Leitsatz (amtlich)

Ein Übergangsfall im Sinne des ÄndG 1956-12 AVAVG Art 9 § 20 Abs 1 Nr 1 und 2 vom 1956-12-23 (BGBl I S 1018) liegt auch vor, wenn die Anwartschaftszeit vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts (1957-04-01) erfüllt worden ist, die Arbeitslosmeldung dagegen nach diesem Zeitpunkt erfolgt.

 

Normenkette

AVAVG § 74 Abs. 3 Fassung: 1957-04-03, § 76 Fassung: 1957-04-03, § 88 Abs. 3; AVAVGÄndG 1956-12 Art. 9 § 20 Fassung: 1956-12-23

 

Tenor

Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Köln, Zweigstelle Aachen, vom 26. September 1957 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Der 1912 geborene Kläger stand von 1946 bis zum 27. Mai 1957 - zuletzt als Dreher - im Beschäftigungsverhältnis bei der B.-Industrie-Aktiengesellschaft (BIAG) "Z. in E. Vom 24. Januar bis zum 27. Mai 1957 war er nach den Ausführungen im Urteil des Sozialgerichts "unter Fortbestand des Arbeitsvertrages arbeitsunfähig krank". Am 17. März 1957 hatte er deshalb Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt. Am 28. Mai 1957 - nach dem Urteil des Sozialgerichts am 27. Mai - meldete er sich arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg). Dabei gab er an, daß er wegen Asthmaleidens nicht arbeitsfähig sei. Mit Bescheid vom 28. Mai 1957 lehnte das Arbeitsamt D gemäß §§ 74, 76 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1957 seinen Antrag ab, weil er der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe. Sein Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 2. Juli 1957 zurückgewiesen. Die ernstliche Bereitschaft zur Verrichtung einer Arbeitnehmertätigkeit müsse bei ihm verneint werden.

II. Mit seiner Klage machte der Kläger geltend, die für seinen Anspruch früher maßgebliche Vorschrift des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. sei nicht ersatzlos weggefallen, sondern durch § 87 Abs. 5 AVAVG n. F. mit erweiterter Bezugsdauer übernommen. Wolle man dieser Ansicht nicht folgen, so stehe ihm gleichwohl für 13 Wochen Alg zu, da nach der Übergangsvorschrift des Art. IX § 20 des Änderungsgesetzes (ÄndG) vom 23. Dezember 1956 in einem nach dem bisherigen § 88 Abs. 3 zu beurteilenden Falle die mangelnde Verfügbarkeit, soweit sie auf Gesundheitsminderung zurückzuführen sei, nicht berücksichtigt werden dürfe. Er beantragte deshalb, die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, einen neuen Bescheid zu erteilen und Arbeitslosengeld von der Antragstellung ab unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wartezeit für 13 Wochen zu gewähren.

Mit Urteil vom 26. September 1957 entschied das Sozialgericht Köln, Zweigstelle Aachen, entsprechend. Der Kläger sei "unstreitig arbeitsunfähig" im Sinne des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. und stehe der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Nach dieser Vorschrift hätte ein Versicherter jedoch nur dann als arbeitsunfähig angesehen werden dürfen, wenn sich sein körperlicher Zustand nach dem Ausscheiden aus der Beschäftigung so verändert hätte, daß Arbeitsfähigkeit nicht mehr vorlag. Damit sei die Arbeitsfähigkeit in einem solchen Falle fingiert worden. Nach dem neuen Recht (§ 76) dagegen sei der Anspruch nicht mehr davon abhängig, daß der Arbeitslose "arbeitsfähig" sei, sondern der "Arbeitsvermittlung zur Verfügung" stehe. Eine Fiktion der Verfügbarkeit enthalte das neue Recht nicht. Der Anspruch des Klägers sei jedoch auch nicht hiernach, sondern nach der Übergangsvorschrift des Art. IX § 20 ÄndG zu beurteilen, weil sein Anspruch auf einer vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts erworbenen Anwartschaft beruhe; denn er habe "bis zum 23.1.1957 gearbeitet" und in der zweijährigen Rahmenfrist - vom Tage der Arbeitslosmeldung ausgehend - "vor Inkrafttreten des Gesetzes ... mehr als 26 Wochen in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gestanden". Für die Ansicht der Beklagten, die Anwartschaftszeit sei "erst mit der Arbeitslosmeldung bzw. Antragstellung", also nach neuem Recht erfüllt, gebe das Gesetz keinen Anhalt. Daß der Kläger als knappschaftlich versicherter Arbeitnehmer Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nicht entrichtet habe, sei ohne Bedeutung. Nach der Übergangsvorschrift sei die Bestimmung des § 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG n. F., wonach er der Arbeitsvermittlung nach seinem "Leistungsvermögen" zur Verfügung stehen müsse, nicht anzuwenden, so daß insoweit praktisch § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. wieder in Kraft sei, also nunmehr statt der "Arbeitsfähigkeit" die "Verfügbarkeit" fingiert werde. Die übrigen Voraussetzungen des § 76 Abs. 1 Nr. 1 (ernstliche Bereitschaft) und Nr. 3 (Nicht-Behinderung der Arbeitsvermittlung durch "sonstige Umstände") seien deshalb "nicht zu berücksichtigen".

