Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellungsinteresse neben anderen Klagebegehren möglich

 

Orientierungssatz

1. Zur Zulässigkeit des Begehrens auf Feststellung, daß eine - zwischenzeitlich wieder ausgeheilte - Herzerkrankung Folge eines Arbeitsunfalls gewesen ist.

2. Das Interesse an einer Feststellung nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG läßt sich nicht mit dem Interesse an der Durchsetzung eines konkreten, gegenwärtigen Leistungsanspruchs gleichsetzen. Eine solche Feststellung kann nicht nur Bedeutung für einen bereits bestehenden Leistungsanspruch haben; sie kann vielmehr auch für künftig in Betracht kommende Regelungen und Entscheidungen erheblich sein. Der Feststellungsausspruch erzeugt weitergehende, über die bloße Begründung für die zur Zeit der Entscheidung in Betracht kommende Einzelleistung hinausgreifende Rechtswirkungen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist deshalb das weitergehende Feststellungsbegehren neben dem Leistungsbegehren möglich und scheitert nicht etwa an mangelndem Rechtsschutzinteresse (vgl zuletzt BSG 1964-06-25 10 RV 835/61 = BSGE 21, 167). Die weitergehende Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG ist danach zulässig, unabhängig davon, ob Leistungsansprüche erhoben oder zunächst mit der Klage außerdem geltend gemachte Leistungsansprüche nicht weiter verfolgt werden.

 

Normenkette

SGG § 55 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 15.07.1981; Aktenzeichen L 2 Ua 1361/80)

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 25.06.1980; Aktenzeichen S 8 U 1620/78)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung, daß die bei ihm am 12. Juni 1976 aufgetretene Herzrhythmusstörung die Folge eines Arbeitsunfalls ist.

Der Kläger war seit dem 26. April 1976 beim S-Bahntunnelbau in S beschäftigt. Als Baumaschinenführer bediente er einen dieselbetriebenen Überkopflader; bei der Arbeit trug er ein Atemschutzgerät.

Am 12. Juni 1976, einem Sonnabend, befielen den Kläger, nachdem er schon Tage zuvor an bronchitischen Beschwerden gelitten hatte, ein plötzliches Unwohlsein, Übelkeit und Atembeschwerden. An diesem Tage war nach den Angaben des Arbeitgebers des Klägers die Frischluftzufuhr zum Tunnel für ca eine halbe Stunde unterbrochen. Am 14. Juni 1976 wurde der Kläger mit der Einweisungsdiagnose "cardiales Überanstrengungssyndrom mit absoluter Arrhythmie bei Vorhofflimmern sowie ventrikulären Extrasystolen" in ein Krankenhaus eingeliefert und dort bis zum 25. Juni 1976 stationär behandelt.

Die Beklagte lehnte Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlaß des Ereignisses vom 12. Juni 1976 ab, da die Herzerkrankung nicht Folge der Unterbrechung der Frischluftzufuhr sei (Bescheid vom 28. April 1978).

