Entscheidungsstichwort (Thema)

Umfang des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO

 

Orientierungssatz

1. Die mit der Entwicklung und dem Verlauf einer Erkrankung des Versicherten verbundenen Risiken, gleichgültig ob diese Erkrankung Anlaß zur stationären Behandlung gegeben hat oder nicht, sind nicht Gegenstand des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO (vgl BSG 1979-02-01 2 RU 85/78 = SozR 2200 § 539 Nr 56).

2. Die Reaktion auf Medikamente sowie die Folgen falscher oder unterlassener Maßnahmen des Pflegepersonals sind dem nicht vom Versicherungsschutz erfaßten Risiko der ärztlichen Behandlung zuzurechnen (vgl BSG 1980-09-30 2 RU 13/80 = SozR 2200 § 539 Nr 71).

3. Hat der Patient eines Krankenhauses unter der Auswirkung des Entzugs von alkoholischen Getränken sich in einem getrübten Bewußtseinszustand befunden, als er das Krankenhaus durch einen Sprung vom Balkon unbemerkt zu verlassen versuchte, scheidet ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO aus.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

SG Hamburg (Entscheidung vom 17.05.1979; Aktenzeichen 25 U 274/77)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Ersatz für Leistungen, die sie dem bei der Beklagten für den Fall der Krankheit versicherten Beigeladenen wegen der Folgen eines Unfalls gewährt hat. Der Beigeladene befand sich auf Kosten der Beklagten seit dem 20. Januar 1975 wegen des Verdachts einer Präzirrhose und Alkoholabusus in stationärer Behandlung des Krankenhauses P. Nach der Unfallanzeige der Beklagten versuchte der Beigeladene in der Nacht zum 23. Januar 1975, das Krankenhaus zu verlassen, was ihm von einer Nachtschwester verwehrt wurde; um 7 Uhr sollte der Arzt kommen. Etwa eine halbe Stunde vorher sprang der Beigeladene aus dem ersten Stockwerk des Krankenhauses von einem Balkon auf den Rasen, wobei er sich Brüche des ersten und dritten Lendenwirbelkörpers zuzog. Er wurde deswegen bis zum 20. März 1975 im Krankenhaus O stationär behandelt. Die Kosten hatte die Klägerin unter Vorbehalt des Ergebnisses weiterer Ermittlungen übernommen. Sie verlangt gemäß § 1509 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) deren Ersatz von der Beklagten. Zwar sei der Beigeladene während des Aufenthalts im Krankenhaus P nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO gegen Arbeitsunfall versichert gewesen. Jedoch sei das Ereignis vom 23. Januar 1975 kein Arbeitsunfall iS des § 548 RVO, weil er aus persönlichen Gründen, um die Krankenhausbehandlung abzubrechen und die Klinik eigenmächtig zu verlassen, vom Balkon gesprungen sei.

Die von der Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Hamburg erhobene Klage, die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, ihr die Beträge zu erstatten, die sie aus Anlaß des Unfallgeschehens des Beigeladenen vom 23. Januar 1975 aufgewendet habe, ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 17. Mai 1979). Zur Begründung hat das SG ausgeführt: Das Geschehnis vom 23. Januar 1975 müsse in Anbetracht der Diagnose "Verdacht auf Präzirrhose bei Alkoholabusus" als Arbeitsunfall anerkannt werden. Es erscheine in diesem Zusammenhang glaubhaft, daß der Beigeladene unter der Auswirkung des Entzugs von alkoholischen Getränken sich in einem getrübten Bewußtseinszustand befunden habe, als er versucht habe, das Krankenhaus P unbemerkt zu verlassen. Insofern habe das Einweisungsleiden des Beigeladenen entscheidend dazu beigetragen, daß es zu dem Unfallereignis vom 23. Januar 1975 gekommen sei. Das SG hat die Revision zugelassen (Beschluß vom 8. Februar 1980).

Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der Beigeladene habe zwar während der stationären Behandlung im Krankenhaus P zu den nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO gegen Arbeitsunfall versicherten Personen gehört. Jedoch werde das Ereignis vom 23. Januar 1975 nicht vom Versicherungsschutz umfaßt. Der Sprung vom Balkon des Krankenhauses sei zum einen durch den Alkoholabusus des Beigeladenen und zum anderen durch die verabreichten Medikamente verursacht worden. Es sei durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bereits entschieden, daß das Risiko einer Schädigung durch die ärztliche Behandlung während des Krankenhausaufenthaltes und auch durch die Auswirkungen einer krankhaften Veranlagung nicht in den Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO einbezogen seien.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des SG Hamburg