Berufung ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen worden.

III. Gegen das am 6. November 1957 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 3. Dezember 1957 Sprungrevision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Kläger mit der Klage abzuweisen. Die gemäß § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erforderliche Einwilligungserklärung des Rechtsmittelgegners hat sie beigefügt. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundessozialgericht hat sie hilfsweise Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an das Sozial- oder Landessozialgericht beantragt. Am 19. Dezember 1957 hat sie die Revision begründet und Verstöße gegen § 88 Abs. 3 AVAVG in der Fassung der Militärregierungsverordnung (MRVO) Nr. 111 - AVAVG a. F. - und Art. IX § 20 ÄndG gerügt. Die Voraussetzungen des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. seien zwar erfüllt, jedoch liege nicht ein Übergangsfall vor, "weil die für die Anwartschaftszeit maßgebende Arbeitslosmeldung erst am 28.5.1957, also nach Inkrafttreten des Gesetzes vom 23.12.1956 vorgenommen worden" sei.

Der Kläger hat beantragt, die Sprungrevision als unbegründet zurückzuweisen. Er schließt sich der Begründung des Urteils des Sozialgerichts an.

IV. Das Sozialgericht hat die nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG an sich nicht zulässige Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen. Deshalb ist die Sprungrevision statthaft. Sie ist auch zulässig, da die Voraussetzungen der §§ 161 Abs. 1 Satz 2 und 164 SGG erfüllt sind, und begründet. Das Sozialgericht durfte ohne nähere Feststellungen die Beklagte nicht verurteilen.

V. Der Kläger hat sich am 28. Mai 1957 arbeitslos gemeldet, somit nach dem Tage des Inkrafttretens (1. April 1957) des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des AVAVG vom 23. Dezember 1956 (BGBl. I S. 1018) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1957 (BGBl. I S. 321 - AVAVG n. F. -). Sein Anspruch auf Alg war deshalb grundsätzlich nach dem neuen Recht zu beurteilen, insbesondere auch im Hinblick auf § 76 AVAVG n. F., da die Beklagte mit ihrem Verwaltungsakt den Anspruch des Klägers gerade wegen seiner mangelnden Verfügbarkeit abgelehnt hatte. Ohne selbst Feststellungen hierzu zu treffen, hat das Sozialgericht angenommen, der Kläger sei "unstreitig arbeitsunfähig" im Sinne des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. und stehe der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung. Es ist dabei offensichtlich nur von den Angaben des Klägers in seinem Antrag und davon ausgegangen, daß er Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt hatte, obwohl zur Zeit der Verkündung des Urteils die Knappschaft über diesen Antrag noch nicht entschieden hatte. Der Umstand, daß eine Tatsache von den Beteiligten nicht bestritten worden war, berechtigte das Sozialgericht nicht ohne weiteres, sie als "unstreitig" zu behandeln. Jedenfalls durfte es dies nicht bei der Frage der Arbeitsfähigkeit tun, die rein medizinisch zu beurteilen ist (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 29.1.1957 - BSG. 4 S. 253 -). Aus den Gründen des angefochtenen Urteils ergibt sich kein Anhaltspunkt dafür, daß die Mitglieder der Kammer über die erforderlichen medizinischen Kenntnisse verfügten, um selbst darüber befinden zu können, ob der Kläger arbeitsfähig war oder nicht (vgl. hierzu BGHSt. vom 10.7.1958 mit Anm. von Kohlhaas in "Der medizinische Sachverständige" 1958 S. 255). Das Sozialgericht hat nicht einmal die Versorgungsakten des Klägers herangezogen, obwohl dieser in seinem Widerspruch angegeben hatte, er beziehe eine Versorgungsrente wegen einer Erwerbsminderung um 30 v. H. Alle diese Umstände hätten jedoch das Gericht dazu drängen müssen, den Kläger ärztlich untersuchen und begutachten zu lassen. Ohne solche Feststellungen war es jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen, daß das Leistungsvermögen des Klägers zur Zeit der Arbeitslosmeldung angenommen werden konnte und deshalb nach § 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG n. F. zu bejahen war.