Nach erfolgloser Durchführung des Widerspruchsverfahrens (Widerspruchsbescheid vom 19. Juli 1978) hat das Sozialgericht (SG) Speyer nach Einholung eines Sachverständigengutachtens dem Klagebegehren mit Urteil vom 25. Juni 1980 entsprochen und die Beklagte verurteilt, unter Anerkennung des Ereignisses vom 12. Juni 1976 als Arbeitsunfall dem Kläger Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg das Urteil des SG aufgehoben und die Klage, soweit sie nicht - hinsichtlich der Ansprüche auf Übergangsgeld und Verletztenrente - zurückgenommen war, abgewiesen (Urteil vom 15. Juli 1981). In den Entscheidungsgründen ist ua ausgeführt: Einen Anspruch auf Heilbehandlung habe der Kläger nicht, weil sie ihm bereits von der Krankenkasse gewährt worden und derzeit nicht erforderlich sei. Soweit der Kläger die Feststellung begehre, daß es sich bei dem Ereignis vom 12. Juni 1976 um einen Arbeitsunfall handele, stelle dieses Begehren eine unzulässige Elementenfeststellungsklage dar. Das auf die Feststellung gerichtete Begehren, daß die Verminderung der Frischluftzufuhr die Herzkrankheit verursacht habe, sei zwar nach § 55 Abs 1 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an sich zulässig. Es fehle jedoch an dem erforderlichen berechtigten Interesse an dieser Feststellung. Die Gesundheitsstörungen seien nach entsprechender Behandlung bald wieder vollständig und folgenlos abgeheilt, so daß mit Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit der vor dem 12. Juni 1976 bestehende Gesundheitszustand wieder erreicht sei. Eine nachhaltige Gesundheitsstörung sei nicht bestehen geblieben. Inzwischen seien über fünf Jahre vergangen. Es sei auch nicht zu erwarten, daß unfallversicherungsrechtliche Ansprüche gegen die Beklagte in Zukunft entstünden. Zur Begründung seines Feststellungsinteresses behaupte der Kläger, der Ausgang des Rechtsstreits sei für Ansprüche aus einer privaten Unfall-Krankenhaustagegeld-Versicherung von Bedeutung. Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Feststellungsklage werde aber dadurch nicht begründet. Es sei nicht Sache des sozialgerichtlichen Verfahrens, die Position des Versicherungsnehmers gegenüber zivilrechtlichen Vertragspartnern und im Zivilprozeß zu verbessern. Die Zivilgerichte müßten die An- spruchsvoraussetzungen ohne Rücksicht auf eine Entscheidung im sozialgerichtlichen Verfahren prüfen. Es bestehe weder eine Bindungswirkung, noch könne angenommen werden, daß eine sozialgerichtliche Entscheidung einen Einfluß auf die Entscheidung eines Zivilgerichts habe.

Mit der Revision rügt der Kläger die unrichtige Anwendung des § 55 SGG und eine Verletzung des rechtlichen Gehörs: Auszugehen sei davon, daß der private Unfallversicherer seine Entscheidung davon abhängig gemacht habe, ob ein Unfallereignis im sozialversicherungsrechtlichen Sinne vorgelegen habe. Diese unbestrittene Behauptung sei revisionsrechtlich bindend. Es sei deshalb auch nicht richtig, daß der Ausgang des sozialgerichtlichen Verfahrens für den Ausgang der zivilrechtlichen Auseinandersetzung unter gar keinem Gesichtspunkt von Bedeutung sei; insoweit bezieht sich der Kläger auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Oktober 1958 (BSGE 8, 179 ff). Zur Bejahung des Feststellungsinteresses reiche auch aus, daß bei einer zunächst ausgeheilten Erkrankung später im Falle eines weiteren Auftretens von Herzbeschwerden ein Ursachenzusammenhang nicht auszuschließen sei. Zudem habe es das LSG nicht nur unterlassen, einen rechtlichen Hinweis auf das nach seiner Ansicht fehlende Rechtsschutzinteresse zu geben, sondern insbesondere im Hinblick auf den von ihm unterbreiteten Vergleichsvorschlag den Eindruck entstehen lassen, daß die streitige Zusammenhangsfrage in einem späteren Verfahren weiterhin Bedeutung haben könne. Es sei nicht auszuschließen, daß das LSG im Falle der Gewährung des rechtlichen Gehörs anders entschieden hätte.

