Beteiligte

…Kläger, Revisionsklägerund Revisionsbeklagter

…Beklagte, Revisionsbeklagteund Revisionsklägerin

 

Tatbestand

G r ü n d e :

I.

Streitig ist, ob die Beklagte einen Kürzungsbescheid im Ermessenswege zurücknehmen kann und wie sie gegebenenfalls das Ermessen auszuüben hat.

Der Kläger nahm vom 26. November 1981 bis 18. Mai 1983 an einer Umschulung zum Nachrichtengerätemechaniker teil. Hierfür bewilligte ihm die Beklagte Übergangsgeld (Übg) in Höhe des entgangenen regelmäßigen Nettoarbeitsentgelts gemäß § 59 Abs 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in der bis zum 31. Dezember 1981 geltenden Fassung. Der Bescheid war mit dem Zusatz versehen, die Bewilligung erfolge unter dem Vorbehalt der Anpassung der Leistungen an das ab 1. Januar 1982 geltende Recht. Mit Bescheid vom 14. Januar 1982 setzte die Beklagte das Übg ab 1. Januar 1982 auf 75 vH der bisher gezahlten Leistung gemäß § 59 Abs 2 Satz 2 Nr 2 AFG in der ab 1. Januar 1982 geltenden Fassung des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (AFKG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I S 1497) herab.

Im März 1984 beantragte der Kläger unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Oktober 1983 (SozR 4150 Art 1 § 2 Nr 1) die Rücknahme des Kürzungsbescheides. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 29. März 1984 mit der Begründung ab, nach § 152 Abs 1 AFG sei abweichend von § 44 Abs 1 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) die Rücknahme nur für die Zukunft und nicht auch für die Vergangenheit vorgesehen. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid von 4. Mai 1984 zurück. Sie erklärte nunmehr, daß sie das ihr durch § 44 Abs 2 (Satz 2) SGB 10 eingeräumte Ermessen ausgeübt habe, obgleich die Erforderlichkeit dieser Prüfung höchst strittig sei. Dabei sei sie zur Auffassung gelangt, daß eine Rücknahme für die Vergangenheit nicht in Betracht komme. Der Kläger habe die für das BSG maßgebende Überlegung, daß die Vorbehalte in den Bewilligungsbescheiden sowohl auf eine Kürzung als auch auf eine Erhöhung der Leistung hindeuten konnten, offensichtlich nicht angestellt und sei folgerichtig davon ausgegangen, daß der Vorbehalt eine Kürzung bedeute. Deshalb sei er nicht so zu stellen wie diejenigen, die die Kürzungsbescheide angefochten hätten.

Das Sozialgericht (SG) Heilbronn hat mit Urteil vom 27. Juni 1984 den Bescheid vom 29. März 1984 idF des Widerspruchsbescheides aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Kürzungsbescheides zur Gewährung von Übg auf der Grundlage des ursprünglichen Bewilligungsbescheides über den 31. Dezember 1981 hinaus verurteilt. Auf die zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 25. März 1986 das Urteil geändert und die Beklagte - nur - zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Beachtung seiner Rechtsauffassung hinsichtlich des Übg für die Zeit vom 1. Januar 1982 bis 18. Mai 1983 verpflichtet. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kürzungsbescheid sei rechtswidrig, da der Vorbehalt im Bewilligungsbescheid nicht den Anforderungen des Art 1 § 2 Nr 3 Buchst a AFKG an den Hinweis auf Änderungen in dem AFKG entsprochen habe. Die Beklagte könne über die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte für die Vergangenheit gemäß § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 nach ihrem Ermessen entscheiden. Dem stünden weder die Systematik des § 44 SGB 10 noch § 152 Abs 1 AFKG noch dessen unterschiedliche Fassung gegenüber der des § 20 Abs 5 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) entgegen. Die Beklagte habe in dem Widerspruchsbescheid jedoch von ihrem Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Daß der Kläger die Rechtswidrigkeit des Kürzungsbescheides nicht gekannt habe, dürfe nicht zu seinen Lasten berücksichtigt werden. Für die erneute Ermessensausübung verblieben der Beklagten noch verschiedene Erwägungen.

Gegen das Urteil haben der Kläger und die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt.