Statt dessen hat das Sozialgericht auf Grund seiner Annahme der Arbeitsunfähigkeit gemäß § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. den Fall nach der Übergangsvorschrift des Art. IX § 20 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des AVAVG vom 23. Dezember 1956 (BGBl. I S. 1018 - ÄndG -) behandelt. Hierzu konnte es nur kommen, wenn es als nachgewiesen ansah, daß der Anspruch des Klägers auf einer vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erfüllten Anwartschaftszeit beruhte. Insoweit ist es davon ausgegangen, der Kläger habe bis zum 23. Januar 1957 gearbeitet, vom 24. Januar bis zum 27. Mai 1957 sei er "unter Fortbestand des Arbeitsvertrages arbeitsunfähig krank" gewesen. Das einzige Beweismittel, das zu dieser Zeit vorlag, der Abkehrschein der BIAG, enthält keinen Vermerk über die Krankheit. Davon abgesehen durfte das Sozialgericht aber auch nicht vom Arbeitsvertrag ausgehen; denn für die Erfüllung der Anwartschaftszeit ist nicht dieser, sondern das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis maßgebend, wie der Senat in seinen Urteilen vom 30. August 1955 und 27. Januar 1956 (BSG. 1 S. 115 (117) und 2 S. 171 (174)) eingehend dargelegt hat, dessen Dauer hätte festgestellt werden müssen. Sah das Sozialgericht die Krankheit als "unbestrittene" Tatsache an, so hätte es, da zu dieser Zeit über den Rentenantrag noch nicht entschieden war, wenigstens prüfen müssen, ob der Kläger für die Krankheitszeit sein Arbeitsentgelt weiter bezogen hatte. Denn bei Bejahung wäre diese Zeit ggf. nach § 98 a AVAVG a. F. und § 85 Abs. 1 Satz 2 AVAVG n. F. anwartschaftsbegründend gewesen. Unter diesen Umständen hätte aber der Anspruch nicht auf einer nur vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes erfüllten Anwartschaftszeit beruhen können, so daß er wiederum auch nach § 76 AVAVG n. F., nicht aber als Übergangsfall im Sinne des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F., dessen Wirksamkeit mit dem 31. März 1957 endete, zu beurteilen gewesen wäre.

Daß das Gericht Feststellungen in diesen Richtungen nicht getroffen hat, stellt einen Verstoß gegen § 103 SGG dar, wonach es den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat, ohne an das Vorbringen der Beteiligten gebunden zu sein. Aus diesen Gründen mußte das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben werden. Da es dem Revisionsgericht verwehrt ist, selbst Ermittlungen anzustellen, mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Der Senat hielt es gemäß § 170 Abs. 3 SGG für zweckmäßig, die Sache an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, "das für die Berufung zuständig gewesen wäre", zurückzuverweisen. Dieses wird nunmehr die erforderlichen Feststellungen nachholen müssen und hat nach § 170 Abs. 4 SGG seiner Entscheidung die folgende rechtliche Beurteilung zu Grunde zu legen.

VI. Der Kläger hat sich nach dem Vermerk auf dem Antragsvordruck, wie bereits erwähnt, am 28. Mai 1957 arbeitslos gemeldet. Die Bezeichnung des 27. Mai im Urteil des Sozialgerichts ist offensichtlich ein Schreibfehler. Die zweijährige Rahmenfrist des § 85 Abs. 2 AVAVG n. F., in der die Anwartschaftszeit erfüllt sein mußte, lief demnach vom 28. Mai 1955 bis zum 27. Mai 1957. Die Beklagte ist nun der Auffassung, die Anwartschaftszeit könne nicht allein durch eine versicherungspflichtige Beschäftigung erfüllt werden. Vielmehr gehöre hierzu untrennbar auch die Arbeitslosmeldung. Sei sie am 1. April 1957 oder später erfolgt, dann könne nicht mehr von einer vor dem Inkrafttreten des AVAVG in der Fassung des ÄndG erfüllten Anwartschaftszeit gesprochen werden. Dieser Ansicht kann nicht beigetreten werden. Die Arbeitslosmeldung ist, wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 9. Dezember 1958 - 7 RAr 152/55 - entschieden hat, die Meldung vom Eintritt des Versicherungsfalles, also der Arbeitslosigkeit. Sie ist die Erklärung einer Tatsache. Im Gegensatz zum bisherigen Recht ist sie zwar jetzt zu einer Voraussetzung für den Anspruch auf Alg (§ 74 n. F.) gestaltet worden. Hierdurch ändert sich aber ihr Charakter als Tatsachenerklärung nicht. Jedenfalls ist sie nicht "untrennbar" mit der Anwartschaftszeit verbunden. Sie ist der maßgebliche Zeitpunkt, von dem an gemäß § 85 Abs. 2 AVAVG n. F. die zweijährige Rahmenfrist nach rückwärts zu berechnen ist, ebenso wie sie auch für andere Vorschriften zeitlicher Ausgangspunkt ist (vgl. § 87 Abs. 2: Dauer des Anspruchs, § 92: Wartezeit).

