Leitsatz (amtlich)

1. Auch nach vorausgegangener mündlicher Verhandlung kann ein Rechtsstreit in ein Verfahren ohne mündliche Verhandlung nach SGG § 124 Abs 2 übergeleitet werden. Hierbei ist ein Richterwechsel unschädlich.

2. Das Einverständnis der Beteiligten nach SGG § 124 Abs 2 muß bei Erlaß des Urteils dem Gericht vorliegen. Ein nach Zustellung des Urteils erklärtes Einverständnis ist rechtlich bedeutungslos.

3. Entscheidet das Gericht ohne das Einverständnis aller Beteiligten nach SGG § 124 Abs 2 so liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor.

 

Normenkette

SGG § 124 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 129 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 23 . Dezember 1959 aufgehoben .

Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen .

Von Rechts wegen .

 

Gründe

Die Klägerin beantragte 1952 wegen eines Hüftleidens Versorgungsrente. Sie führte das Leiden auf eine Scharlacherkrankung auf dem Fluchtwege zurück , als sie 1943 aus H ... vor den feindlichen Bombenangriffen nach D ... fliehen mußte . Das Versorgungsamt lehnte mit Bescheid vom 24 . Juni 1952 den Antrag ab . Die Berufung der Klägerin zum Oberversicherungsamt (OVA) H ... und zum Landessozialgericht (LSG) Hamburg hatte keinen Erfolg. Auf die Revision der Klägerin hob der erkennende Senat mit Urteil vom 5. September 1956 - 9 RV 12/55 - das Urteil des LSG wegen mangelnder Sachaufklärung auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück. Dieses ließ durch den ersuchten Richter Zeugen vernehmen und Auskünfte zum Prozeßstoff einholen. Im Verhandlungstermin vom 30 . September 1959 hat das LSG in der Besetzung mit fünf Richtern (Senatspräsident K ... als Vorsitzender , LSG-Rüte C ... und T ... als weitere Berufsrichter , Landessozialrichter D ... und K ... als ehrenamtliche Beisitzer) mehrere Zeugen und einen Sachverständigen vernommen. Die Klägerin erklärte sich in der mündlichen Verhandlung damit einverstanden , daß der Senat des LSG den Rechtsstreit ohne nochmalige mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs . 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheide . Die Beklagte war nicht vertreten . Der Vorsitzende verkündete folgenden Beschluß:

"Die Verhandlung wird ausgesetzt .

Den Parteien wird Gelegenheit gegeben , schriftlich zur Beweisaufnahme binnen 3 Wochen nach Zustellung der Sitzungsniederschrift Stellung zu nehmen. Die Beklagte möge sich dazu äußern , ob sie mit einer schriftlichen Entscheidung gemäß § 124 SGG einverstanden ist."

Die Klägerin nahm in einem Schriftsatz vom 4 . November 1959 zur Beweisaufnahme Stellung und bat mit Schriftsatz vom 19 . Januar 1960 "die in Aussicht genommene schriftliche Entscheidung zu treffen" . Eine Einverständniserklärung der Beklagten ging nicht ein .

Am 23 . Dezember 1959 erkannte das LSG im Wege der schriftlichen Entscheidung gemäß § 124 Abs . 2 SGG in der Besetzung mit Senatspräsident K.. . den LSG-Räten Dr . H ... und T ..., sowie den Landessozialrichtern B ... und H ... für Recht:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des OVA H... vom 27 . Mai 1953 wird zurückgewiesen .

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten .

Das LSG ließ die Revision nicht zu . Es führte aus , daß nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die Scharlachinfektion der Klägerin nicht auf schädigende Vorgänge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ursächlich zurückzuführen sei .

Das Urteil wurde den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 22 . Januar 1960 und der Beklagten am 25 . Januar 1960 zugestellt . Am 27 . Februar 1960 ging beim LSG eine Mitteilung des Landesversorgungsamts H... vom 23 . Februar 1960 ein , wonach sich die Beklagte mit der schriftlichen Entscheidung des LSG gemäß § 124 Abs . 2 SGG einverstanden erklärte .