Die Beklagte rügt Verletzung des § 152 Abs 1 AFG und des § 44 SGB 10. Dabei vertritt sie wieder die Auffassung, daß es für sie keine gesetzliche Möglichkeit gebe, rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakte über Sozialleistungen mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Die Beklagte beantragt,die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Nach seiner Auffassung gibt es für die Beklagte keine Erwägungen mehr, auf die sie eine ihm ungünstige Ermessensentscheidung stützen könne. Da es sich um einen in ihren Verantwortungsbereich fallenden Rechtsanwendungsfehler handele, der sich mit erheblichem Nutzen für ihn unter geringem Verwaltungsaufwand korrigieren lasse, sei ihr Ermessen praktisch auf Null geschrumpft.

Beide Beteiligten beantragen außerdem,die Revision der Gegenseite zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revisionen sind nicht begründet. Das LSG hat die Beklagte zu Recht zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt, in dem sie über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides gemäß § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 erneut nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat.

Die Systematik des § 44 SGB 10 schließt es nicht aus, dessen Abs 2 auf Verwaltungsakte anzuwenden, die wie der Kürzungsbescheid im vorliegenden Fall Sozialleistungen (oder Beitragserhebungen) betreffen. Das zeigt schon der Blick auf die Fälle, die Abs 1 Satz 2 erfaßt, nämlich Verwaltungsakte über Sozialleistungen (Beitragserhebungen), die auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Betroffen beruhen. Für sie gilt Satz 1 mit seiner Rücknahmeverpflichtung für Vergangenheit und Zukunft nicht. Verstände man Abs 2 so wie die Beklagte, gäbe es für diese Verwaltungsakte keinerlei Rücknahmemöglichkeit, weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft. Daß dies nicht richtig sein kann, liegt auf der Hand, zumal das SGB 10 frühere Rücknahmegrundsätze nicht einschränken, sondern verallgemeinern wollte (BT-Drucks 8/2034 S 34). Davon abgesehen beseitigt die Gesetzesbegründung jeden Zweifel; nach ihr (aaO) erfaßt Abs 2 vor allem die Fälle, in denen von einem unrichtigen, vom Betroffenen zu vertretenden Sachverhalt ausgegangen worden ist, und daneben auch feststellende Verwaltungsakte. Der mit den Worten "im übrigen'' eingeleitete Abs 2 des § 44 SGB 10 muß danach auch auf Verwaltungsakte anwendbar sein können, die Sozialleistungen (und Beitragserhebungen) betreffen. Er gilt für sie dann, wenn besondere Vorschriften - wie zB § 44 Abs 1 Satz 2 SGB 10 - für Gruppen solcher Verwaltungsakte die Anwendung des Abs 1 Satz 1, nicht aber auch die des Abs 2 ausschließen.

Damit weicht der Senat nicht von der Entscheidung des 10. Senats des BSG vom 10. Dezember 1985 (SozR 5870 § 2 Nr 44) ab. Zwar ist dort ausgeführt, § 44 Abs 2 SGB 10 enthalte nur einen Auffangtatbestand für Bescheide, die weder über eine Leistungsberechtigung noch über eine Beitragsverpflichtung befinden. Es handelte sich um einen Fall, in dem der 10. Senat des BSG § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 an sich für anwendbar und nur in seinen Tatbestandsvoraussetzungen nicht für erfüllt hielt. Der 10. Senat wollte daher nicht den Regelungsbereich des § 44 Abs 2 SGB 10 abschließend bestimmen. Dafür spricht auch, daß er sich auf Hauck/Haines, Komm zum SGB 10, § 44, RdNr 23 bezogen hat, die in RdNr 22 in den Fällen des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB 10 wie der erkennende Senat den § 44 Abs 2 SGB 10 für anwendbar halten.

Als eine Sondervorschrift, die zwar die Anwendung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10, nicht aber die des § 44 Abs 2 SGB 10 ausschließt, ist § 152 Abs 1 AFG anzusehen. Nach ihm ist im Arbeitsförderungsrecht der rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakt "abweichend von § 44 Abs 1" SGB 10 mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Schon dem Wortlaut nach ordnet die Vorschrift nur ihr Verhältnis zum Abs 1 des § 44 SGB 10 und nicht zu § 44 SGB 10 insgesamt. Während § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 die Rücknahme für Vergangenheit und Zukunft vorschreibt, beschränkt § 152 Abs 1 AFG die Rücknahmepflicht auf die Zukunft. Damit bleibt vom Text her offen, wie es sich mit der Anwendbarkeit des § 44 Abs 2 SGB 10 verhält, von dem allerdings nur der Satz 2 Bedeutung erlangt, der die Rücknahme für die Vergangenheit dem Ermessen des Leistungsträgers überläßt.

