Leitsatz (amtlich)

Wird ein Bescheid des Versorgungsamtes über die Höhe der Grundrente durch Urteil des Sozialgerichts zu Gunsten des Versorgungsberechtigten abgeändert, so beginnt die zweijährige Frist für eine Neufeststellung der Grundrente (BVG § 62 Abs 2) von dem Zeitpunkt an zu laufen, in dem die Berufungsfrist für die Versorgungsverwaltung verstrichen ist, und zwar auch dann, wenn der Kläger gegen das Urteil Berufung eingelegt hat.

 

Normenkette

BVG § 62 Abs. 2 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. Februar 1960 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

I.

 

Gründe

Der Kläger bezog wegen Narben am linken Bein sowie wegen Schilddrüsenüberfunktion eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. Das Versorgungsamt (VersorgA) setzte diese 1952 auf 40 v.H. herab, verpflichtete sich aber im November 1952 in einem Vergleich vor dem Oberversicherungsamt, dem Kläger wegen nachgewiesenen Berufsschadens weiterhin 50 v.H. zu zahlen. Auf Grund einer Nachuntersuchung im Herbst 1954 setzte das VersorgA mit Bescheid vom 28. Februar 1955 die Rente vom 1. Mai 1955 an auf 30 v.H. herab, weil sich der Zustand wesentlich gebessert habe. Auf Klage, mit der die Weiterzahlung der 50 v.H. begehrt wurde, verurteilte das Sozialgericht (SG) am 16. April 1956 den Beklagten, dem Kläger vom Zeitpunkt der Herabsetzung der Rente an die Bezüge nach einer MdE um 40 v.H. zu zahlen, und wies im übrigen die Klage ab. Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung ein. Das VersorgA führte das Urteil durch Bescheid vom 12. Juli 1956 aus. Nach neuerlicher Untersuchung entzog es durch Bescheid vom 22. April 1959 die Rente vom 1. Juli 1959 an mit der Begründung, eine wehrdienstlich bedingte Schilddrüsenüberfunktion bestehe nicht mehr. Durch Urteil vom 5. Februar 1960 wies das Landessozialgericht (LSG) die Berufung gegen das sozialgerichtliche Urteil und den Bescheid vom 22. April 1959 zurück: Der Zustand des Klägers habe sich wesentlich gebessert, so daß die Herabsetzung der Rente und die spätere Rentenentziehung gerechtfertigt gewesen seien. Bei der Entziehung sei die Schutzvorschrift des § 62 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gewahrt gewesen, wonach die Grundrente nicht vor Ablauf von zwei Jahren gemindert oder entzogen werden dürfe; denn die Zweijahresfrist habe mit dem Ablauf der Rechtsmittelfrist für den Beklagten gegen das sozialgerichtliche Urteil zu laufen begonnen. Das LSG ließ die Revision zu.

Der Kläger legte gegen das am 3. März 1960 zugestellte Urteil am 18. März 1960 Revision ein und begründete sein Rechtmittel in diesem Schriftsatz und in einem weiteren Schriftsatz vom 28. Mai 1960, nachdem die Revisionsbegründungsfrist verlängert worden war. Er trägt vor, das LSG habe seine Aufklärungspflicht verletzt und das Recht der freien Beweiswürdigung überschritten, weil die erhobenen Befunde keine wesentliche Besserung des Zustandes ergeben hätten und das LSG sich bei seinen dahingehenden Schlußfolgerungen nicht habe auf ausreichende ärztliche Gutachten stützen können. Es habe den § 62 Abs. 2 BVG unrichtig angewandt. Die zweijährige Schutzfrist sei noch nicht abgelaufen gewesen, weil zu dieser Zeit das sozialgerichtliche Urteil noch keine Rechtskraft besessen habe. Denn der Lauf der Zweijahresfrist beginne erst mit der Rechtskraft des Urteils; daher sei der Bescheid vom 22. April 1959 rechtswidrig.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Bayerischen LSG vom 5. Februar 1960 und des Neufeststellungsbescheides vom 22. April 1959 sowie in Abänderung des Urteils des SG Nürnberg vom 18. April 1956 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Mai 1955 wegen der im Bescheid vom 15. März 1952 anerkannten Schädigungsfolgen weiterhin Rente nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren; hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision konnte keinen Erfolg haben.