Mit der Revision beantragt die Klägerin , das Urteil des LSG , den Beschluß des Beschwerdeausschusses vom 31 . Oktober 1952 und das Urteil des OVA H ... vom 27 . Mai 1953 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen , die Scharlachfolgen der Klägerin , insbesondere ihr Hüftleiden , als gesundheitliche Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 2 BVG anzuerkennen und der Klägerin eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 v . H . zu gewähren.

Die Revision rügt Verletzung formellen und materiellen Rechts . Als Verfahrensmangel nach § 162 Abs . 1 Nr . 2 SGG werden Verletzungen des § 124 Abs . 2 SGG und § 309 der Zivilprozeßordnung (ZPO) gerügt . Das erkennende Gericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen . Bei der schriftlichen Entscheidung hätten drei Richter - ein Berufsrichter und zwei ehrenamtliche Beisitzer - mitgewirkt , welche an der letzten mündlichen Verhandlung nicht teilgenommen haben; das ergebe sich aus dem Vergleich des Protokolls vom 30 . September 1959 mit dem Kopf des Urteils vom 23 . Dezember 1959. Bei der schriftlichen Entscheidung hätten anstelle des Berufsrichters C ... Landessozialgerichtsrat Dr . H ... und anstelle der Landessozialrichter D ... und K ... die Landessozialrichter B ... und H ... mitgewirkt . Das Gericht sei daher im Sinne des § 309 ZPO nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen . Diese Vorschrift sei nach § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren anzuwenden . Danach dürfe ein Urteil von den Richtern nur gefällt werden , welche der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung beigewohnt haben . Dem Urteil liege eine mündliche Verhandlung zugrunde , weil es nach der Zurückverweisung der Sache an das LSG entscheidend auf die Erhebung von Beweisen angekommen sei . Auf den Grundsatz der Unmittelbarkeit könne nicht verzichtet werden (§ 309 ZPO; Rosenberg §§ 64 I , 1 a E , 107 III , 1) . Das müsse vor allen gelten , weil die Klägerin ihr Einverständnis zur schriftlichen Entscheidung erst zu einem Zeitpunkt abgegeben habe , als das Gericht im mündlichen Verfahren eine umfangreiche Beweisaufnahme durchgeführt hatte . Die Klägerin , die von der Möglichkeit eines Richterwechsels keine Kenntnis hatte , habe ihr Einverständnis nur für den Fall gegeben , daß der Senat in der gleichen Besetzung entscheiden würde , in der er die Beweisaufnahme durchgeführt habe . Ein insoweit beschränktes Einverständnis sei zulässig und stillschweigend erfolgt . Die Entscheidung in BGHZ 11 , 27 bis 31 , welche einen Richterwechsel für unschädlich halte , sei nicht überzeugend . Der Rechtsstreit sei zur Entscheidung reif gewesen , so daß nur das Urteil zu verkünden war , womit die in der mündlichen Verhandlung anwesende Klägerin habe rechnen können . Die Klägerin hätte ihre Zustimmung verweigert , wenn auch nur die Möglichkeit erörtert worden wäre , daß andere Richter entscheiden würden . Es seien daher die §§ 285 Abs . 2 , 309 ZPO verletzt und damit ein absoluter Revisionsgrund gegeben.

Die Klägerin rügt ferner , daß die Beklagte bis zum Erlaß des angefochtenen Urteils ihr gemäß § 124 Abs . 2 SGG erforderliches und vom LSG am 30 . September 1959 angeregtes Einverständnis mit schriftlicher Entscheidung nicht erklärt , sondern erst mit Schriftsatz vom 23. Februar 1960 nachgereicht habe . Eine derartig verspätete Einverständniserklärung sei unbeachtlich (Baumbach-Lauterbach , ZPO § 128 Anm . 6 D) , weil der Ausgang des Rechtsstreits bereits feststand und das Gericht nicht hätte im schriftlichen Verfahren entscheiden dürfen , solange das Einverständnis beider Parteien nicht vorlag . Die Revision greift den Tatbestand des angefochtenen Urteils insoweit an , als die Feststellung des LSG , daß die Parteien sich mit einer Entscheidung nach § 124 Abs . 2 SGG einverstanden erklärt hätten , nicht zutreffe. Diese Feststellung sei durch die bei den Akten befindlichen Urkunden widerlegt.