Aus dem Wortlaut des § 152 Abs 1 AFG läßt sich, bei welchen Erwägungen auch immer, darauf keine überzeugende Antwort gewinnen, wohl aber aus der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 8/2034 S 37). Dort heißt es, die von § 42 Abs 1 SGB 10 (jetzt § 44 Abs 1 SGB 10) abweichende Regelung ergebe sich aus den Besonderheiten des Leistungssystems des AFG. Eine Verpflichtung der Arbeitsämter, rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte, die unanfechtbar geworden sind, stets auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, würde die Arbeitsämter mit einem Verwaltungsaufwand belasten, der im Hinblick auf die Kurzfristigkeit der Leistungen nicht zu rechtfertigen sei. So sei zB allein 1976 bei durchschnittlich 780.000 Empfängern von Alg und Alhi über mehr als 3 Millionen Leistungsanträge zu entscheiden gewesen. Dem ist wörtlich angeschlossen: "Die Arbeitsämter haben aber über die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden", § 42 (§ 44) Abs 2 bis 4 SGB 10 bleibe unberührt. Dies zeigt eindeutig, daß die Anwendung des § 44 Abs 2 SGB 10 im Arbeitsförderungsrecht nicht ausgeschlossen werden sollte, Dort sollte von den beiden Rücknahmemodellen des § 44 SGB 10 (Abs 1: Rücknahmepflicht für Zukunft und Vergangenheit; Abs 2: Rücknahmepflicht für Zukunft, Ermessen für Vergangenheit) nur das des Abs 2 gelten, nicht aber ein - schon in sich fragwürdiges - drittes Modell einer Rücknahmepflicht für die Zukunft und jeglichen Rücknahmeausschlusses für die Vergangenheit.

Zu Unrecht hält die Beklagte den Rückgriff auf die Regierungsbegründung zum Gesetzentwurf für unzulässig, weil im weiteren Gesetzgebungsverfahren nichts davon wiederholt worden sei. Der gegenteilige Schluß ist richtig. Wenn der Entwurf einer Gesetzesvorschrift wie bei § 152 AFG (vgl BT-Drucks 8/4022 S 50 und 70) unverändert Gesetz geworden ist und die übrigen Gesetzgebungsorgane sich nicht abweichend geäußert haben, dann läßt sich daraus schließen, daß der Gesetzgeber sich die Regierungsbegründung zu eigen gemacht hat.

Aus der Regierungsbegründung muß ferner entnommen werden, daß in dem Einräumen eines Rücknahmeermessens für die Vergangenheit kein Widerspruch zum Zweck des § 152 Abs 1 AFG gesehen wurde, die Arbeitsämter nicht mit dem mit einer Rücknahmepflicht verbundenen Verwaltungsaufwand zu belasten. Ein solcher Widerspruch muß in der Tat nicht gegeben sein. Auch wenn sich kein klares Bild über den Verwaltungsaufwand gewinnen läßt, der im einen und im anderen Falle insgesamt auf die Beklagte zukäme, ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Beklagte bei Ermessensentscheidungen eher als bei gebundenen Entscheidungen den Verwaltungsaufwand - zB durch Richtlinien für die Ermessensausübung - zu begrenzen vermag.

