Entscheidungsstichwort (Thema)

Öffentlich-rechtlicher Ersatzanspruch

 

Leitsatz (amtlich)

Es verstößt nicht gegen die §§ 315 und 507 RVO, wenn die Versicherungsbedingungen einer Ersatzkasse vorsehen, daß freiwillige Versicherungen ruhen, solange die Versicherten der Versicherungspflicht unterliegen.

 

Orientierungssatz

Hat eine Kasse in der Zeit des Ruhens der freiwilligen Versicherung ohne Rechtsgrund Leistungen erbracht, so hat sie gegen die zur Leistung verpflichtete Krankenkasse einen öffentlich-rechtlichen Ersatzanspruch, ohne daß es eines weiteren besonderen öffentlichen Interesses am Ausgleich solcher Vermögensverschiebungen bedarf.

 

Normenkette

RVO § 315 Fassung: 1924-12-15, § 507

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 26.06.1979; Aktenzeichen I KRBf 6/78)

SG Hamburg (Entscheidung vom 20.03.1978; Aktenzeichen 21 KR 73/77)

 

Tatbestand

Die klagende Ersatzkasse begehrt von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse Ersatz von Versicherungsleistungen, die sie einem seit 1. Oktober 1957 ihr freiwillig angehörenden Mitglied in Höhe von 4.234,38 DM in der Zeit vom 1. Januar 1974 bis zum 30. November 1975 erbracht hat, obgleich ihr Mitglied infolge Erhöhung der Versicherungspflichtgrenzen seit dem 1. Januar 1974 Mitglied der Beklagten geworden war und die Klägerin die Beiträge für die Zeit ab 1. Januar 1974 zurückgezahlt hat.

Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Beklagte mit Urteil vom 20. März 1978 verurteilt, die streitigen Versicherungsleistungen zu erstatten, und zwar vorrangig aufgrund des Übereinkommens der Krankenkassenverbände über die Erstattung irrtümlich erbrachter Leistungen vom 21. Februar 1972 (Ü 1972), aber auch aufgrund des allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs. Da durch Eintritt der Versicherungspflicht bei der Beklagten die Mitgliedschaft des Versicherten bei der Klägerin nach § 5 Abs 1 ihrer Versicherungsbedingungen ohne Anspruch auf Leistungen geruht habe, habe die Klägerin die Leistungen an den Versicherten ab 1. Januar 1974 irrtümlich erbracht und könne insoweit von der Beklagten, die auch die Beiträge für diese Zeit erhalten habe, Ersatz verlangen.

Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg durch Urteil vom 26. Juni 1979 zurückgewiesen. Es hat sich der Rechtsauffassung des SG angeschlossen; § 26 des Vierten Teils des Sozialgesetzbuches (SGB 4) erfasse den streitigen Zeitraum nicht; auch aus der den Versicherten schützenden Regelung des § 315 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei nichts gegen den Ersatzanspruch der Klägerin herzuleiten.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das LSG habe § 1 des Ü 1972 unzutreffend ausgelegt und die Grundsätze des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs sowie die §§ 315, 507 und 517 RVO verletzt.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg

vom 26. Juni 1979 und des Sozialgerichts Hamburg

vom 20. März 1978 aufzuheben und die Klage

abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.

Zutreffend haben die Vorinstanzen festgestellt, daß § 26 SGB 4 den vorliegenden Fall mit seinem zeitlichen Geltungsbereich nicht erfaßt (vgl SGB 4 Art II § 21).

Der Senat kann offen lassen, ob § 1 Ü 1972 Rechtsgrundlage des streitigen Anspruchs sein kann, ob im Wege des Übereinkommens Ersatzansprüche im Bereich des öffentlichen Rechts geschaffen werden können und ob die Beteiligten gemäß § 7 des Ü 1972 dem Abkommen beigetreten sind. Jedenfalls ist nämlich - wie schon von den Vorinstanzen - der Ersatzanspruch der Klägerin als vom Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung anerkannter öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch hier zu bejahen.

Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch dient dem Ausgleich einer rechtsgrundlosen Vermögensverschiebung zwischen zwei Trägern öffentlicher Verwaltung (BSGE 16, 151, 156; 35, 43, 44; 39, 137, 138). Er setzt voraus, daß ein nichtverpflichteter Rechtsträger des öffentlichen Rechts einem berechtigten Dritten anstelle eines verpflichteten Rechtsträgers des öffentlichen Rechts Leistungen erbracht hat (vgl hierzu auch § 81b Bundesversorgungsgesetz -BVG- und § 6 Abs 3 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes). Das trifft hier zu.

Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Versicherte, dem die Leistungen erbracht worden sind, seit dem 1. Oktober 1957 Mitglied der Klägerin; seit dem 1. Januar 1974 ist er auch versicherungspflichtig. Er ist somit zunächst freiwilliges Mitglied der Klägerin gewesen. Zu dieser Mitgliedschaft war er deshalb berechtigt, weil er dem Personenkreis angehörte, für den die Klägerin zugelassen worden ist. Den Beginn der Mitgliedschaft Versicherungsberechtigter regelt § 310 Abs 1 Satz 1 RVO. Maßgebend ist danach der Tag des Beitritts zur Kasse. Ob auf das Erlöschen der Mitgliedschaft Versicherungsberechtigter § 312 Abs 1 RVO anzuwenden ist, wonach die Mitgliedschaft bei einer anderen Krankenkasse zum Erlöschen der bisherigen Mitgliedschaft führt, ist bei dem hier streitigen Erstattungsanspruch nicht zu entscheiden. Endete durch Beginn der Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten nämlich die freiwillige Mitgliedschaft bei der Klägerin (vgl Peters, Handbuch der Krankenversicherung Stand September 1980, § 312 Anm 3 und 4), so war die Klägerin deshalb nicht mehr leistungspflichtig. Endete dagegen die freiwillige Mitgliedschaft nicht, so ruhte sie. Das sehen die Versicherungsbedingungen der Klägerin in ihrem § 5 vor. Um die Doppelbelastung des versicherungspflichtig gewordenen freiwilligen Mitglieds mit Beiträgen zu vermeiden, wird seine freiwillige Mitgliedschaft in der Weise zum Ruhen gebracht, daß Beiträge und Leistungen daraus entfallen, solange kraft Pflichtmitgliedschaft Beiträge zu entrichten und Leistungen zu erbringen sind, ohne daß von einer Befreiung nach § 517 RVO Gebrauch gemacht worden ist. Auch danach war mithin die Klägerin nicht leistungspflichtig. Denn die rechtlichen Bedenken der Beklagten gegen § 5 der Versicherungsbedingungen der Klägerin greifen nicht durch:

§ 507 RVO verpflichtet die Ersatzkassen dazu, den Versicherungspflichtigen als Mindeststandard die Regelleistungen der Krankenkassen zu gewähren. Die Bestimmung dient nicht - wie etwa § 313 RVO - dem Vertrauensschutz bei irrtümlicher Beitragsentrichtung. Deshalb ist § 5 der Versicherungsbedingungen der Klägerin auch nicht dazu bestimmt oder geeignet, einen solchen Vertrauensschutz zu verhindern. Die Regelung will vielmehr nur die Doppelbelastung des Versicherten mit Beiträgen zur Pflichtversicherung einerseits und zur freiwilligen Versicherung andererseits in seinem Interesse vermeiden. Wenn die Beklagte demgegenüber geltend macht, es sei mit dem Freiwilligkeitsprinzip nicht zu vereinbaren, daß das Ruhen der freiwilligen Versicherung mit dem Beginn der Pflichtversicherung gemäß § 5 der Versicherungsbedingungen "automatisch" - nicht erst auf Antrag - eintrete, überzeugt dies nicht. Die hierfür angeführte Entscheidung des BSG SozR Nr 9 zu § 517 RVO trifft auf den vorliegenden Fall nicht zu. Denn sie behandelt den Fall mehrerer nebeneinander bestehender Beschäftigungsverhältnisse, der hier nicht gegeben ist. Im übrigen kann es demjenigen, der freiwillig eine Versicherung abschließt, vom rechtlichen Charakter dieser - freiwilligen - Versicherung her nicht verboten sein, schon beim Abschluß für den Fall des Eintritts einer Versicherungspflicht Vorsorge gegen eine Doppelbelastung mit Beiträgen zu treffen.

