Leitsatz (amtlich)

1. Eine Verfolgte, der in der Zeit vom 1933-01-30 bis 1945-05-08 Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen wegen Heirat erstattet worden sind (WGSVG § 7 S 1), hat dadurch - ohne daß ein konkreter Kausalzusammenhang zwischen der Verfolgung und der Beitragserstattung nachzuweisen ist - einen nach WGSVG §§ 7, 8 auszugleichenden Schaden in der Sozialversicherung erlitten. Erforderlich ist allerdings, daß sie schon im Zeitpunkt der Beitragserstattung zum Kreise der verfolgten Personen gehört hat.

2. WGSVG § 7 S 1 gilt auch für Beiträge, die zwar an einen nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden sind, die jedoch - wenn sie nicht erstattet worden wären - ein deutscher Träger der gesetzlichen Rentenversicherung bei Eintritt des Versicherungsfalles wie nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze entrichtete Beiträge zu behandeln hätte (FRG § 17 Abs 1 Buchst b). Dies trifft für die zu der früheren Danziger Rentenversicherung entrichteten Beiträge zu (Anschluß an BSG 1967-11-29 1 RA 143/65 = BSGE 27, 223).

3. Ein durch Beitragserstattung entstandener Schaden in der Sozialversicherung wird bei einer jetzt im Ausland lebenden Verfolgten nicht schon dadurch "wiedergutgemacht", daß ihr für die Zeit, für die die erstatteten Beiträge ursprünglich entrichtet worden waren, eine Beschäftigungszeit iS von FRG § 16 angerechnet wird. Auch für diese Zeit können daher Beiträge nach WGSVG § 8 nachentrichtet werden.

 

Normenkette

AVG § 98 Abs 2 S 1 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1319 Abs 2 S 1 Fassung: 1960-02-25; WGSVG § 1 Fassung: 1970-12-22, § 7 S 1 Fassung: 1970-12-22, § 8 Fassung: 1970-12-22; FRG § 16 Fassung: 1960-02-25, § 17 Abs 1 Buchst b Fassung: 1960-02-25; WGSVG § 10 Fassung: 1970-12-22

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 21.03.1979; Aktenzeichen L 2 An 41/77)

SG Berlin (Entscheidung vom 27.10.1977; Aktenzeichen S 20 An 1582/76)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin berechtigt ist, nach den §§ 8 und 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) Beiträge nachzuentrichten.

Die in Israel lebende Klägerin ist rassisch Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Sie war von 1927 bis 1938 in Danzig als Sekretärin beschäftigt. Von Februar 1930 bis Oktober 1938 sind Beiträge zur Angestelltenversicherung der Freien Stadt Danzig entrichtet worden, die nach der Heirat erstattet wurden. Ende 1939 floh die Klägerin ins Ausland. Die Beklagte erkannte die Zeit vom 1. August 1927 bis zum 31. Oktober 1938 als Beschäftigungszeit nach § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) und die Zeit vom 1. November 1938 bis zum 31. Dezember 1949 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) an.

Auf Antrag der Klägerin ließ die Beklagte die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG für die Zeit vom 1. Januar 1950 bis 31. Januar 1971 zu (Bescheid vom 14. August 1975).

