Leitsatz (amtlich)

Die Mitwirkung von 2 Hilfsrichtern im Senat eines Landessozialgerichts ist auch dann unzulässig, wenn es zu dieser Besetzung nur deshalb gekommen ist, weil einmal der Landessozialgerichtsrat, der neben dem Vorsitzenden einer der beiden "weiteren Berufsrichter" gewesen ist, in dieser Sitzung nach dem Geschäftsverteilungsplan den ständigen Vorsitzenden des Senats im Vorsitz vertreten hat und seinerseits nach dem Geschäftsverteilungsplan von einem Sozialgerichtsrat eines anderen Senats vertreten worden ist und weil außerdem der zweite weitere Berufsrichter stets ein Sozialgerichtsrat gewesen ist.

 

Normenkette

SGG § 33 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 12. Juni 1958 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger erhielt wegen verschiedener Leiden, die er auf den Wehrdienst im ersten Weltkrieg zurückführte, nach seinen Angaben bis Januar 1945 vom Versorgungsamt (VersorgA) G Versorgungsbezüge; wegen derselben Leiden gewährte ihm das VersorgA B durch Bescheid vom 4. Januar 1946 weiterhin Versorgung. Nach Inkrafttreten der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 bewilligte die Landesversicherungsanstalt Braunschweig - Abt. Beschädigtenversorgung - im wesentlichen wegen derselben Leiden durch Bescheid vom 30. Juli 1948 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. vom 1. Juli 1948 an. Der Kläger legte Einspruch ein, er begehrte zusätzlich die Anerkennung eines chronischen Bronchialkatarrhs und eines Herzleidens und Rente nach einer MdE um 70 v.H. Der Einspruch wurde vom Beschwerdeausschuß am 16. März 1949 zurückgewiesen, die Klage wies das Sozialgericht (SG) Braunschweig durch Urteil vom 8. November 1955 ab. Die Berufung des Klägers wurde vom Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 12. Juni 1958 zurückgewiesen. An der Entscheidung des LSG wirkten Landessozialgerichtsrat K als Vorsitzender, Sozialgerichtsrat Dr. P und Sozialgerichtsrat K als weitere Berufsrichter sowie zwei Landessozialrichter als Beisitzer mit. Die Revision wurde nicht zugelassen. Das Urteil wurde dem Kläger am 27. Juni 1958 zugestellt. Am 8. Juli 1958 beantragte der Kläger unter Vorlage eines Armenrechtszeugnisses das Armenrecht für das Revisionsverfahren. Durch Beschluß vom 13. Oktober 1959 wurde das Armenrecht bewilligt und ein Rechtsanwalt als Armenanwalt bestellt. Dieser Beschluß wurde dem Kläger am 17. Oktober 1959 zugestellt. Am 17. November 1959 legte der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten Revision ein, er beantragte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Zugleich beantragte er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Revisions- und Revisionsbegründungsfrist.

Zur Begründung der Revision trug der Kläger vor, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel, das LSG sei am 12. Juni 1958 nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen; bei der Entscheidung hätten zwei Hilfsrichter mitgewirkt, das LSG habe damit gegen die §§ 32, 33, 37 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 27 Abs. 3, 11 Abs. 3 SGG verstoßen. Der zuständige Senat des LSG, ein Zeitsenat, sei seit 1. Oktober 1957 stets mit einem Landessozialgerichtsrat als Vorsitzenden und mit einem Landessozialgerichtsrat und einem Sozialgerichtsrat als weiteren Berufsrichtern besetzt gewesen; der Sozialgerichtsrat als Hilfsrichter habe nicht etwa ein anderes ordentliches Mitglied des Senats vertreten; schon dies sei unzulässig gewesen. Jedenfalls sei die Besetzung am 12.Juni 1958 aber deshalb vorschriftswidrig gewesen, weil damals zwei Hilfsrichter mitgewirkt haben. Es sei unerheblich, daß es zu dieser Besetzung, wie der Präsident des LSG mitgeteilt habe, nur deshalb gekommen sei, weil der ordentliche Vorsitzende des Senats, Landessozialgerichtsrat Dr. I, am 12. Juni 1958 am Vorsitz verhindert gewesen und nach dem Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 1958 durch Landessozialgerichtsrat K im Vorsitz vertreten worden sei und weil nach dem Geschäftsverteilungsplan an die Stelle von Landessozialgerichtsrat K Sozialgerichtsrat Dr. P getreten sei. Im Geschäftsverteilungsplan habe jedenfalls darauf Bedacht genommen werden müssen, daß in Senaten, in denen nach dem Geschäftsverteilungsplan ohnehin einer der "weiteren Berufsrichter" ein Sozialgerichtsrat als Hilfsrichter gewesen sei, als Vertreter des Landessozialgerichtsrats, der der andere "weitere Berufsrichter" gewesen sei, nicht ebenfalls ein Hilfsrichter bestimmt werde. Die Revision sei wegen dieses Verfahrensmangels statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; sie sei auch begründet. Es sei nicht ausgeschlossen, daß das LSG, wenn es vorschriftsmäßig besetzt gewesen wäre, anders entschieden hätte.