In materiellrechtlicher Hinsicht rügt die Klägerin eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs . 1 Nr . 3 SGG . Infolge Verletzung der Vorschriften der §§ 1 Abs. 2 Buchst . a und 5 Abs . 1 Buchst . c BVG habe das LSG den ursächlichen Zusammenhang ihres Hüftleidens mit der Flucht verkannt . Ohne die Flucht hätte sie sich die Scharlachinfektion nicht zugezogen.

Die Beklagte beantragt ,

die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen .

Die nicht zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164 , 166 SGG) . Sie ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr . 2 SGG statthaft , weil die Klägerin einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt hat , der auch vorliegt. Mithin ist die Revision zulässig .

Soweit die Revision bemängelt , das LSG sei bei seiner Entscheidung nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen , weil im Verhandlungstermin andere Richter mitgewirkt hätten als bei der Beratung und Entscheidung im schriftlichen Verfahren , greift die Verfahrensrüge nicht durch. Entgegen der Ansicht der Revision mußte die Besetzung des Senats bei der Beratung und Entscheidung nicht mit der Besetzung des Gerichts bei der mündlichen Verhandlung am 30 . September 1959 übereinstimmen . Dies hätte gemäß § 129 SGG nur dann der Fall sein müssen , wenn auf Grund der mündlichen Verhandlung entschieden worden wäre Eine vorausgegangene mündliche Verhandlung schließt bei Einverständnis der Beteiligten eine Fortsetzung und Beendigung des Verfahrens ohne mündliche Verhandlung nicht aus (Stein-Jonas-Pohle , ZPO , 18 . Aufl . § 128 Anm . IX) . Dasselbe gilt auch im sozialgerichtlichen Verfahren . Nachdem das LSG das schriftliche Verfahren nach § 124 Abs . 2 SGG angeordnet hatte , konnte daher in einem nach § 33 SGG zusammengesetzten Senat ohne mündliche Verhandlung über die Streitsache beraten und entschieden werden . Das Urteil ist nicht mehr auf Grund der früher durchgeführten mündlichen Verhandlung ergangen (VGH Stuttgart in VerwRspr . Bd . 6 , 802); § 129 SGG , der inhaltlich mit § 309 ZPO übereinstimmt , ist daher nicht verletzt . Auf die Besetzung des Gerichts in der mündlichen Verhandlung kam es mithin nicht mehr an . Auch der BGH hat entschieden , daß bei Überleitung in das schriftliche Verfahren nach mündlicher Verhandlung ein Richterwechsel unschädlich ist (BGHZ 11 , 27). Der erkennende Senat schließt sich der Auffassung für das sozialgerichtliche Verfahren an.

Ob die Zustimmungserklärung zur schriftlichen Entscheidung ausdrücklich oder stillschweigend auf die unveränderte Besetzung des Gerichts beschränkt und damit "mit Vorbehalt" abgegeben werden kann , - verneinend: BVerwG 6 , 18 - konnte der Senat dahingestellt lassen , weil die Klägerin ihre Zustimmung , eine Prozeßhandlung im Sinne der ZPO , in keiner Form - auch nicht stillschweigend durch konkludente Handlung - eingeschränkt hat . Das Gericht konnte daher die schriftliche Entscheidung in der nach der Geschäftsverteilung im Zeitpunkt der Beschlußfassung gegebenen Besetzung erlassen (Stein-Jonas-Pohle , ZPO , 18 . Aufl . § 128 Anm . IX 2) . Die Revision kann daher mit dieser Rüge keinen Erfolg haben .