vom 17. Mai 1979 die Beklagte dem Grunde nach

zu verurteilen, ihr die Beträge zu erstatten,

die sie aus Anlaß des Unfallgeschehens des

Beigeladenen vom 23. Januar 1975 aufgewendet hat,

hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung

und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, daß nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 1. Februar 1979 - 2 RU 85/78 - SozR 2200 § 539 Nr 56) zwar ein Selbstmordversuch durch Sprung aus dem Fenster eines Krankenhauses als Folge einer depressiven Zwangshaltung nicht dem Unfallversicherungsschutz unterliege. Im vorliegenden Fall sei die Ursache für den Sprung des Beigeladenen jedoch nicht eine depressive Zwangshaltung gewesen, sondern die Verabfolgung eines Medikamentes in Verbindung mit dem völligen Entzug des Alkohols. Dies ergebe sich aus der Einlassung des Versicherten und der Zeugenaussage des Chefarztes, die wegen der Verweisung im angefochtenen Urteil auf die Akten der Klägerin und der Beklagten sowie die Prozeßakten zu den vom SG festgestellten Tatsachen zählen. Sei aber der Sprung vom Balkon auf die Medikamentenverabfolgung und die völlige Alkoholentziehung zurückzuführen, dann habe es sich um ein Risiko gehandelt, dem der Versicherte bei der stationären Behandlung typischerweise ausgesetzt sei und das dem Versicherungsschutz unterliege. Die Klageabweisung sei aber auch deshalb gerechtfertigt, weil dem abwegigen Verhalten des Beigeladenen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Das Fehlverhalten des Krankenhauspersonals, das zu einem Unfall des Patienten führe, sei eine typische Krankenhausgefahr. Daher falle ein Unfall infolge mangelnder Beaufsichtigung unter den Versicherungsschutz.

Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet.

Hat der Träger der Unfallversicherung Leistungen gewährt und stellt sich nachträglich heraus, daß die Krankheit nicht Folge eines Arbeitsunfalls ist, so hat die Krankenkasse nach § 1509 a RVO zu ersetzen, was sie nach dem Recht der Krankenversicherung hätte leisten müssen. Die Klägerin hatte die Kosten für die Heilbehandlung des Beigeladenen aus Anlaß des Unfalls vom 23. Januar 1975 unter dem Vorbehalt des Ergebnisses weiterer Ermittlungen in der Annahme übernommen, daß die durch den Sprung vom Balkon des Krankenhauses P verursachte Wirbelsäulenverletzung Folge eines Arbeitsunfalls war. Nachträglich hat sich jedoch herausgestellt, daß der Unfall kein Arbeitsunfall gewesen ist und die Klägerin daher für die Folgen des Unfalls keine Leistungen zu erbringen hatte.

Der Beigeladene gehörte während der ihm von der Beklagten gewährten stationären Behandlung im Krankenhaus P zu den nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO gegen Arbeitsunfall versicherten Personen. Wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, sind jedoch nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift die mit der Entwicklung und dem Verlauf einer Erkrankung des Versicherten verbundenen Risiken, gleichgültig ob diese Erkrankung Anlaß zur stationären Behandlung gegeben hat oder nicht, nicht Gegenstand des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO (BSGE 46, 283, 284; SozR 2200 § 539 Nr 48 und 56; Urteile vom 31. Oktober 1978 - 2 RU 70/78 - und vom 30. September 1980 - 2 RU 13/80 - zur Veröffentlichung vorgesehen; vgl auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl S 475 g; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl § 539 Anm 97h Buchst d). Der Senat hat ferner entschieden, daß die Reaktion auf Medikamente sowie die Folgen falscher oder unterlassener Maßnahmen des Pflegepersonals dem nicht vom Versicherungsschutz erfaßten Risiko der ärztlichen Behandlung zuzurechnen sind (BSG SozR 2200 § 539 Nr 56; Urteil vom 30. September 1980 - 2 RU 13/80 -).

Im vorliegenden Fall hat nach den Feststellungen des SG das Einweisungsleiden "Verdacht auf Präzirrhose bei Alkoholabusus" entscheidend zum Unfallgeschehen am 23. Januar 1975 beigetragen. Das SG hat es als erwiesen angesehen, daß der Beigeladene unter der Auswirkung des Entzugs von alkoholischen Getränken sich in einem getrübten Bewußtseinszustand befunden habe, als er das Krankenhaus P unbemerkt zu verlassen versuchte. Damit scheidet nach der dargelegten Rechtsprechung des BSG ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO aus; die mit der Entwicklung und dem Verlauf einer Erkrankung des Versicherten verbundenen Risiken sind nicht Gegenstand des Versicherungsschutzes. Der Beigeladene hat sonach am 23. Januar 1975 keinen Arbeitsunfall erlitten.

Weitere tatsächliche Feststellungen zur Ursache des Sprunges vom Balkon des Krankenhauses enthält das angefochtene Urteil nicht. Durch die Bezugnahme im Urteil auf die Akten der Klägerin und der Beklagten sowie die Prozeßakten ist das in diesen Akten enthaltene tatsächliche Vorbringen vom SG nicht "festgestellt". Das betrifft sowohl die von der Beklagten als ursächlich für den Sprung angesehene Medikamentenverabfolgung als auch die nicht genügende Aufmerksamkeit des Pflegepersonals in bezug auf das abwegige Verhalten des Beigeladenen. Überdies würden beide Umstände, wären sie vom SG festgestellt, nach der Rechtsprechung des BSG gleichfalls nicht zur Bejahung eines Arbeitsunfalls führen. Auf eine mangelhafte Sachaufklärung (§ 103 SGG), die etwa die Aufdeckung sonstiger unfallversicherungsrechtlich erheblicher Tatsachen verhindert haben könnte, kann eine Sprungrevision nicht gestützt werden (§ 161 Abs 4 SGG).

Da der Beigeladene am 23. Januar 1975 keinen von der Klägerin zu entschädigenden Arbeitsunfall erlitten hat, war die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils gemäß § 1509 a RVO dem Grunde nach zu verurteilen, der Klägerin zu ersetzen, was sie - die Beklagte - nach dem Recht der Krankenversicherung aus Anlaß des Unfalls vom 23. Januar 1975 hätte leisten müssen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660952

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