Leitsatz (redaktionell)

Nicht nur dem Radfahrer (vergleiche BSG 1960-04-06 2 RU 247/56 = SozR Nr 21 zu § 543 RVO aF) und dem Kraftfahrer, auch dem Fußgänger muß zugestanden werden, daß er den direkteren Wegstrecken einen anderen Weg vorzieht, weil dieser von seinem Gesichtspunkt aus erhebliche Vorteile bietet.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. August 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

In dieser Sache ist streitig, ob der Kläger im Zeitpunkt eines Unfalls vom 29. Januar 1962 unter Versicherungsschutz stand.

Der Kläger ist am 29. Januar 1962 kurz vor 7.00 Uhr auf dem Wege zu seiner Arbeitsstätte, auf der er um 7.30 Uhr den Dienst zu beginnen hatte, im M.-park in H. in Höhe des Landesmuseums ausgerutscht und hat sich eine Luxationsfraktur der rechten Knöchelgabel zugezogen, deren Behandlung bis zum Ende des Jahres 1962 noch nicht abgeschlossen war.

Aus dem angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ergeben sich hierzu folgende Feststellungen:

Der Kläger wohnt in H., S.-straße und ist als Versicherungsinspektor bei der L. B.-kasse in H., S.-damm, beschäftigt. Den Weg zur Arbeitsstelle legte er regelmäßig zu Fuß zurück. Er ging zunächst die G.-straße entlang zum M., dann in den Anlagen am M. entlang und schließlich durch die Straße A. M.-park in Richtung zum A.-T.-P.. Dieser Weg ist etwa 2,5 km lang und kann von einem Fußgänger in rund 30 Minuten zurückgelegt werden. Der kürzeste Weg hätte über die S.-straße geführt. Er ist etwa 1,5 km lang und kann in rund 20 Minuten zurückgelegt werden. Nicht wesentlich länger ist der Weg über die G.-straße und die H. Straße.

Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche durch Bescheid vorn 24. April 1962 ab und führte zur Begründung u.a. folgendes aus: Bei dem nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF unter Versicherungsschutz stehenden Weg handele es sich in der Regel um den kürzesten direkten Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung, jedoch bleibe dem Versicherten überlassen, in Fällen, in denen mehrere Möglichkeiten gegeben seien, nach Belieben eine von diesen Möglichkeiten zu wählen, auch wenn es sich dabei um den längeren der zur Wahl stehenden Wege handele. Der Versicherungsschutz hänge davon ab, ob das betreffende Wegstück nach der gewöhnlichen Auffassung des Lebens ein Teil der gesamten Wegstrecke sei, die zwei örtliche Punktemiteinander verbinde, wobei alle nach der allgemeinen Verkehrsanschauung maßgeblichen Umstände in Betracht zu ziehen seien, insbesondere das gewählte Verkehrsmittel und die sich hieraus ergebende Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit, einen bestimmten Weg zu wählen. Ein Umweg stehe aber dann nicht unter Versicherungsschutz, wenn nach den gesamten Umständen der benutzte Weg offensichtlich nach der allgemeinen Verkehrsanschauung nicht mehr dem zu benutzenden Weg entspreche oder die gewählte Strecke von vornherein wesentlich größer sei. Im vorliegenden Fall hätten mehrere Möglichkeiten bestanden, zum S.-damm zu gelangen. Nach der allgemein üblichen Auffassung von einer zielbewußten kontinuierlichen Fortbewegung in Richtung auf die Arbeitsstätte ergebe sich jedoch nicht die Notwendigkeit oder auch nur die Zweckmäßigkeit, die Unfallstelle am M.-park zu passieren. Der Weg habe deshalb nicht in einem wesentlichen unmittelbaren Zusammenhang mit der Erreichung der Arbeitsstätte gestanden, sondern fast ausschließlich der Verfolgung eigenwirtschaftlicher Zwecke gedient.

Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung u.a. darauf hingewiesen, daß er den schon seit Jahren benutzten Weg gewählt habe, um die verkehrsreichen Straßen wegen erhöhter Gefahr zu meiden. Der Weg sei besonders verkehrsarm und führe durch Grünanlagen, was für einen im Büro Arbeitenden zur Erhaltung der Gesundheit von besonderer Wichtigkeit sei.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 20. September 1962 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger "aus dem Arbeitsunfall vom 29. Januar 1962 zu entschädigen".

Zur Begründung hat das SG u.a. ausgeführt: Es sei richtig, daß der Kläger auch kürzere Wege hätte wählen können, z.B. über die S.-straße oder über die B.-A.-straße. Das hätte eine Wegstrecke von 1,4 bis 1,5 km ergeben. Er habe stattdessen den 2,5 km langen Weg am M. und M.-park entlang gewählt. Ob der Weg als eine zweckmäßige und damit geschützte Verbindung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu werten sei, sei nach der Verkehrsanschauung zu beurteilen. Außer der Länge des Weges seien u.a. die Art der Fortbewegung, die Art des Weges und die mit ihm verbundenen Gefahrenmaßgeblich. Bei einem Fußgänger seien andere Maßstäbe als bei einem Auto- oder Radfahrer anzulegen. Wenn ein ausgesprochener Fußgängerweg zur Verfügung stehe, so sei es zweckmäßig, daß er benutzt werde, selbst wenn sich der Weg dadurch verlängere. Der Weg sei nur dann nicht mehr ein Weg zur Arbeit, wenn er viel länger sei als nähere Wege, daß seine Benutzung den Charakter eines Spazierganges annehme. Im vorliegenden Falle biete sich der Fußgängerweg am M. und M.-park entlang als zweckmäßiger Weg an, obwohl er 10 Minuten mehr Zeit in Anspruch nehme, als der Weg durch die Straßen der Südstadt.

Gegen das Urteil hat die Beklagte Berufung beim LSG Niedersachsen eingelegt. Zur Begründung hat die Beklagte (unter Bezugnahme auf BSG 4, 224) u.a. ausgeführt: Ausnahmetatbestände könnten vorwiegend bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel gegeben sein, weil sich deren Fahrtstrecke oftmals nicht mit dem direkten Weg decke, die Arbeitsstätte aber trotzdem möglichst schnell und sicher erreicht werde. Das könne nicht für Fußgänger gelten, Es handele sich um einen Umweg, der fast die doppelte Länge des direkten Weges betragen habe und der Kläger sei auf ihm auch nicht in geringerem Maße den Gefahren des Großstadtverkehrs ausgesetzt gewesen.

Das LSG hat durch Urteil vom 22. August 1963 die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen.