Gegen die Anwendbarkeit des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 im Arbeitsförderungsrecht spricht schließlich nicht, daß der Gesetzgeber in dem ebenfalls durch das SGB 10 eingefügten § 20 Abs 5 BKGG der auch dort "abweichend von § 44 Abs 1" SGB 10 auf die Zukunft beschränkten Rücknahmepflicht in einem weiteren Halbsatz hinzugefügt hat, der Verwaltungsakt könne ganz oder teilweise auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Das könnte zwar den Schluß nahelegen, daß ein Rücknahmeermessen für die Vergangenheit nur im Kindergeldrecht, nicht aber auch im Arbeitsförderungsrecht gewollt sei. Der Gesetzgeber verhält sich in dieser Hinsicht jedoch nicht immer konsequent. Scheinbaren Widersprüchen in der Gesetzesgestaltung kann auch ein einheitlicher Wille des Gesetzgebers zugrunde liegen. Gerade so ist es aber im Verhältnis von § 152 Abs 1 AFG zu § 20 Abs 5 BKGG. Die Begründung zu § 20 Abs 5 BKGG (BT-Drucks 8/2034 S 41) führt nahezu identisch mit der zu § 152 Abs 1 AFG aus, daß nicht begünstigende Verwaltungsakte im Kindergeldrecht überwiegend nur verhältnismäßig kurze Leistungszeiträume beträfen; es sei nicht aus Billigkeitsgründen geboten und würde zu einem unvertretbaren Verwaltungsaufwand führen, alle diese Fälle wieder aufzugreifen; daher sei es sachgerecht, die Rücknahme für die Vergangenheit dem Ermessen der Kindergeldstellen zu überlassen. Dem folgt der Satz, der den einheitlichen Regelungswillen bei beiden Vorschriften außer Zweifel stellt: "Die Regelung ist auch erforderlich, um eine einheitliche Durchführung des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit sicher zu stellen". Zur "gesetzlichen Klarstellung" ist im übrigen beabsichtigt, den Wortlaut im AFG dem im BKGG anzugleichen (BT-Drucks 10/6283 S 7).

Der nach alledem anwendbare § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 setzt in Verbindung mit dem vorangehenden Satz 1 voraus, daß der nicht begünstigende Verwaltungsakt, um dessen Rücknahme es geht, rechtswidrig ist. Das war hier der Fall. Der 7. Senat des BSG hat bereits mit Urteilen vom 20. Oktober 1983 (SozR 4150 Art 1 § 2 Nr 1) und vom 7. Dezember 1983 (7 RAr 22/83, AuB 1984, 220) entschieden, daß die in den Bewilligungsbescheiden der Beklagten vor 1982 enthaltenen Vorbehalte nicht den Anforderungen des Art 1 § 2 Nr 3 Buchst a AFKG entsprachen und daher keine Herabsetzung der Leistungen ab 1. Januar 1982 nach dem AFKG erlaubten. Der erkennende Senat hält diese Entscheidungen für zutreffend und schließt sich ihnen an.

Die Beklagte mußte daher, weil die Voraussetzungen des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 erfüllt waren, über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides nach pflichtgemäßem Ermessen befinden. Sie hat in dem Widerspruchsbescheid eine Ermessensentscheidung getroffen. Bei deren Nachprüfung ist der Senat auf die dort mitgeteilten Ermessenserwägungen beschränkt. Dies ergibt sich aus den Vorschriften des SGB 10 über die Begründung von Ermessensentscheidungen. Das SGB 10 schreibt in § 35 Abs 1 - wenn wie hier kein Fall des Abs 2 gegeben ist - die Begründung von Ermessensentscheidungen in der Weise vor (Satz 3), daß die Behörde in der Begründung des Verwaltungsaktes die Gesichtspunkte erkennen lassen muß, von denen sie bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist. Nach § 41 Abs 1 Nr 2 SGB 10 kann "die erforderliche Begründung" zwar noch nachträglich gegeben werden, gemäß Abs 2 aber nur bis zum Abschluß des Vorverfahrens bzw bis zur Erhebung der Klage. Werden später Ermessenserwägungen noch mitgeteilt, die bei Erlaß des Verwaltungsaktes oder des Widerspruchsbescheides angestellt worden sind, dürfen sie nicht berücksichtigt werden. Erst recht gilt das für Ermessenserwägungen, die überhaupt erst nach diesen Zeitpunkten angestellt worden sind. Daß diese Erwägungen in der Regel nicht mehr der Kontrolle der Widerspruchsstelle unterliegen konnten, wäre noch ein zusätzlicher Grund. Soweit vor dem Erlaß des SGB 10 die nachträgliche Mitteilung und das Nachholen von Ermessenserwägungen nach den in § 41 Abs 2 SGB 10 genannten Zeitpunkten zugelassen wurde, kann diese Rechtsprechung nach dem Inkrafttreten des SGB 10 nicht mehr fortgeführt werden.