Der Kläger macht Leistungsansprüche nicht mehr geltend; er beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. Juli 1981 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 25. Juni 1980 zurückzuweisen, hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts Baden- Württemberg vom 15. Juli 1981 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, dadurch daß der Kläger seine Leistungsanträge zurückgenommen habe, habe er sich auch des Rechtsschutzinteresses für eine weiter aufrechterhaltene Feststellungsklage begeben. Als berechtigt iS des § 55 SGG könnten nur solche Interessen angesehen werden, die sachlich unter § 8 SGG fielen. Dazu gehöre nicht die Verfolgung eines Anspruchs aus einer Krankenhaustagegeld-Versicherung. Die erst im Revisionsverfahren vorgetragene Auffassung, in Zukunft müsse mit der Möglichkeit einer Verschlimmerung der ausgeheilten Herzbeschwerden gerechnet werden, stelle ein neues Tatsachenvorbringen dar, das in diesem Stadium des Rechtsstreits nicht mehr berücksichtigt werden könne. Einen Verfahrensfehler habe das LSG auch nicht begangen. Ein weiteres Rechtsgespräch zu führen, sei es nicht verpflichtet gewesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§`170 Abs`2 Satz`2 SGG).

Gegenstand des Rechtsstreits ist nur noch das in der Revisionsinstanz - zulässigerweise (s Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, § 168 RdNr 2) - begrenzte Begehren des Klägers auf Feststellung, daß die bei ihm am 12. Juni 1976 aufgetretene Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls ist.

Die Feststellungsklage ist nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG zulässig. Eine Aufteilung in einen statthaften und in einen als Elementenfeststellungsklage nicht statthaften Teil wird dem vom Kläger nach seinem gesamten Klagevorbringen erkennbar als einheitliches Feststellungsbegehren verfolgten Rechtsschutzziel nicht gerecht. Der in der ersten Instanz formulierte Klageantrag lautete zwar auch auf "Anerkennung eines Arbeitsunfalls"; dieser Antrag ist jedoch als Feststellungsantrag nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG zu verstehen und zu behandeln (s BSGE 21, 167, 169; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 240m IV, 240n sowie S 240s I, 240s II; Meyer-Ladewig aaO § 55 RdNr 13). Das Gericht entscheidet insoweit über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein (§ 123 SGG; BSGE aaO S 168, 169).

Die Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses (s § 55 Abs 1 Nr 1 SGG) darf zwar grundsätzlich nicht auf die Feststellung einzelner Elemente (Rechtsfragen, Vorfragen, Tatfragen - s Brackmann aaO S 240l, 240m; Meyer-Ladewig aaO § 55 RdNr 9) gerichtet werden. Ob auch die auf dem Versicherungsverhältnis beruhende Klage, bestimmte Gesundheitsstörungen als Folge eines Arbeitsunfalles festzustellen, keine Elemente, sondern das Versicherungsverhältnis betrifft (s auch Brackmann aaO S 240m IV mwN; Meyer-Ladewig aaO § 55 RdNr 13), kann dahinstehen. Die in § 55 Abs 1 Nr 3 SGG vorgesehene, dem sozialgerichtlichen Verfahren eigentümliche besondere Ausgestaltung des auch den anderen Verfahrensordnungen geläufigen Instituts der allgemeinen Feststellungsklage sieht jedenfalls die Feststellung, ob eine Gesundheitsstörung die Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist, nach dem Gesetzeswortlaut ausdrücklich vor.

Der vom Kläger erhobenen Feststellungsklage fehlt es entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung nicht an dem nach § 55 Abs 1 SGG erforderlichen berechtigten Interesse an der begehrten Feststellung. Das Feststellungsinteresse stellt als besondere Ausprägung des allgemeinen Rechtsschutzinteresses eine unverzichtbare und damit auch noch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfende Prozeßvoraussetzung dar (vgl dazu zB BSG SozR 1500 § 96 Nr 24; BSGE 10, 218, 219), ohne daß es dazu einer entsprechenden Rüge der Beklagten bedurft hätte.

