Leitsatz (amtlich)

Halbversicherten Handwerkern, die erst nach der Vollendung des 50. Lebensjahrs von der halben zur vollen Beitragsleistung übergegangen sind, steht nach dem bis zum 1956-12-31 gültig gewesenen Recht auch dann nur der halbe Grundbetrag aus der Angestelltenversicherung zu, wenn sie die vollen Beiträge pflichtmäßig aufgrund der SVD 3 Nr 4 entrichtet haben.

 

Normenkette

HwAVGDV § 23 Abs. 2 Fassung: 1939-07-13; SVD 3 Nr. 4

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Schleswig vom 17. April 1956 und des Sozialgerichts Schleswig vom 24. November 1955 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger wurde im Oktober 1889 geboren. Er ist von Beruf Stellmachermeister. Er gehörte von 1909 bis 1938 der Rentenversicherung der Arbeiter und vom 1. Januar 1939 an auf Grund des "Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk" vom 21. Dezember 1938 (HVG) der Rentenversicherung der Angestellten (AV.) an. Zu diesem Versicherungszweig entrichtete er bis Februar 1944 62 halbe, anschließend bis Oktober 1954 127 volle Monatebeiträge.

Die Beklagte gewährt dem Kläger seit dem 1. November 1954 das Altersruhegeld. Sie bewilligte ihm jedoch nur den halben Grundbetrag aus der AV. und den halben Zuschlag nach dem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz vom 17. Juni 1949 (SVAG), weil die Halbversicherung des Klägers erst nach der Vollendung des 50. Lebensjahrs geendet hat. Ihre Entscheidung stützte sie auf § 23 Abs. 2 der "Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des HVG" vom 13. Juli 1939 (VO vom 13.7.1939) und auf § 1 Abs. 2 der "VO zur Durchführung des SVAG" vom 27. Juni 1949 (Bescheid vom 12.3.1955).

Das Sozialgericht (SG.) Schleswig verurteilte die Beklagte, dem Kläger den vollen Grundbetrag aus der AV. zu gewähren: Der Kläger habe nach dem Ende seiner Halbversicherung über 60 volle Monatsbeiträge zur AV. entrichtet; ihm stehe daher nach § 6 Abs. 3 HVG der volle Grundbetrag zu. § 23 Abs. 2 der VO vom 13.7.1939 bestimme zwar, daß im Falle einer Beendigung der Halbversicherung nach der Vollendung des 50. Lebensjahrs immer nur der halbe Grundbetrag zu gewähren sei; diese Vorschrift sei aber durch die Ermächtigung des § 12 Abs. 2 HVG nicht gedeckt und somit unwirksam (Urteil vom 24.11.1955). Das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig wies die Berufung der Beklagten zurück: Die Vorschrift des § 23 Abs. 2 der VO vom 13.7.1939 sei zwar - entgegen der Auffassung des SG. - rechtsgültig, sie treffe aber ihrem Sinn nach nur auf solche Fälle zu, in denen die Beendigung der Halbvorsicherung allein von dem Willen des Handwerkers abhänge; sie sei nicht anzuwenden, wenn die Halbversicherung durch gesetzliche Pflicht aufhöre. Der Kläger sei vom Oktober 1945 an auf Grund der Sozialversicherungsdirektive - SVD - Nr. 3 vom 14. Oktober 1945, ArbBl. für die brit. Zone 1947 S. 12, verpflichtet gewesen, volle Beiträge zur AV. zu entrichten; § 23 Abs. 2 der VO vom 13.7.1939 könne daher auf ihn nicht angewendet werden (Urteil vom 17.4.1956).

Das LSG. ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 3. Mai 1956 zugestellte Urteil am 17. Mai 1956 Revision ein und begründete sie am 5. Juni 1956. Sie rügte die unrichtige Anwendung des § 23 Abs. 2 der VO vom 13.7.1939 und beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen: Eine Unterscheidung zwischen einem zwangsweisen und freiwilligen Übergang von der halben Beitragsleistung zur vollen Beitragsleistung entsprechende weder dem Wortlaut noch dem Sinn des § 23 Abs. 2 der VO vom 13.7.1939. Diese Vorschrift beruhe auf der Erwägung, daß in den Fällen, in denen der Übergang zur vollen Beitragsleistung nach dem 50. Lebensjahr vorgenommen werde, der verhältnismäßig hohe Grundbetrag der AV. versicherungsmathematisch nicht mehr gedeckt werden könne.

Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen. Er machte sich im wesentlichen die Ausführungen der Vorinstanzen zu eigen.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Das Ruhegeld des Klägers ist vom 1. Januar 1957 an nach dem "Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Angestellten" vom 23. Februar 1957 (AnVNG) zu berechnen (Art. II §§ 30 Abs. 1, 52 Abs. 1 AnVNG). Danach kommt es für die Höhe der Rente auf die Höhe des Grundbetrags nicht mehr an (Art. II § 31 Abs. 1 und 3 AnVNG). Dieser neuen Rechtslage hat die Beklagte durch einen Umstellungsbescheid Rechnung getragen. Die Frage, ob dem Kläger der volle oder halbe Grundbetrag aus der AV. zusteht, ist daher nur noch für die Bezugszeiten vor dem 1. Januar 1957 bedeutsam. Für die Höhe des Grundbetrags sind das HVG in der Fassung vom 21. Dezember 1938 und die zu seiner Durchführung und Ergänzung ergangene VO vom 13.7.1939 maßgebend. Das "Gesetz zur vorläufigen Änderung des HVG" vom 27. August 1956 und das AnVNG enthalten insoweit keine Sondervorschriften. Von der Entscheidung über die Höhe des Grundbetrags hängt auch die Entscheidung über die Höhe des Zuschlags nach dem SVAG ab (§ 1 Abs. 2 der VO zur Durchführung des SVAG vom 27.6.1949).

Halbversicherte Handwerker erhalten beim Eintritt des Versicherungsfalls grundsätzlich den halben Grundbetrag (§ 6 Abs. 1 HVG). Haben sie jedoch nach dem Ende der Halbversicherung mindestens 60 volle Monatsbeiträge entrichtet, so wird ihnen der volle Grundbetrag gewährt (§ 6 Abs. 3 HVG), es sei denn, daß sie erst nach der Vollendung des 50. Lebensjahrs zur vollen Beitragsleistung übergegangen sind; in diesem Fall haben sie - sofern zur AV. nicht mindestens 60 Beiträge außerhalb der Handwerksversorgung gezahlt worden sind immer nur einen Anspruch auf den halben Grundbetrag (§§ 23 Abs. 2, 30 Abs. 1 der VO vom 13.7.1939). Diese Vorschriften beruhen auf der Ermächtigung des Reichsarbeitsministers, im Einvernehmen mit dem Reichswirtschaftsministers Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Durchführung und Ergänzung des HVG zu erlassen (§ 12 Abs. 2 HVG). Der Vorschrift des § 23 Abs. 2 der VO vom 13.7.1939 liegt die Erwägung zugrunde, daß dann, wenn die Halbversicherung erst nach dem 50. Lebensjahr endet, der verhältnismäßig hohe Grundbetrag der AV. in der kurzen, bis zum Eintritt des Versicherungsfalls noch zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr gedeckt werden kann (vgl. Haaß-Glanzmann, HVG, § 8 Anm. 30). Sie steht zu § 6 Abs. 3 HVG nicht in Widerspruch, modifiziert vielmehr diese Bestimmung aus versicherungsmathematischen Erwägungen und hält sich damit sowohl im Rahmen der allgemeinen gesetzlichen Regelung der Handwerkerversorgung als auch der rechtspolitischen Zielsetzung des HVG. Sie muß deshalb - jedenfalls unter Berücksichtigung der damaligen staatsrechtlichen Verhältnisse (vgl. BSG. E. 3 S. 161 ff. und die dort erwähnte Rechtsprechung und Literatur) - noch als eine zulässige Gesetzesergänzung angesehen werden. Die Vorschrift ist somit gültig (ebenso im Ergebnis - allerdings ohne Begründung - Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 5. Auflage, S. 794; Koch-Hartmann, AVG, 2. Auflage, S. 65; Heyn, Die Handwerkerversicherung, S. 126).

Der Kläger hat bereits im Oktober 1939 das 50. Lebensjahr vollendet. Es kann dahingestellt bleiben, ob er schon im März 1944 auf Grund einer Änderung in seinem Lebensversicherungsvertrag (§ 5 HVG) oder freiwillig (§ 8 Abs. 2 HVG; Kahmann-Jahn-Hoernigk, Handwerkerversorgungsrecht, § 8 Anm. 6) oder erst im Oktober 1945 auf Grund der SVD Nr. 3 wirksam von der halben zur vollen Beitragsleistung übergegangen ist. Der Übergang zur vollen Beitragsleistung ist jedenfalls nach der Vollendung des 50. Lebensjahrs erfolgt. Ihm steht daher nach § 23 Abs. 2 der VO vom 13.7.1939 nur der halbe Grundbetrag zu. Die Vorschrift des § 30 Abs. 1 der VO vom 13.7.1939, wonach bei einem Übergang zur vollen Beitragsleistung nach der Vollendung des 50. Lebensjahrs ausnahmsweise dann der volle Grundbetrag gewährt wird, wenn der Handwerker, bevor oder nachdem er als solcher versicherungspflichtig gewesen ist, mindestens 60 Pflichtbeiträge oder insgesamt 120 Beiträge zur AV. entrichtet hat, ist hier nicht anwendbar. Der Kläger hat zur AV. nur Handwerkerbeiträge geleistet.