Die im Widerspruchsbescheid mitgeteilten Ermessenserwägungen der Beklagten haben nicht dem Zweck der ihr erteilten Ermessensermächtigung entsprochen (§ 54 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), so daß der die Rücknahme ablehnende Bescheid rechtswidrig ist. Die Beklagte darf sich bei ihrer Ermessensausübung nicht in Widerspruch zu Zielen und Zwecken gesetzlicher Vorschriften setzen. Die Hinweise in den Bewilligungsbescheiden sollten bewirken, daß die Leistungsempfänger nicht auf eine Weiterzahlung in bisherigen Höhe vertrauten, sich vielmehr auf eine Herabsetzung einstellten. Diese Funktion erfüllten die von der Beklagten erklärten Vorbehalte allgemein nicht, weshalb die danach erlassenen Kürzungsbescheide rechtswidrig waren. Hierfür kam es nicht darauf an, wie der einzelne Leistungsempfänger den Vorbehalt tatsächlich verstanden hat. Dies kann jedoch eine Rolle spielen, wenn es um die Rücknahme bindend gewordener Kürzungsbescheide geht. Hat nämlich ein Leistungsempfänger den Vorbehalt als Hinweis auf eine Kürzung ab dem 1. Januar 1982 verstanden, so könnte er sich bei der Frage der Rücknahme nicht auf ein enttäuschtes Vertrauen berufen. Voraussetzung ist jedoch stets die Feststellung, daß er den Vorbehalt tatsächlich als Kürzungshinweis aufgefaßt hat. Eine solche Feststellung hat das LSG hier nicht getroffen. Die Ausführungen im Widerspruchsbescheid der Beklagten enthalten hierzu nur eine - nicht ausreichende - Vermutung, die nicht einmal schlüssig ist. Denn wer die Überlegungen des BSG in den Urteilen des 7. Senates nicht angestellt hat, muß nicht "folgerichtig" davon ausgegangen sein, daß der Vorbehalt eine Kürzung bedeute.

Da der Kläger nicht nur die Verurteilung der Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides mit neuer Ermessensausübung, sondern unmittelbar die Verurteilung zur Rücknahme des Kürzungsbescheides beantragt hat, muß im weiteren geprüft werden, ob das Ermessen der Beklagten zugunsten des Klägers bereits in dem Sinne "auf Null geschrumpft" ist, daß sie sich nur noch für die Rücknahme des Kürzungsbescheides entscheiden könnte. Die von dem Kläger hierzu vorgetragenen Gesichtspunkte haben jedoch keine derartige Lage geschaffen. Auch hier müssen die Ziele und Zwecke anderer gesetzlicher Vorschriften und zwar diesmal die des § 152 Abs 1 AFG mitberücksichtigt werden. Der Gesetzgeber hat dort für rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte über Sozialleistungen im Arbeitsförderungsrecht eine Rücknahmepflicht nur für die Zukunft gewollt und sie für die Vergangenheit bewußt ausgeschlossen. Dann ist es aber nicht zulässig, im Rahmen des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 für die Fälle, die der Gesetzgeber im Blick gehabt haben muß, über eine Ermessensreduzierung auf Null praktisch doch zu einer Rücknahmepflicht auch für die Vergangenheit zu gelangen. Die vom Kläger vorgetragenen Gesichtspunkte müssen mit im Blickpunkt des Gesetzgebers gewesen sein. Er hat aber beim Ausschluß der Rücknahmepflicht für die Vergangenheit nicht, wie es der Kläger will, zwischen Fehlern bei der Sachverhaltsfeststellung und solchen bei der Rechtsanwendung, die wohl immer im Verantwortungsbereich der Beklagten liegen, unterschieden. Die Fälle, an die er gedacht hat, müssen Zeiträume, wie sie hier streitig sind und sogar völlige Leistungsversagungen für diese Zeiträume und nicht nur wie hier Leistungskürzungen umfaßt haben. Beim Verwaltungsaufwand hat der Gesetzgeber zwar darauf abgestellt, welcher Verwaltungsaufwand für die Beklagte insgesamt bei einer allgemeinen Rücknahmepflicht entstünde; es deutet aber nichts darauf hin, daß er dann, wenn der Verwaltungsaufwand im einzelnen Falle "minimal" wäre, eine Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme des Verwaltungsaktes gewollt hätte, was nicht ausschließt, daß die Beklagte dies bei der Ermessensausübung berücksichtigen kann.

Die Revisionen waren daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518072

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