Die Klägerin rügt ferner , das LSG habe im schriftlichen Verfahren entschieden , ohne daß die Beklagte bis zur Zustellung des Urteils ihr Einverständnis erklärt habe. Nach § 124 Abs . 1 SGG entscheidet das Gericht , soweit nichts anderes bestimmt ist , auf Grund mündlicher Verhandlung . Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden (§ 124 Abs . 2 SGG) . Diese Vorschriften bedeuten; daß die Entscheidung des Gerichts grundsätzlich auf Grund mündlicher Verhandlung zu ergehen hat . Der Grundsatz der Mündlichkeit beherrscht das sozialgerichtliche Verfahren , er beruht auf dem verfassungsrechtlich geschützten Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör (Artikel 103 Abs . 1 Grundgesetz - GG -) . Von diesem Grundsatz hat das Gesetz für das sozialgerichtliche Verfahren u . a . in § 124 Abs . 2 SGG eine Ausnahme zugelassen , wonach das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden kann . Die Einverständniserklärung ist eine Prozeßhandlung , die dem Geeicht gegenüber mündlich oder schriftlich abzugeben ist . Als genügend wird von der Rechtslehre eine Erklärung zur Niederschrift des Gerichts in einer früheren mündlichen Verhandlung angesehen (Peters-Sautter-Wolff SGG § 124 Anm . 2) . Das Gesetz äußert sich nicht darüber , bis wann die Erklärungen der Beteiligten abgegeben sein müssen . Aus den Prozeßakten ist nicht ersichtlich , daß die Beklagte vor Zustellung des Urteils mündlich oder schriftlich einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt hätte . Da die Einverständniserklärung einerseits ein Abweichen von dem Verfahrensgrundsatz der Mündlichkeit und damit einen weitreichenden Verzicht der Beteiligten auf prozessuale Rechte darstellt , andererseits eine Prozeßhandlung ist , die dem Betrieb des Verfahrens dient und auf dessen Gestaltung einwirken soll , muß sie schon ihrem Zweck nach vor Beendigung des Verfahrens vorliegen . Sie kann daher im Fall des § 124 Abs . 2 SGG wirksam nur bis zum Erlaß der Entscheidung im schriftlichen Verfahren abgegeben werden (vgl . Ule , Verwaltungsgerichtsbarkeit 1960 Bd . I § 101 Anm . II 2; II 2: "Erklärung kann bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung erfolgen"; Rosenberg , Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts , 8 . Aufl . § 108 II 1 f ., 526; BGHZ 17 , 118) . Ein erst nach der Zustellung des Urteils und damit nach Beendigung der Instanz erklärtes Einverständnis ist rechtlich bedeutungslos . Einer solchen Erklärung kann schon deshalb keine verfahrensrechtlich bedeutsame "Rück-Wirkung" beigemessen worden , weil sie erst nach Kenntnis des Gerichtsurteils abgegeben und daher durch dessen Ausspruch entscheidend beeinflußt worden sein kann . Da die Beklagte ein rechtzeitiges Einverständnis nicht erklärt hat , durfte das LSG nicht im schriftlichen Verfahren entscheiden . Es hat damit § 124 Abs . 2 SGG verletzt. Dabei kann es nicht darauf ankommen , daß die Revisionsführerin selbst einer schriftlichen Entscheidung zugestimmt hatte . Für das schriftliche Verfahren ist die Zustimmung aller Prozeßbeteiligten erforderlich. Die Vorschrift des § 124 Abs. 2 SGG dient aus rechtsstaatlichen Gründen dem Schutz der Verfahrensrechte aller Parteien; auf ihre Beachtung "verzichtet" ein Beteiligter nicht dadurch , daß er selbst dem mündlichen Verfahren zustimmt .

Die Entscheidung des LSG beruht auch auf dem von der Revision mit Erfolg gerügten Verfahrensmangel (§ 162 Abs . 2 SGG; BSG 2 , 197) . Es ist nicht auszuschließen , daß das LSG nach mündlicher Verhandlung anders entschieden hätte . Die Revision ist mithin begründet. Das angefochtene Urteil war mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Mangels einwandfrei zustandegekommener tatsächlicher Feststellungen konnte der Senat nicht in der Sache entscheiden. Sie Sache war daher gemäß § 170 Abs . 2 SGG an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen .

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten (§ 193 SGG) .

 

Fundstellen

NJW 1962, 656

MDR 1962, 340

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