Zur Begründung hat das LSG u.a. ausgeführt: Auch für den Fußgänger sei ein bestimmter Weg nicht vorzuschreiben. Der Kläger sei auf dem gewählten Weg zumindest nicht größeren Gefahren ausgesetzt gewesen, als auf einem kürzeren Weg. Das gefährlichste Stück am A.-T.-P. hätte er immer überwinden müssen. Der kürzere Weg wäre über die S.-straße oder die G.-straße gewesen. Das stelle den Versicherungsschutz nur in Frage, wenn für die Wahl des längeren Weges andere Gründe maßgebend gewesen seien, als die Absicht, die Arbeitsstätte zu erreichen (BSG 4, 216 SozR RVO § 543 Nr. 21). In SozR RVO § 543 Nr. 34 habe das BSG ausgeführt, daß ein Umweg, der fast doppelt so lang sei wie die kürzeste Verbindung, erheblich sei. Hiernach könne der Versicherungsschutz des Klägers in Frage gestellt sein. Die Länge des Weges dürfe aber nicht mit dem Metermaß oder der Stoppuhr gemessen werden. Bei einem Fußgänger sei ein Umweg, der nur 1 km länger sei als der kürzestes Weg von 1,5 km und für den er statt knapp 20 Minuten etwa 30 Minuten brauche, nicht erheblich. Selbst ein erheblicher Umweg könne aber versichert sein, wenn er wesentlich der Zurücklegung des Weges nach der Arbeitsstätte und nicht privaten Zwecken diene. Ein privater Grund könne nur darin gefunden werden, daß der Kläger bestrebt gewesen sei, den gesundheitsschädigenden Beeinträchtigungen durch den Groß Stadtverkehr möglichst auszuweichen. Es könne aber nicht davon die Rede sein, daß er den Weg nur gewählt habe, um durch einen Morgenspaziergang Erholung zu suchen, denn der Weg sollte, wie sich schon aus dem zeitlichen Zusammenhang ergebe, unmittelbar zur Arbeitsstätte führen. Der Kläger habe für die Wahl gewichtige Gründe angeführt, die, obgleich sie vom subjektiven Empfinden des Klägers bestimmt seien, anerkannt werden müßten. Die von der Beklagten bezeichneten Wege über die S.-straße oder die G.-straße hätten durch dicht bebaute Straßenzeilen geführt, in denen gerade um diese Zeit nicht nur reger Anlieger-, sondern auch starker Durchgangsverkehr herrsche, so daß Belästigungen durch Lärm und Auspuffgase nicht ausblieben. Ähnlich verhalte es sich, wenn der Kläger den Weg über die G.straße und die H.Straße gewählt hätte. Denn einem Fußgänger, der täglich den Weg von der Südstadt zur Stadtmitte zurücklege, biete sich der Fußgängerweg am M.-park und M. entlang als zweckmäßig an. Hier sei der Fußgänger auf einem längeren Teilstück weder den Einwirkungen des Kraftverkehrs noch dem Großstadtlärm ausgesetzt. Die unmittelbare Gefährdung durch andere Verkehrsteilnehmer sei auf der gesamten Wegstrecke nicht größer, als wenn ein kürzerer Weg gewählt würde.

Die Beklagte hat den Empfang dieses Urteils unter dem 3. Oktober 1963 bestätigt und am 15. Oktober 1963 durch ein Telegramm und am 30. Oktober 1963 durch einen Schriftsatz Revision eingelegt. Sie beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage gegen den Ablehnungsbescheid vom 24. April 1962 abzuweisen.

Hilfsweise beantragt sie,

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Sie vertritt mit ausführlicher Begründung u.a. die Auffassung: Der Kläger habe beim Verlassen seiner Wohnung nicht so sehr seiner Arbeitsstätte zugestrebt als dem M. und M.-park. Er wollte den Weg, den er zur Erreichung der Arbeitsstätte nach Norden hätte gehen müssen, dazu benutzen, um zunächst einmal im Südwesten und Westen seiner Wohnung eine erholsame Landschaft zu durchwandern. Die Gestaltung des Weges sei nicht entscheidend durch die Absicht veranlaßt, um 7.30 Uhr auf der Arbeitsstätte seine Tätigkeit zu beginnen, dem Kläger sei es vielmehr nur darauf angekommen, sich zunächst um 7.00 Uhr der Schönheit des Ufers des M. und des M.-parks zu erfreuen und dort noch einen schönen Spaziergang vorzunehmen. Die Zeitdifferenz von 10 Minuten erscheine zwar im ersten Augenblick als unbeachtlich, in Wirklichkeit aber sei der gewählte Weg fast doppelt so lang wie einer der kürzeren Wege. Die Erwägung, daß auf den anderen Wegen eine Belästigung durch Lärm und Auspuffgase gegeben sei, treffe fast für jede Straße in einer Großstadt zu. Außerdem sei der Kläger zumindest auf dem verhältnismäßig langen Weg durch die Geibelstraße einer solchen Belästigung gleichfalls ausgesetzt gewesen.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Die Revision wendet sich dagegen, daß das LSG den gesamten Weg, dem der Kläger morgens zur Arbeitsstätte zurückzulegen pflegte, trotz des "Umwegs" über die Gegend am M. als einen mit der versicherten Tätigkeiten des Klägers "zusammenhängenden" Weg nach der Arbeitsstätte (§ 543 RVO aF anerkannt hat.

