Mahnungen des Beklagten erkennbar gewesen sei, daß er weitere Angaben hätte machen müssen. Der Beklagte berufe sich ermessensfehlerfrei auf Verjährung. Auch die Grenzen unzulässiger Rechtsausübung seien nicht überschritten.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, der Anspruch auf BSchA sei mit dem Antrag im Juni 1970 entstanden. Weitere Aktivitäten habe man von ihm in einem Verfahren, in dem die Offizialmaxime gelte, nicht erwarten können. Auf das Schreiben vom 2. April 1971 hätte der Beklagte die Anspruchsvoraussetzungen von Amts wegen prüfen müssen. Da er das unterlassen habe, sei die Berufung auf Verjährung ermessensfehlerhaft.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Februar 1991 sowie das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 8. Dezember 1988 aufzuheben, den Bescheid vom 24. Januar 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. August 1987 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger auch für die Zeit vom 1. Juni 1970 bis zum 31. Dezember 1980 Berufsschadensausgleich zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt aus, ohne nähere Angaben und Nachweise durch den Kläger zu seiner Schul- und Berufsausbildung und zu der Frage, welchen beruflichen Werdegang er ohne die Schädigungsfolgen eingeschlagen hätte, sei eine Entscheidung nicht möglich gewesen. Im übrigen sei der Antrag auf BSchA spätestens mit einem Bescheid vom 23. Januar 1977 abgelehnt worden. In diesem Bescheid sei nämlich die Spalte "Berufsschadensausgleich" gestrichen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Entgegen der Ansicht des Beklagten und der Vorinstanzen ist BSchA bereits ab 1. Juli 1970 zu zahlen. Die vom Beklagten erhobene Einrede der Verjährung greift nicht durch, weil die Ansprüche des Klägers für die Zeit bis zum 31. Dezember 1980 nicht verjährt sind.

Nach § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Dieselbe Frist galt auch vor Inkrafttreten des Gesetzes - am 1. Januar 1976 -, weil die §§ 197, 201 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) im Versorgungsrecht entsprechend anzuwenden waren (BSGE 19, 88, 90 = SozR BVG § 60 Nr. 2). Entstanden ist der Anspruch des Klägers auf BSchA mit dem Antrag im Juni 1970 (§§ 1 Abs. 1, 30 Abs. 3, 60 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes [BVG]). Die von da an bis zum Dezember 1980 monatlich fällig gewordenen Einzelleistungen sind trotz des Ablaufs von vier Jahren nicht verjährt, weil die Verjährungsfrist durch den Leistungsantrag vom Juni 1970 unterbrochen worden ist. Das ergibt sich aus § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB I und bis zum 31. Dezember 1975 aus den entsprechend anwendbaren Vorschriften der §§ 220 Abs. 1, 209 BGB i.V.m. mit Art II § 17 SGB I (BSG SozR 2200 § 29 Nr. 11; BSGE 19, 93, 97 = SozR RVO § 1300 Nr. 1) unter besonderer Berücksichtigung von § 7 Abs. 3 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVerfG) vom 2. Mai 1955 (BGBl. I S. 202).

Der schriftliche Antrag unterbricht die Verjährung, wobei § 45 Abs. 3 SGB I nicht danach unterscheidet, ob der Antrag nach dem jeweils maßgeblichen Leistungsrecht materiell-rechtliche Anspruchsvoraussetzung ist (Hauck/Haines/Freischmidt, SGB I, Stand: 1987, K § 45 Rz 3); ein solcher Antrag ist verfahrensrechtlich nicht von minderer Bedeutung. Es schadet auch nicht, wenn das die Verjährung unterbrechende Ereignis gleichzeitig eintritt oder gar vor Beginn der Verjährungsfrist liegt. Das ist auch im Zivilrecht anerkannt: Denn die nach der Parallelregelung in § 201 BGB am Schluß eines Jahres beginnende Verjährungsfrist wird durch die vor ihrem Beginn, aber nach Entstehung des Anspruchs erhobene Klage unterbrochen (BGHZ 52, 47ff.).

Soweit das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) für die abschnittsweise bewilligten Leistungen auf Ausbildungsförderung (vgl. § 50 Abs. 3 BAföG) eine zusätzliche "mahnungsähnliche" Unterbrechungshandlung verlangt (BVerwGE 90, 37), mag dies für dieses spezielle Rechtsgebiet angemessen sein; eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hält der Senat jedoch ebenso wie das BVerwG in der genannten Entscheidung nicht für erforderlich, weil er erneut (ebenso wie in seinem Urteil vom 13. Dezember 1984 - SozR 1200 § 45 Nr. 5) über einen Leistungsanspruch aus dem Versorgungsrecht zu befinden hat, der ab 1955 nach dem KOVVerfG zu beurteilen war. In diesem Rechtsgebiet war damals beides anerkannt: Der Antrag war materiell-rechtliche Voraussetzung (BSG SozR 3-3100 § 48 Nr. 3 S. 9) und bewirkte zugleich die Verjährungsunterbrechung. Erst nach dem Abschluß des Verfahrens durch die Bescheiderteilung läuft die unterbrochene Verjährung erneut (vgl. Schönleiter/Hennig, KOVVerfG, 2. Aufl. 1969, § 7 RdNr 8).