Die Auffassung des LSG., der Kläger habe wegen der durch die SVD Nr. 3 begründeten Pflicht, volle Beiträge zu leisten, einen Anspruch auf den vollen Grundbetrag, geht fehl. Es trifft zwar zu, daß der Kläger nach der Ziff. 4 der SVD Nr. 3, die zur Festigung der Finanzlage der Rentenversicherungsträger vorübergehend alle Befreiungen von Beitragszahlungen aufhob, vom Oktober 1945 an verpflichtet war, auch ohne eine Änderung in seinem Lebensversicherungsvertrag volle Handwerkerbeiträge zu entrichten. Diese Maßnahme betraf nicht nur die Handwerkerversorgung, sondern alle Zweige der Rentenversicherung und bezog sich auf alle Arten einer völligen oder teilweisen Befreiung von der Beitragspflicht. Es handelte sich, wie sich aus der Einleitung zu der SVD Nr. 3 ergibt, um eine vorläufige Sanierungsmaßnahme, die bei der Unübersichtlichkeit der damaligen Verhältnisse gerechtfertigt war und als solche mit Verbesserungen im Leistungsrecht weder verbunden worden ist noch verbunden zu sein brauchte. Diese vorläufige Maßnahme ist für die Handwerkerversorgung schon durch die Sozialversicherungsanordnung - SVA - Nr. 16 vom 2.8.1947 (ArbBl. für die britische Zone 1947 S. 304) und im übrigen durch die SVA Nr. 42 vom 6.8.1948 (ArbBl. für die britische Zone 1948 S. 317) wieder aufgehoben worden. Die SVD Nr. 3 hat demnach weder ein neues Versicherungsverhältnis noch eine besondere Versichertengruppe in der Handwerkerversorgung geschaffen. Daß es den halbversicherten Handwerkern, die allein durch die Ziff. 4 der SVD Nr. 3 verpflichtet worden sind, volle Beiträge zu entrichten, nach Aufhebung dieser Vorschrift freigestellt worden ist, die volle Beitragszahlung fortzusetzen (vgl. Ziff. 1 der SVA Nr. 16), steht der hier vertretenden Auffassung nicht entgegen. Bei einer Weiterzahlung der vollen Handwerkerbeiträge konnte zwar - falls der Handwerker im Oktober 1945 das 50. Lebensjahr bereits vollendet hatte - nicht mehr der volle Grundbetrag, jedoch ein höherer Steigerungsbetrag erzielt werden, so daß diese Regelung durchaus sinnvoll war. Die Vorschrift der Ziff. 4 der SVD Nr. 3 hob die vom versicherungspflichtigen Handwerker getroffene Wahl nicht auf, wie sich aus der Ziff. 1 der SVA Nr. 16 ergibt. Nur die Handwerker, die vom Inkrafttreten der SVD Nr. 3 an bis zum Inkrafttreten der SVA Nr. 16 versicherungspflichtig wurden, konnten in dieser Zeit praktisch weder die Versicherungsfreiheit noch die Halbversicherung wählen.

Dieses Ergebnis verstößt nicht gegen höherrangige Normen des Grundgesetzes. Die in der Ziff. 4 der SVD Nr. 3 getroffene Regelung war eindeutig eine Not- und Übergangsmaßnahme. Sie wurde, wie es in dem Vorspruch zu der Direktive heißt, "in Anbetracht der kritischen Finanzlage der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten in Kraft gesetzt". Eine solche Maßnahme vermochte während der kurzen Zeit ihrer Wirksamkeit (noch nicht zwei Jahre) das für eine lange Dauer geplante und entsprechend berechnete Versicherungsverhältnis des Klägers nicht in so entscheidender Weise umzugestalten, daß aus der selbstgewählten Halbversicherung eine Vollversicherung wurde. Das war für den Kläger auch erkennbar, weil diese Übergangsregelung ausdrücklich zur Stützung der Rentenversicherungsträger erlassen wurde und nur die damalige Beitragshöhe, nicht aber auch die künftige Rentenhöhe berührte. Es sind deshalb keine irgendwie eigentumsähnlichen Rechte des Klägers verletzt worden. Die Regelung betraf gleichmäßig alle Arten von Befreiungen von der Beitragszahlung, so daß auch nicht von einem Durchbrechen des Gleichbehandlungsgrundsatzes gesprochen werden kann.

Weil dem Kläger nur der halbe Grundbetrag der AV. zusteht, hat er auch nur einen Anspruch auf den halben Zuschlag nach dem SVAG (§ 1 Abs. 2 der VO zur Durchführung des SVAG vom 27.6.1949).

Die Revision ist begründet. Die Urteile des LSG. und SG. sind aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 203

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