Eine andere Auslegung verbietet sich schon deshalb, weil § 85 Abs. 1 AVAVG n. F. nicht verlangt, daß - im Gegensatz zur Rahmenfrist (Abs. 2) - die Anwartschaftszeit selbst unmittelbar vor der Arbeitslosmeldung liegen muß, sondern eine zweijährige Rahmenfrist vorsieht, innerhalb derer die Mindestbeschäftigungsdauer von 26 Wochen oder 6 Monaten zurückgelegt sein muß. Diese kann demnach am Anfang, im Laufe oder am Ende der Rahmenfrist erfüllt werden. Sie muß nicht zusammenhängend geleistet werden.

Hat sich ein Arbeitsloser vor dem Tage des Inkrafttretens des ÄndG, dem 1. April 1957, arbeitslos gemeldet, dann kann die Anwartschaftszeit naturgemäß nur während der Geltungsdauer des bisherigen Rechts erfüllt sein. Hat er sich dagegen seit dem 1. April 1957 gemeldet, so kann die Anwartschaft je nach Lage des Falles ganz oder zum Teil während der Geltungsdauer des neuen oder aber auch des alten Rechts erworben sein. Ragt die Anwartschaftszeit auch nur mit einem Tage in das neue Recht hinein, so ist der Anspruch insgesamt nach neuem Recht zu beurteilen. Dabei ist zu beachten, daß die Anwartschaftszeit als solche immer nur 26 Wochen oder 6 Monate beträgt (§ 85 Abs. 1 AVAVG n. F.). Deshalb ist es insoweit ohne Bedeutung, ob der Arbeitslose über diese Frist hinaus - nach rückwärts gerechnet - versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist. Dieser Umstand würde nur für die Dauer des Anspruchs auf Alg wesentlich sein (§ 87 n. F.).

Wenn oben gesagt wurde, das Sozialgericht hätte prüfen müssen, ob für die Krankheitszeit das Arbeitsentgelt weiter gezahlt worden ist, da sie in diesem Falle ggf. anwartschaftsbegründend gewesen sei, so kann sich insoweit für das Landessozialgericht eine andere Rechtslage ergeben. Zur Zeit der Verkündung des Urteils des Sozialgerichts hatte die Knappschaft über den Rentenantrag des Klägers noch nicht entschieden. Die Beklagte hat zwar nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist dem Senat eine Abschrift des Rentenbewilligungsbescheides vorgelegt. Diese Tatsachenmitteilung durfte er jedoch nicht verwerten. Das Landessozialgericht wird deshalb zunächst zu prüfen haben, ob und von welchem Zeitpunkt an dem Kläger Knappschaftsrente bewilligt worden ist. Liegt dieser Zeitpunkt vor dem 1. April 1957, so bedarf es der Feststellungen gemäß § 98 a AVAVG a. F. und § 85 AVAVG n. F. nicht mehr; denn nach § 57 AVAVG n. F. ist vom 1. April 1957 an eine Beschäftigung während einer Zeit, für die dem Beschäftigten ein Anspruch auf Rente wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit aus der ... knappschaftlichen Rentenversicherung zuerkannt ist, versicherungsfrei und kann deshalb zur Erfüllung der Anwartschaftszeit nicht herangezogen werden. Demnach könnte diese dann nur vor dem 1. April 1957 erfüllt gewesen sein.

VII. Da der Kläger sich erst am 28. Mai 1957 arbeitslos gemeldet hat, kann aber, selbst wenn die Anwartschaftszeit nach altem Recht erfüllt worden ist, von der Beurteilung des Anspruchs nach neuem Recht nur dann abgewichen werden, wenn dies durch eine Sonderregelung auf Grund einer Übergangsvorschrift ausdrücklich zugelassen wird. Insoweit könnte hier Art. IX § 20 Abs. 1 Nr. 2 ÄndG in Betracht kommen. Nach dieser Vorschrift ist, wenn ein Anspruch auf Arbeitslosengeld auf einer vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erfüllten Anwartschaftszeit beruht, im Falle des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. der § 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG n. F. nicht anzuwenden.