Der Beklagte stellte keinen Antrag.

Der Senat hat eine Äußerung des Präsidenten des LSG Niedersachsen vom 14. Juli 1959 und die jeweiligen Geschäftsverteilungspläne nach dem Stand vom 1. Januar 1957 bis 1. Januar 1959 beigezogen, die den Beteiligten mitgeteilt worden sind.

II

1. Die Revision ist nach Ablauf der Revisionsfrist und der Revisionsbegründungsfrist eingelegt und begründet worden. Die Revisionsfrist ist am 28. Juli 1958 (der 27. Juli 1958 war ein Sonntag), die Revisionsbegründungsfrist am 27. August 1958 abgelaufen (§ 164 Abs. 1 Satz 1 SGG; BSG SozR Nr. 32 zu § 164 SGG). Der Kläger hat vor Ablauf der Revisionsfrist das Armenrecht für das Revisionsverfahren beantragt, der Beschluß über die Bewilligung des Armenrechts ist dem Kläger am 17. Oktober 1959 zugestellt worden. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Kläger durch seine Armut, also ohne sein Verschulden verhindert gewesen, die gesetzlichen Verfahrensfristen einzuhalten. Die versäumten Rechtshandlungen, nämlich die Revision und die Revisionsbegründung, hat der Kläger zugleich mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtzeitig nachgeholt (§ 67 Abs. 2 SGG). Auf seinen Antrag ist dem Kläger daher die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 Abs. 1 SGG).