Nach Klageerhebung gegen die Widerspruchsbescheide vom 2. August 1976 (mit denen zum einen der Widerspruch hinsichtlich einer Nachentrichtung nach § 8 WGSVG mangels Entscheidung durch Verwaltungsakt als unzulässig abgewiesen und zum anderen die weitere Nachentrichtung nach § 10 WGSVG mit der Begründung verneint wurde, daß diese für die als Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG anerkannten Zeiträume nicht möglich sei) erließ die Beklagte am 3. März 1977 einen weiteren Bescheid, mit dem sie aus dem zuletzt genannten Grund die Nachentrichtung nicht nur nach § 10 WGSVG, sondern auch nach § 8 WGSVG ablehnte. Der Widerspruch der Klägerin blieb wiederum erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 1977). Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1977). Die Berufung der Klägerin ist vom Landessozialgericht (LSG) Berlin zurückgewiesen worden (Urteil vom 21. März 1979). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Zwar sei die Nachentrichtung nach §§ 7 und 8 WGSVG für in Danzig zurückgelegte Zeiten grundsätzlich möglich, jedoch stünde dem entgegen, daß die Beklagte diese Zeiten - zu Recht - als Beschäftigungszeit nach § 16 FRG anerkannt habe. Auf die anerkannten Beschäftigungszeiten könne die Klägerin nicht verzichten. Im Rahmen der §§ 7 und 8 WGSVG stehe eine Beschäftigungszeit nach § 16 FRG einer Beitragszeit nach Bundesrecht oder § 15 FRG gleich. Es heiße in § 8 WGSVG zwar nur: "soweit diese Zeiten nicht bereits mit Beiträgen belegt sind", doch sei diese Bestimmung nicht auf tatsächlich entrichtete und noch vorhandene Beiträge beschränkt. Nach dem Sinn der Bestimmung und der gesetzlichen Systematik müßten Beschäftigungszeiten den Beitragszeiten gleichgestellt werden. Die Vergünstigung des § 16 FRG solle den Vertriebenen als Hilfe der Eingliederung zugute kommen. Der Wiedergutmachungszweck der §§ 7 und 8 WGSVG schließe die Anwendung der Vorschriften des FRG nicht aus. Den Verfolgten sei das Recht zur Weiterversicherung und Nachentrichtung von Beiträgen eingeräumt worden, um ihnen die Möglichkeit zu geben, Beitragslücken zu schließen oder die lange Wartezeit zu erfüllen. Die Beitragslücke wegen Heiratserstattung sei bei der Klägerin jedoch bereits durch die Regelung des § 16 FRG geschlossen. Auch wenn der Klägerin insoweit Rentenanteile wegen des Auslandsaufenthaltes nicht auszuzahlen seien, lasse die Gesetzessystematik erkennen, daß hinsichtlich der Anwendung des § 16 FRG Verfolgte nicht besser gestellt worden seien als andere Vertriebene.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision vertritt die Klägerin die Auffassung, daß nach § 82 Abs 7 AVG durch die Beitragserstattung weitere Ansprüche aus den bisher zurückgelegten Versicherungszeiten ausgeschlossen seien. Versicherungszeiten seien mehr als Beschäftigungszeiten. Wenn eine Heiratserstattung die Versicherungszeiten zunichte mache, dann müsse dies erst recht hinsichtlich der Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG gelten. Da somit Zeiten nach § 16 FRG nicht vorhanden seien, dürfe sie den Vorschriften des WGSVG gemäß Beiträge nachentrichten. Im übrigen habe sie auch die Erklärung abgegeben, auf die Berücksichtigung der Beschäftigungszeiten zu verzichten.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts und des

Sozialgerichts sowie den Bescheid der Beklagten

vom 3. März 1977 in der Gestalt des

Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 1977 aufzuheben,

den Bescheid vom 14. August 1975 in der Gestalt

des Widerspruchsbescheides vom 2. August 1976 zu

ändern und die Beklagte zu verpflichten, die

Nachentrichtung von Beiträgen zur Angestelltenversicherung

nach § 8 WGSVG für die Zeit vom 1. August 1927 bis zum

31. Oktober 1938 und nach § 10 WGSVG für die Zeit vom

1. Januar 1933 bis 31. Oktober 1938 zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die  Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist im wesentlichen begründet.