Voraussetzung ist also, daß der Anspruch - nur - auf einer vor dem 1. April 1957 erfüllten Anwartschaftszeit "beruht", d. h. durch sie begründet ist und weiter, daß ein Fall des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. gegeben ist. Insoweit liegt ein Übergangsfall also auch vor, wenn die Anwartschaftszeit vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts (1.4.1957) erfüllt worden ist, die Arbeitslosmeldung dagegen nach diesem Zeitpunkt erfolgt.

Das Landessozialgericht wird demnach neben der Frage, wann die Anwartschaftszeit erfüllt worden ist, weiter klären müssen, ob ein Fall des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. gegeben ist, wobei es besonders zu berücksichtigen haben wird, ob die Knappschaftsrente dem Kläger wegen Erwerbs- oder nur wegen Berufsunfähigkeit bewilligt worden ist. Liegen die Voraussetzungen des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. vor, so ist nach der Übergangsregelung § 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG n. F. nicht anzuwenden.

Nach § 76 Abs. 1 AVAVG n. F. steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, "wer

1.) ernstlich bereit und

2.) ungeachtet der Lage des Arbeitsmarktes nach seinem Leistungsvermögen imstande sowie

3.) nicht durch sonstige Umstände ... gehindert ist,

eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben ...".

Nach altem Recht wurde bei einem Falle des § 88 Abs. 3 AVAVG die Arbeitsfähigkeit fingiert, weil der Arbeitslose trotz Arbeitsunfähigkeit die Anwartschaftszeit erfüllt hatte. Die Voraussetzungen der Arbeitslosigkeit und der Verfügbarkeit wurden grundsätzlich mitfingiert. Wenn nach Art. IX § 20 ÄndG in einem Falle des § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. die Vorschrift des § 76 Abs. 1 Nr. 2 AVAVG n. F. über das Leistungsvermögen nicht anzuwenden ist, so bedeutet das auch nichts anderes, als daß - wie früher nach § 88 Abs. 3 AVAVG a. F. die "Arbeitsfähigkeit" - jetzt das "Leistungsvermögen" fingiert wird.

Was aber die übrigen Merkmale der Verfügbarkeit betrifft, so ist hier zu beachten, daß Art. IX § 20 ÄndG im Abs. 4 bestimmt: "Im übrigen sind die Vorschriften dieses Gesetzes anzuwenden".

Die Anwendung der Nummern 1 und 3 des § 76 Abs. 1 AVAVG n. F. wird damit also nicht ausgeschlossen. Deren Voraussetzungen müssen grundsätzlich erfüllt sein. Jedoch wird nur in Ausnahmefällen trotzdem das Alg versagt werden müssen. Jedenfalls werden sich insoweit Schwierigkeiten nicht ergeben können, wenn gerade die geforderte ernstliche Bereitschaft, die hier von Bedeutung sein könnte, durch Umstände beeinflußt wird, die mit dem Leistungsvermögen zusammenhängen. Denn die ernstliche Bereitschaft braucht in einem solchen Falle nur im Umfang des Leistungsvermögens vorzuliegen.

VIII. Nach § 74 Abs. 3 AVAVG n. F. besteht der Anspruch auf Alg für Zeiten, für die dem Arbeitslosen ein Anspruch auf Rente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung wegen ... Invalidität oder Berufsunfähigkeit zuerkannt ist, nur, soweit der Anspruch auf Alg auf beitragspflichtigen Beschäftigungen beruht, d. h. hier also auf solchen, für die der Beschäftigte nicht nach § 16 Abs. 2 der Verordnung über die Neuregelung der Rentenversicherung im Bergbau vom 4. Oktober 1942 (RGBl. I S. 569) von der Entrichtung von Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung befreit gewesen ist. Im Abkehrschein der BIAG war lediglich vermerkt, daß der Kläger bei der Aachener Knappschaft versichert war. Würde er bei der BIAG beitragsfrei im obigen Sinne beschäftigt gewesen sein, so würde dies an sich zur Ablehnung des Anspruchs auf Alg führen müssen. Aber auch hier greift eine der Übergangsvorschriften des Art. IX § 20 ÄndG ein. Denn nach § 20 Abs. 1 Nr. 1 ist § 74 Abs. 3 AVAVG n. F. nicht anzuwenden, wenn ein Anspruch auf Alg auf einer vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes erfüllten Anwartschaftszeit beruht. Wird dies auf Grund der früheren Ausführungen hier festgestellt, so würde der Kläger das Alg für 13 Wochen erhalten können, wenn nicht ein anderer Hinderungsgrund entgegen steht.

IX. Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324013

BSGE, 240

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