Die verjährungsunterbrechende Wirkung des Antrags vom Juni 1970 hat erst mit Bekanntgabe des Bescheides vom 24. Januar 1986 geendet. Zwar kann die Unterbrechung nicht nur auf diese Weise beendet werden. Das ist auch durch Stillstand des Verfahrens möglich, weil § 211 Abs. 2 BGB sinngemäß anzuwenden ist und war (vgl. die bereits genannte Entscheidung des Senats). Nach der ebenfalls sinngemäß anzuwendenden Regelung in § 212 Abs. 1 BGB gilt die Unterbrechung als nicht erfolgt, wenn der Antrag zurückgenommen wird. Die Unterbrechung endet ferner, wenn die Nichtfortsetzung des Verfahrens auf einen Antrag des Berechtigten zurückgeht oder Verwaltung und Antragsteller sonst übereinkommen, das Verfahren nicht weiter zu betreiben (BGH VersR 1977, 647, 648). Hier liegt aber keiner dieser weiteren Fälle vor. Das Schreiben des Klägers vom 2. April 1971 enthielt insbesondere keinen Antrag, das Verfahren auszusetzen oder es ruhen zu lassen. Der Kläger hatte lediglich den Grund dafür mitgeteilt, weshalb er trotz mehrfacher Aufforderung die Antragsformulare noch nicht zurückgesandt hatte. Das geschah, weil seine Bemühungen um weitere Aufklärung erfolglos waren. Der Kläger wollte das Verfahren ersichtlich nicht beenden, sondern es fortsetzen.

Der im Laufe des Jahres 1971 eingetretene und bis 1985 andauernde Verfahrensstillstand ist auch nicht, wie in § 211 Abs. 2 BGB verlangt, darauf zurückzuführen, daß der Kläger das Verfahren "nicht betrieben" hat. Ein Verfahren wird nicht betrieben, wenn von demjenigen, der sich auf die Unterbrechung beruft, erwartet werden darf, daß er auf den Verfahrensfortgang einwirke (BSG SozR 1200 § 45 Nr. 5). Eine solche Erwartung bestand gegenüber dem Kläger nicht, weil im Verwaltungsverfahren der Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären ist (§ 12 KOVVerfG und ab 1981 § 20 SGB X). Deshalb hatte der Beklagte trotz Untätigkeit des Klägers das Verwaltungsverfahren fortzusetzen und abzuschließen. Das ergibt sich bis Ende 1980 auch noch ganz ausdrücklich aus § 7 Abs. 3 KOVVerfG. Die Vorschrift bestimmt, daß einem Antragsteller, der trotz Aufforderung der Verwaltungsbehörde seinen Antrag nicht ergänzt oder begründet, schriftlich eine angemessene Frist mit dem Hinweis zu setzen ist, daß im Falle der Nichtbeantwortung trotz Unvollständigkeit des Antrags nach Lage der Akten entschieden werden kann. Die Folgen fehlender Mitwirkung sind nunmehr in den §§ 60ff. SGB I geregelt. In der Verwaltungsvorschrift zu § 7 Abs. 3 KOVVerfG hieß es, daß nach Verstreichen der Frist, wenn eine Aufklärung des Sachverhalts nicht möglich ist, über den Antrag nach dem Inhalt der Akten zu entscheiden sei. Diese aus der Verwaltungspraxis heraus entstandenen Regelungen hatten den Zweck, ein vom Antragsteller eingeleitetes Verfahren trotz beharrlichen Schweigens auf alle Rückfragen förmlich zum Abschluß zu bringen (Schönleiter/Hennig a.a.O.). Der Verpflichtung zum Verfahrensabschluß hat der Beklagte zuwider gehandelt, indem er den Antrag über 15 Jahre nicht beschieden hat. Nicht der Kläger, sondern der Beklagte hat mithin das Verfahren im Sinne des § 211 Abs. 2 BGB nicht betrieben.

Ob das materielle Recht vom Antragsteller bei Untätigkeit der Verwaltung trotz Offizialmaxime ausnahmsweise ein Tätigwerden über den Antrag hinaus erwartet, ob ihm die Initiative für das Verwaltungsverfahren zukommt, so daß die Unterbrechung der Verjährung endet, sofern er nicht tätig wird (so das schon genannte Urteil des Senats; gegen die Herleitung dieses Gedankens aus § 44 Abs. 4 SGB X: BSGE 62, 10, 13ff. = SozR 2200 § 1254 Nr. 7), braucht hier nicht entschieden zu werden. In der früheren Entscheidung war § 7 KOVVerfG noch nicht anzuwenden. Es bestand noch kein bundeseinheitliches besonderes Recht der Kriegsopferversorgung; die Zuständigkeit für die Leistungen war noch nicht vom Rentenversicherungsträger auf die erst 1951 errichtete Kriegsopferversorgung übergegangen. Seitdem im Versorgungsrecht das Verwaltungsverfahren eindeutig dahin geregelt ist, daß Handlungs-, Aufklärungs- und Überwachungsverpflichtungen auf Seiten der Behörden liegen, wenn einmal eine Leistung beantragt ist, spielen die Besonderheiten der Nachkriegsverhältnisse und die hierauf in erster Linie beruhenden gesteigerten Mitwirkungspflichten der Betroffenen keine Rolle mehr.

Zu Unrecht beruft der Beklagte sich darauf, spätestens mit einem dem Kläger von Amts wegen erteilten Neufeststellungsbescheid zur Berechnung der Ausgleichsrente und von Familienzuschlägen vom 23. Januar 1977 zugleich ablehnend über den Antrag auf BSchA entschieden zu haben, weil dort die vorgedruckte Spalte "Berufsschadensausgleich" durchgestrichen ist. Die Streichung machte dem Adressaten im Gegenteil deutlich, das über BSchA gerade keine Entscheidung getroffen werden sollte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.9a RV 22/91

BUNDESSOZIALGERICHT

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518443

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