Die Klägerin ist entgegen der Auffassung der Vorinstanzen berechtigt, Beiträge zur Angestelltenversicherung nach § 8 WGSVG nachzuentrichten. Allerdings kann in diesem Verfahren nur über einen Anspruch auf Nachentrichtung für die Zeit vom 1. Januar 1934 bis 31. Oktober 1938 befunden werden. Über den Zeitraum vom 1. August 1927 bis 31. Dezember 1933 fehlt es dagegen an den formellen Voraussetzungen für eine Sachentscheidung, weil die Beklagte - dem damaligen Antrag der Klägerin entsprechend - mit dem nach § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) streitbefangenen Bescheid vom 3. März 1977 und dem Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 1977 nur über eine Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit vom 1. Januar 1934 bis 31. Oktober 1938 entschieden hat. Mangels eines Verwaltungsakts über den vorhergehenden Zeitraum ist deshalb insoweit die Anfechtungs- und Leistungsklage unzulässig und die Revision zurückzuweisen.

Da sich der Anspruch der Klägerin auf Nachentrichtung von Beiträgen nach dem WGSVG schon aus § 8 dieses Gesetzes ergibt, kommt daneben eine Nachentrichtung aufgrund des § 10 des Gesetzes nicht in Betracht. Von den beiden genannten Nachentrichtungsvorschriften geht § 8 WGSVG nach der Systematik des WGSVG als lex specialis der Vorschrift des § 10 WGSVG vor.

Nach § 8 Abs 1 Satz 1 WGSVG kann eine nach § 7 WGSVG zur Weiterversicherung Berechtigte auf Antrag Beiträge für Zeiten vor Vollendung des 65. und nach Vollendung des 16. Lebensjahres bis zum 1. Januar 1924 zurück nachentrichten, soweit diese Zeiten nicht bereits mit Beiträgen belegt oder als Ersatzzeiten anzurechnen sind. Zur Weiterversicherung nach § 7 WGSVG sind Verfolgte berechtigt, denen in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 Beiträge zu den gesetzlichen Rentenversicherungen wegen Heirat erstattet worden sind. Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen.

Für die früher in Danzig wohnhaft und dort beschäftigt gewesene Klägerin sind vom 1. Februar 1930 bis zum 31. Oktober 1938 Pflichtbeiträge zur Danziger Rentenversicherung entrichtet worden, die ihr nach der Heirat antragsgemäß nach § 43 des Danziger AVG erstattet worden sind. Wenn diese Beiträge nicht erstattet worden wären, so wären sie nach der Eingliederung Danzigs in das Deutsche Reich auf die deutsche Rentenversicherung übergegangen (VO vom 22. Januar 1940, RGBl I 260) und hätten dann von der Beklagten bei Eintritt des Versicherungsfalls wie nach den Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze entrichtete Beiträge behandelt werden müssen (§ 17 Abs 1 Buchst b FRG; BSGE 27, 223). Der Klägerin, die anscheinend staatenlos ist, hätte daher - abweichend von dem Grundsatz in § 94 Abs 1 Nr 1 AVG - auch im Falle eines freiwilligen gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland (hier: Israel) die Rente aus den genannten Danziger Zeiten gezahlt werden können (§ 100 Abs 1 iVm Abs 5 idF, die dieser Absatz - mit der Einbeziehung der Danziger Verfolgten - durch Art 2 § 2 Nr 2 WGSVG erhalten hat, vgl dazu die Begründung in der BT-Drucks 73/70, S 11, zu Art 2 Buchst a; vgl im übrigen § 100 Abs 2 AVG, der ebenfalls für die Klägerin als anerkannte Vertriebene in Betracht kommen könnte). Daß § 100 AVG inzwischen mit Wirkung vom 1. Juli 1977 aufgehoben worden ist (Gesetz vom 27. Juni 1977, BGBl I 1040), ändert hier an dem Ergebnis nichts, weil die genannte Vorschrift für die Klägerin, der schon seit 1971 und 1975 Rentenansprüche zustehen, auf Grund einer Übergangsvorschrift in Art 2 § 40a AnVNG weiter anwendbar gewesen wäre.