Zunächst greifen die von den Kläger erhobenen Verfahrensrügen nicht durch, weil das LSG weder seine Aufklärungspflicht (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) verletzt noch das Recht, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 SGG), überschritten hat. Denn dem LSG standen zur Beantwortung der Frage, ob sich der Zustand des Klägers bei der Rentenherabsetzung gegenüber dem von 1952 gebessert hat, ausreichende ärztliche Gutachten zur Verfügung. Eine solche Besserung hatte nicht nur das Gutachten des Versorgungskrankenhauses Bayreuth vom 11. Oktober 1954 ergeben, und zwar mit der Begründung, die leichte Grundumsatzsteigerung sei weiterhin zurückgegangen und das Körpergewicht als Ausdruck dieser Normalisierung der Schilddrüsentätigkeit habe sich seit November 1952 um 10 kg erhöht. Dieser Beurteilung hatte sich auch der ärztliche Dienst des VersorgA am 23. Februar 1955 angeschlossen, ebenso der Gutachter des SG Nürnberg am 18. Februar 1956. Die Schlußfolgerung des LSG, der Zustand habe sich wesentlich gebessert, beruht daher auf ärztlichen Unterlagen; es hat nicht seine eigene Sachkunde unzulässigerweise an die Stelle derjenigen von Sachverständigen gesetzt. Wenn es sich den genannten Gutachten, nicht aber der entgegenstehenden Auffassung von Dr. B... angeschlossen hat, so steht dies im Einklang mit der Befugnis des Tatsachengerichts, das Ergebnis der Beweise frei zu würdigen. Es ist nicht dargetan, daß das LSG bei einer gesetzmäßigen Beweiswürdigung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen müssen. Wenn das LSG in seinen Entscheidungsgründen sich nicht ausdrücklich mit der Meinung von Dr. D... auseinandergesetzt hat, so läßt das nicht den Schluß zu, es habe dieses Zeugnis übergangen; vielmehr hat es nach den gesamten Umständen diese Auffassung durch die anderen Gutachten als widerlegt angesehen. Das LSG hat damit ohne Rechtsirrtum bei diesem Sachverhalt festgestellt, daß vom 1. Mai 1955 an die Bemessung der Rente auf 40 v.H. gerechtfertigt war, wie es das SG unter Berücksichtigung des § 30 BVG angenommen hatte.

Auch soweit der Kläger den Entziehungsbescheid vom 22. April 1959 angreift, haben seine Rügen keinen Erfolg. Denn hier beruht die Schlußfolgerung des LSG, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse sei inzwischen eingetreten, eine Schilddrüsenfunktionsstörung bestehe nicht mehr, der Krankheitszustand habe sich weiterhin gebessert, das Gewicht liege über dem Durchschnitt, eine MdE durch Folgen des Wehrdienstes sei nicht mehr gegeben, auf dem ärztlichen Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. T... Also auch hier hat das LSG nicht medizinische Fragen selbst entschieden, sondern sich diesem ärztlichen Gutachten angeschlossen, dessen Wortlaut es in seinen Gründen wiedergegeben hat, und aus den gesamten Umständen folgt, daß das LSG der abweichenden Auskunft von Dr. M... keine Bedeutung beigemessen hat, der den Kläger nur einmal in der Sprechstunde gesehen hat. Das LSG hat sich daher im Rahmen seiner Befugnis gehalten, einander widersprechende Gutachten in ihrem Wert abzuwägen und sich der einen Ansicht anzuschließen.

Da somit keine durchgreifenden Revisionsrügen erhoben sind, ist der Senat an die Feststellung des LSG gebunden, daß vom 1. Juli 1959 an keine rentenberechtigende MdE mehr vorliegt.