Daß der Kläger die mit der Klage geltend gemachten Leistungsansprüche nicht aufrechterhalten hat, ist für die Beurteilung des Feststellungsinteresses entgegen der Ansicht der Beklagten nicht von Bedeutung. Das Interesse an einer Feststellung nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG läßt sich nicht mit dem Interesse an der Durchsetzung eines konkreten, gegenwärtigen Leistungsanspruchs gleichsetzen. Die begehrte Feststellung hat nicht nur Bedeutung für einen bereits bestehenden Leistungsanspruch; sie kann vielmehr auch für künftig in Betracht kommende Regelungen und Entscheidungen erheblich sein. Denn mit der rechtskräftigen Feststellung bestimmter Gesundheitsstörungen als Folge eines Arbeitsunfalls sind die festgestellten Schädigungen Grundlage jeder späteren Regelung des Rechtsverhältnisses (BSGE 21, 167, 169). Damit erzeugt der Feststellungsausspruch weitergehende, über die bloße Begründung für die zur Zeit der Entscheidung in Betracht kommende Einzelleistung hinausgreifende Rechtswirkungen (BSGE 21, 167, 169; BSG SozR Nr 32 zu § 55 SGG; vgl auch Brackmann aaO S 240s II mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist deshalb das weitergehende Feststellungsbegehren neben dem Leistungsbegehren möglich und scheitert nicht etwa an mangelndem Rechtsschutzinteresse (BSGE 21, 167, 168 unter Anführung der schon damals ständigen Rechtsprechung des BSG). Die weitergehende Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG ist danach zulässig, unabhängig davon, ob Leistungsansprüche erhoben (s BSG SozR Nr 32 zu § 55 SGG) oder - wie hier - zunächst mit der Klage außerdem geltend gemachte Leistungsansprüche nicht weiter verfolgt werden.

Auch daß die beim Kläger aufgetretenen Herzrhythmusstörungen nach den vom LSG getroffenen Feststellungen "bald wieder vollständig und folgenlos abgeheilt" waren, bietet keine Grundlage dafür, das Feststellungsinteresse zu verneinen. Gerade in Fällen, in denen geringfügige Schädigungen im Zeitpunkt der Entscheidung nicht geeignet sind, Leistungsansprüche auszulösen, ist die in § 55 Abs 1 Nr 3 SGG vorgesehene Feststellungsklage geboten (vgl insoweit die Begründung zum Gesetzesentwurf des SGG, BT-Drucks 1. Wahlperiode Nr 4357 zu § 4 auf S 24).

Daß Spätfolgen, sei es in Gestalt einer Verschlimmerung, sei es in Gestalt einer erneuten Erkrankung, für welche die Vorschädigung unter Umständen von Bedeutung ist, auftreten können, darf für die Beurteilung des Feststellungsinteresses nicht unberücksichtigt bleiben. Denn nicht auszuschließende etwaige Spätfolgen rechtfertigen ein Interesse des Klägers an der begehrten Feststellung (vgl BSG SozR 2200 § 548 Nr 53). Der Kläger hatte zwar sein Feststellungsinteresse in den Tatsacheninstanzen allein auf den möglicherweise gegen den privaten Unfallversicherer bestehenden Ersatzanspruch gestützt; dadurch wurde das LSG jedoch nicht von seiner Verpflichtung entbunden, von Amts wegen alle Gesichtspunkte heranzuziehen, die für die Verfolgung des Feststellungsbegehrens im sozialgerichtlichen Verfahren wesentlich sind.

Da bereits die nicht zutreffende Beurteilung des Feststellungsinteresses durch das LSG zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führt, kann dahinstehen, ob ein schutzwürdiges Interesse des Klägers sich auch noch auf die Durchsetzung etwaiger zivilrechtlicher Ansprüche gründen ließe. Offenbleiben kann auch die Beurteilung der erhobenen Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Die vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen reichen allerdings nicht aus, dem BSG die Entscheidung über die Begründetheit der Feststellungsklage zu ermöglichen; das LSG wird die hierfür erforderlichen Feststellungen daher nachzuholen und über die streitige Zusammenhangsfrage zu entscheiden haben.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666536

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