Leitsatz (redaktionell)

Die Erfüllung der Amtsermittlungspflicht, die sich auch auf die Voraussetzungen des ZPO § 227 erstreckt, ist eine Frage des Einzelfalls. Eine Bindung an bestimmte Beweismittel bei Ermittlung der Voraussetzungen des ZPO § 227 besteht nicht.

Der Mangel des Verfahrens wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Kläger von seinem Anspruch auf rechtliches Gehör schriftlich ausgiebig Gebrauch gemacht hat, denn die Beteiligten haben unabhängig von dem Umfang ihres schriftlichen Vortrags das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden.

Das rechtliche Gehör, das insbesondere in der mündlichen Verhandlung gewährt werden muß, dient nicht nur dem Interesse an der Aufklärung des Sachverhalts, sondern auch der Würde der Person der Beteiligten (vergleiche BVerfG 1958-02-13 1 BvR 56/57 = BVerfGE 7, 275, 278, 279; vergleiche BVerfG 1959-01-08 1 BvR 396/55 = BVerfGE 9, 89, 95).

Ist ein nach SGG § 126 ergangenes Urteil nicht im Anschluß an die mündliche Verhandlung verkündet worden und ist es zur Zeit des Eingangs einer ärztlichen Bescheinigung noch nicht wirksam, so muß geprüft werden, ob ein neuer Termin zur mündlichen Verhandlung anzusetzen ist.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 103 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 126 Fassung: 1958-06-25, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 227 Abs. 1 S. 1

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. Januar 1970 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger wendet sich dagegen, daß auf seine Ausgleichsrente die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der gesetzlichen Rentenversicherung sowie das Ruhegeld aus der zusätzlichen Altersversorgung für Arbeiter und Angestellte der Freien und Hansestadt Hamburg angerechnet und eine Überzahlung von angeblich 7.596,- DM eingezogen worden ist. Die Anrechnung ist durch die angefochtenen Bescheide vom 15. Oktober 1963, ergänzt durch den Bescheid vom 22. Dezember 1964 (Rente wegen Erwerbsunfähigkeit), und vom 29. September 1965 (Ruhegeld) erfolgt, wodurch zugleich der Kläger verpflichtet wurde, überzahlte Ausgleichsrente zurückzuzahlen. Diese Überzahlung ist der Beklagten von der Landesversicherungsanstalt H sowie von der Versorgungsstelle der Stadt H erstattet worden. Ferner erstrebt der Kläger die Erhöhung seiner Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 90 v.H. auf 100 v.H.. Schließlich begehrt er die Erhöhung und rückwirkende Gewährung des Berufsschadensausgleichs (ab 1. Juni 1960), der ihm durch Bescheid vom 21. September 1966 für die Zeit ab 1. Januar 1964 gewährt wird. Daß die Beklagte über die vom Kläger gegen die genannten Bescheide - ausgenommen den vom 22. Dezember 1964 - rechtzeitig eingelegten Widersprüche entschieden hätte, ist nicht ersichtlich.

Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat durch Urteil vom 28. Januar 1970, das nach Lage der Akten ergangen ist, die rechtzeitig eingelegten Berufungen des Klägers gegen die drei klageabweisenden Urteile des Sozialgerichts (SG) Hamburg vom 24. Oktober 1969 zurückgewiesen. Sachlich überprüft hat es die Frage der Anrechnung des sonstigen Einkommens durch die Bescheide vom 22. Dezember 1964 und vom 29. September 1965. Soweit sich der Kläger gegen die in dem Bescheid vom 22. Dezember 1964 enthaltene Neufeststellung der Ausgleichsrente wendet, hat das LSG die Berufung nach § 148 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als unzulässig verworfen. In dem gegen den Bescheid vom 15. Oktober 1963 gerichteten Verfahren hat es die Klage insbesondere mangels Widerspruchsverfahrens für unzulässig gehalten. Hinsichtlich des Antrags auf Erhöhung der MdE hat das LSG im Tatbestand festgestellt, daß dieser Anspruch früher bereits rechtskräftig abgewiesen worden sei. Zu diesem Anspruch und zu den weiteren Ansprüchen hat es außerdem ausgeführt: Der Kläger begehre nach dem Inhalt seiner Schriftsätze die Überprüfung aller seiner Versorgungsbezüge für die Vergangenheit im Zugunstenweg ohne Rücksicht darauf, ob über sie bereits richterlich entschieden worden sei oder nicht. Über diese Ansprüche, insbesondere auch über den Berufsschadensausgleich habe der Senat in diesem Verfahren nicht zu entscheiden, weil zunächst die Beklagte - sobald ihr die Akten des Klägers trotz der Vielzahl seiner Prozesse wieder zur Verfügung stünden - eine Überprüfung der beantragten Zugunstenregelung vornehmen und dem Kläger hierüber einen Bescheid erteilen müsse, gegen den die Klage vor dem SG zulässig sei.