Das LSG hat ferner zu Recht angenommen, daß die Vorschrift des § 62 Abs. 2 BVG gewahrt ist. Hiernach darf die Grundrente eines Beschädigten nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach der Zustellung des Feststellungsbescheides gemindert oder entzogen werden. Der ursprüngliche Bescheid vom 28. Februar 1955 war vom Kläger angefochten worden, das SG hat die Rente von 30 auf 40 v.H. erhöht. Damit ist an die Stelle des Bescheides das Urteil getreten, und bei einer etwaigen späteren Neufeststellung der Rente ist von dessen Inhalt als Vergleichsgrundlage auszugehen. Dieses Urteil ist nur vom Kläger, nicht aber von dem Beklagten angefochten worden, Nun hat schon das frühere Reichsversorgungsgericht in RVG 6, 78, 80 einem Bescheid, durch den im Spruchverfahren die Rente erhöht worden war, Bindungswirkung mit dem Zeitpunkt zugesprochen, in dem die Rekursfrist abgelaufen war, ohne daß die Versorgungsbehörde Rekurs eingelegt hatte. Dieser Grundsatz muß auch gelten, wenn beide Teile durch ein Urteil des SG beschwert sind und nur der Kläger Berufung einlegt. Denn der Beklagte hat durch Nichteinlegung des Rechtsmittels sowie durch seinen Ausführungsbescheid zu erkennen gegeben, daß er das Urteil hinnimmt. Dem Grundgedanken des § 62 Abs 2 BVG, der Versorgungsberechtigte müsse nach Zubilligung einer Grundrente zwei Jahre mit ihrem Bezug rechnen können, ehe eine Änderung erfolgen dürfe, ist Genüge geleistet, wenn der Beklagte mit einer Neufeststellung zwei Jahre von dem Zeitpunkt an wartet, in dem das Urteil für ihn durch Berufung nicht mehr anfechtbar ist. Der Kläger weiß hier, daß er in der Folgezeit mindestens zwei Jahre diese Rente behält; bei Erfolg seines Rechtsmittels verbessert sie sich höchstens. Der Senat hat auch geprüft, ob die Zweijahresfrist etwa von der Zustellung des Ausführungsbescheides an zu rechnen wäre. Er hat dies jedoch verneint, weil der Ausführungsbescheid, soweit er sich im Rahmen des Urteils hält, kein selbständiger Verwaltungsakt, sondern nur eine Folge des Urteils für den Beklagten ist und insoweit keine eigene rechtliche Bedeutung haben kann. Allerdings besteht für den Beklagten die Möglichkeit einer Anschlußberufung, die auch im sozialgerichtlichen Verfahren zulässig und an keine Frist gebunden ist (BSG 2, 229). Sofern er aber davon keinen Gebrauch macht und zwei Jahre vergangen sind, ist der Zustand nicht anders, als wenn die von dem Beklagten mindestens zu zahlende Rente bindend festgestellt ist und nach zwei Jahren neu geregelt wird. - Wollte man sich dagegen all diesen Überlegungen verschließen und die Zweijahresfrist erst mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Berufung des Klägers beginnen lassen, so hätte dies zur Folge, daß während der ganzen Dauer des schwebenden Rechtsmittelverfahrens und zwei Jahre nachher trotz wesentlicher Änderung der Verhältnisse keine Rentenherabsetzung oder -entziehung eintreten dürfte, ein Versorgungsberechtigter also unverhältnismäßig lange eine objektiv nicht gerechtfertigte Rente erhielte, wobei er die Bezugsdauer noch durch Verzögerung des Rechtsmittelverfahrens ausdehnen könnte. Dies kann nicht der Wille des Gesetzes sein. Eine vernünftige Auslegung des § 62 Abs. 2 BVG kann deshalb nur dahin erfolgen, daß die Zweijahresfrist mit dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, in dem die Rechtsmittelfrist für den Beklagten abgelaufen ist, ohne daß er das Rechtsmittel eingelegt hätte. Da hier bei Erlaß des Entziehungsbescheides vom 22. April 1959 die Berufungsfrist gegen das am 9. Mai 1956 zugestellte Urteil des SG Nürnberg bereits über zwei Jahre abgelaufen war, stand § 62 Abs. 2 BVG der Rentenentziehung nicht entgegen.

Nach allem ist die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 138

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