Dabei verkennt die Revision wohl nicht, daß zwischen dem Zurücklegen dieses Weges und der versicherten Tätigkeit an der Arbeitsstätte insofern ein ursächlicher Zusammenhang bestand, als die Arbeitsstätte von Anfang an das alleinige Endziel des Weges war. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG enthält die Wegstrecke auch keine Örtlich abgrenzbaren Teile, die nicht auch zu dem Zweck zurückgelegt wurden, den Kläger zur Arbeitsstätte zu bringen. Das Vorbringen der Revision ist vielmehr nach der Auffassung des erkennenden Senats unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob die Gründe für die Wahl des Weges dessen Charakter so bedeutsam beeinflußt haben, daß der durch das Endziel des Weges und den Zeitpunkt des Eintreffens am Endziel auf jeden Fall gegebene ursächliche Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund gedrängt wird und deshalb der gesamte Weg - wie die Revision wohl meint: als Spaziergang - dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen ist.

Das hat der erkennende Senat - im Ergebnis in Übereinstimmung mit dem LSG - verneint.

Nicht nur für den Radfahrer (vgl. z.B. SozR Nr. 21 zu § 543 aF RVO) und den Kraftfahrer kann es zweckmäßig sein, eine längere Wegstrecke zu wählen, weil diese z.B. eine bessere Fahrdecke hat oder infolge einer günstigeren Verkehrsregelung ein schnelleres oder auch nur leichteres Vorwärtskommen ermöglicht. Auch dem Fußgänger muß zugestanden werden, daß er den direkteren Wegstrecken einen anderen Weg vorzieht, weil dieser von seinem Gesichtspunkt aus erhebliche Vorteile bietet. Im vorliegenden Fall hatte der Kläger - nach den von der Revision nicht mit wirksamen Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG (vgl. § 163 SGG) die von ihm regelmäßig zurückgelegte längere Wegstrecke deshalb gewählt, weil er auf einem langen Teilstück dieser Wegstrecke nicht den Belästigungen durch Auspuffgase und Lärm des Großstadtverkehrs ausgesetzt war.

Diese Gründe für die Wahl des Weges beruhen zwar auf persönliche Neigungen und Wünschen des Klägers. Sie sind jedoch nicht auf die Erreichung eines Zweckes ausgerichtet, der mit dem Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte in keinem Zusammenhang steht, wie das z.B. der Fall sein würde, wenn ein "Umweg" gemacht wird um ein Postamt oder ein Ladengeschäft aufzusuchen. Die Wahl des Weges sollte vielmehr nur dessen Gestaltung unmittelbar beeinflussen und es dem Kläger ermöglichen, den Weg zur Arbeit auf einer - vom Standpunkt des Fußgängers aus - möglichst störungsfreien und zweckmäßigen Strecke zurückzulegen. Für die Wahl der Wegstrecke waren auch Umstände von Bedeutung, die mit der versicherten Tätigkeit des Klägers unmittelbar in Zusammenhang stehen, wie die Lage der Arbeitsstätte im Verhältnis zur Lage der Wohnung und die Gestaltung der dazwischenliegenden Stadtviertel. Deshalb können nach der Auffassung des erkennenden Senats die Beweggründe für die Wahl des Weges im vorliegenden Fall nicht ausschließlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zugerechnet werden. Der Senat bestimmt auch im Ergebnis mit dem LSG darin überein, daß die Verlängerung des Weges gegenüber den unmittelbar zur Arbeitsstätte führenden Wegstrecken nicht ausreicht, um den, wie dargelegt, gegebenen ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als rechtlich unwesentlich ansehen zu können.

Das LSG ist somit ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gelangt, daß der Kläger in dem Zeitpunkt des Unfalls vom 29. Januar 1962 nach § 543 i.V.m. § 542 RVO aF unter Versicherungsschutz stand.

Die Revision ist unbegründet und war zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SCG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2000633

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