Hinsichtlich der Entscheidung aufgrund der Aktenlage hat das LSG ausgeführt: Für die von dem Kläger beantragte Vertagung des zur Entscheidung reifen Rechtsstreits habe der Senat keine Veranlassung gesehen. Zwar habe der Kläger am Sitzungstage (28. Januar 1970) durch seine Ehefrau dem Gericht einen schriftlichen Vertagungsantrag aus Gesundheitsgründen, verbunden mit einer ärztlichen Bescheinigung vom 6. Dezember 1969 über die Ergebnisse einer Untersuchung des Klägers am 2. und 4. Dezember 1969 vorlegen lassen. Dieses Attest habe der Senat nicht als Entschuldigung für das Fernbleiben des Klägers im Termin vom 28. Januar 1970 angesehen, zumal die Ehefrau des Klägers dem Gericht im Termin erklärt habe, daß am Sitzungstage ärztliche Hilfe noch nicht in Anspruch genommen worden sei. Der Senat habe deshalb aufgrund der vom Beklagten beantragten Entscheidung nach Aktenlage den Rechtsstreit noch am Schluß der Sitzung am 28. Januar 1970 entschieden, zumal der Kläger von seinem Anspruch auf rechtliches Gehör schriftlich sehr ergiebig Gebrauch gemacht habe. Das erst nach der Entscheidung am 29. Januar 1970 bei Gericht eingegangene Attest der Hausärztin des Klägers habe deshalb bei der Entscheidung nicht mehr berücksichtigt werden können.

Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger ua. die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG). Die Ausführungen des LSG hätten nicht zur Ablehnung seines Vertagungsantrags ausgereicht. Dem Gericht sei aufgrund des Attestes vom 6. Dezember 1969 bekannt gewesen, daß der Kläger an Krampfanfällen leide. Außerdem habe seine Ehefrau vor Gericht ausgesagt, daß er in der letzten Nacht wieder einen schweren Krampfanfall erlitten habe. Die Beiziehung eines Arztes bei jedem Anfall sei nicht erforderlich, weil der Arzt allenfalls später die medikamentöse Einstellung ändern könne. Es müsse dem Gericht bekannt sein, daß ein solcher Anfall Nachwirkungen über zwölf bis vierundzwanzig Stunden habe, die die Teilnahme an einem Gerichtstermin unmöglich machten. Unabhängig von seinem schriftsätzlichen Vortrag habe er ein Recht auf Teilnahme an der mündlichen Verhandlung. Daß er auf dieses Recht Wert lege, habe er vor der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht. Hätte er an der mündlichen Verhandlung teilnehmen können, so hätte er dem Gericht sein Prozeßziel besser erläutern können. Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, spätestens bei Erlaß der Anrechnungsbescheide über den Berufsschadensausgleich und - weil er erwerbsunfähig sei - auch über die Erhöhung der MdE auf 100 v.H. zu entscheiden. Das Gericht habe auch als Folge der Versagung des rechtlichen Gehörs § 96 SGG verletzt, weil es den Bescheid vom 21. September 1966 über den Berufsschadensausgleich nicht geprüft habe. Dieser nach Klageerhebung ergangene Bescheid sei nämlich Gegenstand des Verfahrens geworden.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Hamburg vom 28. Januar 1970 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

II

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist - obwohl sie vom LSG nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen worden ist - nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt hat, der auch vorliegt.