Hätte die Klägerin also, wenn ihr die früher zur Danziger Rentenversicherung entrichteten Beiträge nicht erstattet worden wären, heute trotz ihres Auslandswohnsitzes daraus Rentenleistungen erhalten können, dann ist ihr durch die Erstattung der Beiträge ein "Schaden in der Sozialversicherung" (§ 1 Abs 1 WGSVG) entstanden, und zwar auch dann, wenn ihr - entsprechend der ständigen, trotz gewisser Bedenken auch vom 12. Senat gebilligten Rechtsprechung des BSG (BSGE 40, 292) - für die Zeit der Danziger Beschäftigung (trotz Erstattung der dafür entrichteten Beiträge) nach § 16 FRG eine einer Beitragszeit gleichgestellte Beschäftigungszeit anzurechnen ist. Denn aus einer solchen Zeit wird eine Rente in das Ausland selbst bei deutschen Versicherten nicht gezahlt (§ 98 Abs 2 Satz 1 AVG). Dieser Schaden, der auf der Erstattung der früher entrichteten Beiträge beruht, ist der Klägerin auch "durch die Verfolgung" (§ 1 Abs 1 WGSVG) entstanden, weil die Beitragserstattung ohne Prüfung ihrer Gründe - insofern also anders als die Unterbrechung oder Beendigung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung "aus Verfolgungsgründen" (§ 9 Abs 1 WGSVG) - ohne weiteres als verfolgungsbedingt anzusehen ist (vgl die Begründung zu Art X des BEG-Schlußgesetzes vom 14. September 1965, dem § 7 WGSVG inhaltlich entspricht, BT-Drucks IV/3423, S 25 zu Art IX a). Dabei wird allerdings vorausgesetzt, daß nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen iS des § 2 BEG auch schon vor der Eingliederung Danzigs in das Deutsche Reich stattgefunden haben können. Diese Möglichkeit wird indessen in der Rechtsprechung und im Schrifttum allgemein anerkannt (vgl BGH in RzW 60, 452; Blessin-Ehrig-Wilden, Kommentar zum BEG, 3. Aufl, § 2 RdNr 17). Dem entspricht die versicherungsrechtliche Gleichstellung der zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 1. September 1939 aus Danzig aus Verfolgungsgründen ausgewanderten Personen mit den aus dem Gebiet des Deutschen Reichs ausgewanderten (vgl die Begründung zu Art 2 WGSVG, BT-Druck 73/70, S 11 zu Art 2 Buchst a).

Ist der Klägerin somit - trotz Anrechnung einer Beschäftigungszeit nach § 16 FRG für die Zeit ihrer Beschäftigung in Danzig - durch die Erstattung der für diese Beschäftigung entrichteten Beiträge ein verfolgungsbedingter Schaden entstanden, nämlich insofern, als ihr aus der Beschäftigungszeit nach § 16 FRG keine Rente in das Ausland gezahlt wird, während dies aus den erstatteten Beiträgen möglich gewesen wäre, so muß ihr für diesen Schaden entsprechend dem Zweck des WGSVG "Wiedergutmachung" gewährt werden. Diese besteht hier in der Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen für die fragliche Zeit nach § 8 WGSVG. Auch der Wortlaut dieser Vorschrift hindert ihre Anwendung im Falle der Klägerin nicht, da die streitige Zeit "nicht bereits mit Beiträgen belegt oder als Ersatzzeit anzurechnen ist" (Abs 1 Satz 1). Denn eine Beschäftigung, die nach § 16 FRG einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung, für die Beiträge entrichtet sind, nur "gleichsteht", ist keine "mit Beiträgen belegte" Zeit iS des § 8 Abs 1 Satz 1 WGSVG. Die Unterscheidung zwischen einer mit Beiträgen belegten und einer nur gleichstehenden Zeit rechtfertigt sich schon daraus, daß die Rechtswirkungen beider Zeiten, insbesondere was die Auszahlung der auf sie entfallenden Rente ins Ausland betrifft, unterschiedlich sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656520

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