Zu Unrecht meint die Revision, das Ruhen der freiwilligen Versicherung bei Eintritt der Versicherungspflicht verstoße gegen § 507 RVO, weil dann die Ersatzkasse trotz jahrelanger Beitragsannahme jederzeit die Leistungen verweigern könne. Bei Anhebung der Versicherungspflichtgrenze haben die als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung fungierenden und als Körperschaften des öffentlichen Rechts der Staatsaufsicht unterliegenden Ersatzkassen (vgl SGB 1 § 21 Abs 2; SGB 4 §§ 29 und 87) keine Möglichkeit zu der von der Revision befürchteten Manipulation. Denn sie sind an das Gesetz gebunden. Im übrigen können die Allgemeinen Ortskrankenkassen bei freiwillig krankenversicherten Personen, für die sie gemäß § 1399 Abs 2 Satz 2 RVO die Rentenversicherungsbeiträge einzuziehen haben, unschwer feststellen, ob der regelmäßige Jahresarbeitsverdienst 75 vH der für die Rentenversicherung der Arbeiter geltenden Beitragsbemessungsgrenze nicht mehr übersteigt und somit Versicherungspflicht in der Krankenversicherung nach § 165 Abs 1 Nr 2 RVO auslöst. Endlich verhindern auch die Melde- und Auskunftspflichten der Arbeitgeber (§§ 317, 318a RVO) regelmäßig, daß Unterschreitungen der Versicherungspflichtgrenze längere Zeit hindurch unbemerkt bleiben. Aber selbst, wenn das, wie im vorliegenden Fall, geschehen ist, kann daraus nicht gefolgert werden, daß wegen fortgesetzter Annahme freiwilliger Beiträge und Leistungsgewährung aus der irrtümlich nicht als ruhend behandelten freiwilligen Versicherung eine Pflichtversicherung bei der zuständigen AOK nicht entstanden wäre.

Die Pflichtversicherung entsteht bei der zuständigen AOK, sobald das Arbeitsentgelt eines Beschäftigten die Versicherungspflichtgrenze unterschreitet. Damit beginnt eine nicht abdingbare Beitragspflicht, und es entstehen im Versicherungsfall die gesetzlich vorgesehenen Leistungspflichten. Dabei verbleibt es, solange die Voraussetzungen der Versicherungspflicht bestehen. Bei der freiwilligen Versicherung hat es dagegen der Versicherte in der Hand, das Versicherungsverhältnis einzugehen und es durch eine entsprechende Willenserklärung oder durch Nichtzahlung von Beiträgen (§ 314 RVO) zu beenden. Auch bei Beachtung dieser Unterschiede bedeutet es eine im Rahmen des Systems der gegliederten Krankenversicherung liegende sinnvolle und deshalb zulässige Gestaltung des freiwilligen Versicherungsverhältnisses, für den Fall des Eintritts einer Pflichtversicherung in den Versicherungsbedingungen das Ruhen der freiwilligen Versicherung - Wegfall der Beiträge und Leistungen - bis zum Ende der Pflichtversicherung vorzusehen. Diesem Ergebnis steht die von der Revision für sich in Anspruch genommene Rechtsprechung des BSG zum Rückabwicklungsverbot bereits abgewickelter Versicherungsverhältnisse nicht entgegen. Hier handelt es sich nämlich nicht um die Rückabwicklung zwischen Versichertem und Versicherungsträger, sondern um den Ausgleich von Vermögensverschiebungen zwischen Versicherungsträgern. Der genannte Grundsatz dient nur dazu, bereits abgewickelte Versicherungsverhältnisse von der Unsicherheit nachträglicher Änderungen möglichst freizuhalten; keinesfalls werden damit aber rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen zwischen Versicherungsträgern gebilligt.

Ruhte mithin die freiwillige Versicherung in der Zeit vom 1. Januar 1974 bis zum 30. November 1975, in der die Klägerin ihrem Mitglied Leistungen erbracht hat, so leistete sie ohne Rechtsgrund. Leistungsverpflichtet für diese Zeit war, wie die Vorinstanzen zutreffend erkannt haben, die Beklagte, bei der eine Mitgliedschaft durch Unterschreitung der ab 1. Januar 1974 angehobenen Versicherungspflichtgrenze entstanden war. Der unmittelbare Ausgleich dieser zwischen den beteiligten Versicherungsträgern erfolgten Vermögensverschiebung liegt in einer rechtsstaatlich geordneten Verwaltung im öffentlichen Interesse. Denn nur so kann die Beachtung des materiellen Leistungsrechts durch die Versicherungsträger gewährleistet werden. Deshalb bedarf es entgegen der Auffassung der Revision zur Begründung des öffentlich-rechtlichen Ersatzanspruchs keines weiteren besonderen öffentlichen Interesses am Ausgleich solcher Vermögensverschiebungen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 112

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