Der wesentliche Verfahrensmangel liegt darin, daß der Antrag des Klägers auf Terminsänderung ohne zureichende Gründe abgelehnt und dadurch sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden ist (§ 62 SGG). Der Kläger hat in seinem Vertagungsantrag, den seine Ehefrau knapp drei Stunden vor dem festgesetzten Termin am 28. Januar 1970 überbrachte, angegeben, er habe einen Krampfanfall mit Verletzungsfolgen und großen Schmerzen erlitten und könne nicht zum Termin erscheinen. Zum Beweis dafür, daß er bisweilen an Krampfanfällen infolge seiner Kopfverletzung leide, hat er eine ärztliche Bescheinigung des Nervenarztes Prof. Dr. M vom 6. Dezember 1969 vorgelegt. Die Ehefrau des Klägers hat vor dem LSG angegeben, der Kläger habe auch in der letzten Nacht einen Anfall erlitten, aber keinen Arzt zugezogen. Das LSG hatte daraufhin zu prüfen, ob für die Terminsänderung ein erheblicher Grund im Sinne des § 227 Abs. 1 und 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) - der im sozialgerichtlichen Verfahren nach § 202 SGG entsprechend anwendbar ist - vorliege. Das LSG hat diese Frage mit dem Hinweis verneint, das Attest vom 6. Dezember 1969 könne nicht als Entschuldigung für das Fernbleiben des Klägers angesehen werden, zumal die Ehefrau des Klägers dem Gericht im Termin erklärt habe, daß am Sitzungstage ärztliche Hilfe noch nicht in Anspruch genommen worden sei. Diese Schlußfolgerung war nicht gerechtfertigt. Die Angaben des Klägers und seiner Ehefrau sowie das ärztliche Attest waren zumindest geeignet, ernstliche Zweifel daran zu wecken, ob der Kläger in der Lage war, zum Verhandlungstermin zu erscheinen, der Verhandlung zu folgen und sachgerechte Anträge zu stellen. Ob allein diese Zweifel ausgereicht hätten, einen erheblichen Grund für die Vertagung anzunehmen, brauchte hier nicht entschieden zu werden. Denn die vorliegenden Angaben waren derart, daß sich das LSG jedenfalls hätte gedrängt fühlen müssen nachzuforschen, wie der körperliche und geistige Zustand des Klägers zur Zeit tatsächlich war. Zur Erfüllung der Amtsermittlungspflicht, die sich auch auf die Voraussetzungen des § 227 ZPO erstreckt, genüge es nicht, die Ehefrau des Klägers darauf hinzuweisen, daß ein ärztliches Attest für die Verhinderung am 28. Januar 1970 fehle. Welcher Art die erforderlichen Ermittlungen hätten sein können, ist eine Frage des Einzelfalls. Eine Bindung an bestimmte Beweismittel bei Ermittlung der Voraussetzungen des § 227 ZPO besteht nicht. Möglicherweise hätte es genügt, die Ehefrau des Klägers darüber zu hören, wie der Krampfanfall in der letzten Nacht verlaufen war und welche Folgen der vorletzte Anfall hatte. Möglicherweise hätte auch von der Hausärztin des Klägers, die am selben Tage noch eine Bescheinigung über die tatsächliche Verhandlungsunfähigkeit des Klägers ausstellte und berichtete, daß der Kläger Ende Dezember 1969 infolge eines Krampfanfalls im Hause auf der Treppe gestürzt sei, eine fernmündliche Bestätigung über die Unfähigkeit des Klägers, zum Termin zu erscheinen und der mündlichen Verhandlung zu folgen, erlangt werden können.

Der Mangel des Verfahrens wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Kläger von seinem Anspruch auf rechtliches Gehör schriftlich ausgiebig Gebrauch gemacht hat. Denn die Beteiligten haben unabhängig von dem Umfang ihres schriftlichen Vortrags das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden (BSG in SozR SGG § 62 Nr. 16). Das ergibt sich aus der grundsätzlichen Notwendigkeit (§ 124 SGG) der mündlichen Verhandlung. Die Schriftsätze dienen regelmäßig nur der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung und machen diese grundsätzlich auch dann nicht entbehrlich, wenn der Sachverhalt genügend aufgeklärt ist. Das rechtliche Gehör, das insbesondere in der mündlichen Verhandlung gewährt werden muß, dient nicht nur dem Interesse an der Aufklärung des Sachverhalts, sondern auch der Würde der Person der Beteiligten (BVerfGE 7, 278, 279; 9, 95).

Das LSG hat über dies - was der Kläger allerdings nicht gerügt hat - die am Tage nach der mündlichen Verhandlung eingegangene ärztliche Bescheinigung nicht unbeachtet lassen dürfen. Denn das gemäß § 126 SGG ergangene Urteil ist nicht im Anschluß an die mündliche Verhandlung verkündet worden. Es ist vielmehr erst aufgrund der Verfügung vom 4. Februar 1970 zugestellt worden. Zur Zeit des Eingangs der ärztlichen Bescheinigung vom 28. Januar 1970 am 29. Januar 1970 war das Urteil somit noch nicht wirksam, so daß hätte geprüft werden müssen, ob ein neuer Termin zur mündlichen Verhandlung anzusetzen war.

Die weitere Rüge einer Verletzung des § 96 SGG greift nicht durch. Es ist weder dargetan noch sonst ersichtlich, daß der Bescheid über die Gewährung von Berufsschadensausgleich die angefochtenen Bescheide über die Anrechnung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und des Ruhegeldes auf die Ausgleichsrente "abändert oder ersetzt". Die Gewährung von Berufsschadensausgleich hätte zwar zur Folge haben können, daß die Verpflichtung des Klägers, überzahlte Ausgleichsrente zurückzuzahlen, im Wege der Verrechnung verringert worden wäre. Damit ist aber die Voraussetzung des § 96 SGG noch nicht erfüllt.

Da die gerügte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dazu führte, daß das angefochtene Urteil nicht aufgrund mündlicher Verhandlung in Anwesenheit des Klägers erging, beruht es auf diesem Verfahrensmangel. Demnach war das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit, da der Senat in der Sache nicht selbst entscheiden konnte, zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dabei wird das LSG auch zu klären haben, weshalb über die z. T. bis 1963 zurückreichenden Widersprüche (vgl. Vers.Akten Bl. 408) - soweit bisher nicht geschehen - bis heute noch nicht durch Widerspruchsbescheid entschieden worden ist und ob nicht vor Abschluß dieses Verfahrens nachgeholt werden sollte.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670454

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