2. Die Revision ist statthaft, nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel. Der zuständige (13.) Senat des LSG, der bis Anfang August 1958 ein Zeitsenat gewesen ist, ist nach dem Geschäftsverteilungsplan vom 1. Oktober 1957 an besetzt gewesen mit einem Landessozialgerichtsrat als Vorsitzendem (§ 210 Abs. 2 SGG) und mit einem Landessozialgerichtsrat und einem Sozialgerichtsrat, der als Hilfsrichter beim LSG bestellt worden ist (§§ 32 Abs. 2, 11 Abs. 3 SGG; § 10 Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes), als "weiteren Berufsrichtern". Diese Besetzung ist auch für die Sitzung am 12. Juni 1958, bei der noch zwei Landessozialrichter als ehrenamtliche Beisitzer mitgewirkt haben, maßgebend gewesen. Es kann dahingestellt bleiben, ob bis zum Inkrafttreten des Dritten Gesetzes zur Änderung des SGG vom 16. Mai 1960 (BGBl. I S. 305) ein Zeitsenat (§ 210 SGG) bei einem LSG ordnungsmäßig besetzt gewesen ist, wenn der eine der beiden weiteren Berufsrichter über einen längeren Zeitraum ein Sozialgerichtsrat als Hilfsrichter gewesen ist. Der 13. Senat des LSG Niedersachsen ist am 12. Juni 1958 nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) jedenfalls deshalb nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, weil an dieser Sitzung zwei Sozialgerichtsräte als Hilfsrichter mitgewirkt haben (vgl. BSG 9 S. 137 ff.; Beschlüsse des BSG vom 15.9.1959 - 8 RV 301/59; vom 22.1.1960 - 11/8 RV 239/57; Urteile des BSG vom 23.3.1960 - 1 RA 143/59 und 1 RA 48/60 und vom 3.11.1959, BSG 11 S. 22 ff. und 9 RV 296/56; BSG SozR Nr. 4 zu § 33 SGG). Wie in diesen Entscheidungen ausgeführt ist, ist die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Senat eines LSG nicht zulässig, weil dadurch die Einheitlichkeit und Güte der Rechtsprechung, vor allem aber der Grundsatz der Unabhängigkeit der Rechtspflege von Politik und Verwaltung gefährdet wird. Hilfsrichter sind mit der Rechtsprechung des höheren Gerichts, an das sie abgeordnet sind, in der Regel nicht so vertraut wie die ständigen Berufsrichter dieses Gerichts, sie sind vor allem nicht in gleichem Maße unabhängig wie die planmäßigen Richter; die Hilfsrichter müssen, da sie nur zum LSG abgeordnet sind, jederzeit mit dem Widerruf ihrer Abordnung rechnen; es ist nicht auszuschließen, daß dies ihre richterliche Meinungsbildung beeinflußt. Deshalb verbietet der Gedanke des Rechtsstaats, zu dessen besonderen Ausprägungen die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit und die strengen Vorschriften der Gerichtsverfassung über die Besetzung der Spruchkörper gehören, jedenfalls die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern im Senat eines LSG (vgl. BSG a.a.O. mit weiteren Hinweisen). Die Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern ist in jedem Falle unzulässig. Es kommt deshalb nicht darauf an, daß in der Sitzung am 12. Juni 1958 nur deshalb zwei Sozialgerichtsräte als Hilfsrichter mitgewirkt haben, weil einmal der Landessozialgerichtsrat, der neben dem Vorsitzenden einer der beiden "weiteren Berufsrichter" gewesen ist, in dieser Sitzung nach dem Geschäftsverteilungsplan den ständigen Vorsitzenden des Senats im Vorsitz vertreten hat und seinerseits nach dem Geschäftsverteilungsplan von einem Sozialgerichtsrat, der Hilfsrichter in einem anderen Senat gewesen ist, vertreten worden ist und weil außerdem der zweite weitere Berufsrichter stets ein Sozialgerichtsrat gewesen ist. Da gegen die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern rechtsstaatliche Bedenken bestehen, kommt es insoweit nicht darauf an, wie lange die Abordnung der Hilfsrichter zum LSG gedauert hat (BSG 11 S. 24), es kommt aber auch nicht darauf an, ob es zu der gleichzeitigen Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern nach dem Geschäftsverteilungsplan nur ausnahmsweise hat kommen können, weil eine Vertretung des dem Senat als "weiterer Berufsrichter" angehörenden Landessozialgerichtsrats notwendig geworden ist. Die Einheitlichkeit und Güte der Rechtsprechung und die Unabhängigkeit der Richter müssen in jedem Falle, über den der betreffende Spruchkörper zu entscheiden hat, gewährleistet sein. Sie können auch in jedem Falle gewährleistet werden, wenn im Geschäftsverteilungsplan dafür Sorge getragen ist, daß jedenfalls der Landessozialgerichtsrat, der dem Senat des LSG als "weiterer Berufsrichter" angehört, nicht durch einen Sozialgerichtsrat, der Hilfsrichter beim LSG ist, vertreten wird, sondern durch einen anderen Landessozialgerichtsrat. Wenn dies im Geschäftsverteilungsplan des LSG nicht beachtet worden ist, ist der Geschäftsverteilungsplan insoweit gesetzwidrig und die Besetzung des Senats in der Sitzung am 12. Juni 1958 nicht vorschriftsmäßig gewesen (vgl. BSG 9 S. 153 ff. und 10 S. 195 ff.). Das LSG hat sonach gegen § 33 SGG verstoßen; der Kläger hat dies gerügt. Die Revision ist damit statthaft; sie ist auch in gehöriger Form und Frist eingelegt und begründet worden und sonach zulässig.

3. Die Revision ist auch begründet; das Urteil des LSG beruht auf der Verletzung von § 33 SGG; es ist möglich, daß das LSG, wenn es ordnungsmäßig besetzt ist, zu anderen Feststellungen und zu anderen Schlußfolgerungen kommt; das Urteil des LSG ist daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst nicht entscheiden, die Feststellungen des LSG sind nicht in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise zustande gekommen und deshalb für das BSG nicht bindend (§ 163 SGG). Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2325781

BSGE, 298

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