Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse. Ermessen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Verbot der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers, wenn ein Leistungsträger ein Urteil angreift, das den angefochtenen Verwaltungsakt zwar aufgehoben, dem Leistungsträger jedoch die Möglichkeit der erneuten Bescheiderteilung belassen hat.

2. Zur Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Leistungsträgers an einer Überzahlung bei Aufhebung eines Verwaltungsaktes für die Vergangenheit.

 

Orientierungssatz

Da nach der Vorschrift des § 48 Abs 1 S 2 SGB 10 der Verwaltungsakt in den dort bestimmten Fällen mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden "soll", darf der Leistungsträger in atypischen Fällen nach seinem Ermessen von der rückwirkenden Aufhebung absehen (vgl BSG 23.10. 1985 9a RV 1/84 = SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8 und BSG 6.11.1985 10 RKg 3/84 = SozR 1300 § 48 Nr 19); hiervon bildet die Fallgruppe der Nr 4 keine Ausnahme.

 

Normenkette

SGB 10 § 48 Abs 1 S 2 Nr 4

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 19.04.1985; Aktenzeichen L 1 Ar 42/84)

SG Lübeck (Entscheidung vom 03.04.1984; Aktenzeichen S 8 Ar 308/82)

 

Tatbestand

Streitig ist die Rückzahlung von Förderungsleistungen für eine Umschulung; dabei geht es im Revisionsverfahren nur noch um die Fahr- und Verpflegungskosten für die Zeit vom 19. März bis 30. Juni 1981.

Dem 1970 aus Ungarn zugezogenen Kläger bewilligte die Beklagte eine Umschulung zum Bauzeichner bei der Gewerbeförderungsanstalt Hamburg, die bis zum 31. März 1981 dauern sollte. Im Januar 1981 wurde die Maßnahme bis September 1981 verlängert. Die Beklagte bewilligte daher mit Bescheid vom 4. Februar 1981 weiteres Übergangsgeld (Übg) ab 1. April 1981 und weitere Fahr- und Verpflegungskosten vom 1. März bis 30. September 1981; die entsprechenden Leistungen zahlte sie bis zum 30. Juni 1981 aus. Im Bescheid vom 16. Juli 1981 (Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 1982) hob sie den Bescheid hinsichtlich des Übg für die Zeit vom 30. April bis zum 20. Mai 1981 und hinsichtlich der Fahr- und Verpflegungskosten für die Zeit vom 19. März bis zum 30. Juni 1981 auf und forderte 1.150,17 + 875,26 = 2.025,43 DM zurück; zur Begründung führte sie an, der Kläger sei seit dem 19. März 1981 arbeitsunfähig krank gewesen; er habe gewußt bzw grob fahrlässig nicht gewußt, daß damit der Anspruch auf die Leistungen weggefallen sei (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) iVm § 50 Abs 1 SGB 10).

Der Klage haben die Vorinstanzen stattgegeben. Nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) im Urteil vom 19. April 1985 ist die Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Vergangenheit jedenfalls in der geschehenen Form und Begründung fehlerhaft. Statt einer rechtsgebundenen Entscheidung hätte gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 eine Ermessensentscheidung ergehen müssen, weil es sich um einen atypischen Fall handele. Dies ergebe sich daraus, daß die Beklagte die Erkrankung seit Ende März 1981 gekannt, aber erst im Juli 1981 über die Aufhebung entschieden habe. Darin liege ein erhebliches Mitverschulden an der Überzahlung.

Mit der zugelassenen, auf die Fahr- und Verpflegungskosten beschränkten Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 48 SGB 10. Bei Absatz 1 Satz 2 Nr 4 der Vorschrift habe sie kein Ermessen auszuüben. Zudem begründe eine verzögerte Aufhebung keinen atypischen Fall, wie die Vorläufervorschrift des § 152 Abs 1 Satz 1 Nr 2 des Arbeitsförderungsgesetzes aF (AFG aF) und der Umstand zeigten, daß der Gesetzgeber die Aufhebung innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der sie rechtfertigenden Tatsachen zulasse (§ 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10).

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben, soweit die Fahr- und Verpflegungskosten streitig sind und die Klage in diesem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die allein von der Beklagten eingelegte Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.

Was zunächst die - vom LSG uneingeschränkt bejahte - Zulässigkeit der Berufung angeht (vgl hierzu die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- in SozR 1500 § 146 Nrn 18 und 19), ist dem LSG im Ergebnis zuzustimmen, soweit die Zulässigkeit der Berufung im Rahmen der Revision noch zu prüfen ist. Bei den Fahr- und Verpflegungskosten vom 19. März bis 30. Juni 1981 ist die Berufung hinsichtlich der Aufhebung des Bewilligungsbescheides nach § 143 SGG zulässig gewesen, da hier § 144 Abs 1 Nr 2 SGG nicht eingreift. Damit mußte wegen der Berufungsfähigkeit des präjudiziellen Anspruchs in jedem Falle aber auch die Berufung hinsichtlich der davon abhängigen Rückforderung statthaft sein (SozR Nr 14 zu § 149 SGG; SozR 1500 § 146 Nr 18); es kommt daher nicht darauf an, daß sich das LSG für die im Rahmen des § 149 SGG vorgenommene Zusammenrechnung aller Rückforderungsbeträge zu Unrecht auf BSGE 24, 260 berufen hat, wie sich aus S 261 ergibt.

In der Sache kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden.

Die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 4. Februar 1982 hinsichtlich der Fahr- und Verpflegungskosten setzt nach § 48 SGB 10 voraus, daß nach seinem Erlaß eine wesentliche Änderung eingetreten war, die ein Tragen dieser Kosten durch die Beklagte nicht mehr zuließ. Nach dem festgestellten Sachverhalt, zu dem keine Verfahrensrügen erhoben sind, war das der Fall, weil der Kläger ab dem 19. März 1981 wegen einer zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankung nicht mehr an der Maßnahme teilgenommen hat. Laut dem Urteilstatbestand (vgl ferner die Sitzungsniederschrift vom 22. Februar 1985) scheint die Nichtteilnahme ihren Grund allerdings schon in einer zwischen dem 4. Februar und dem 19. März 1981 abgelegten Abschlußprüfung gehabt zu haben; auch in diesem Falle wäre jedoch die geforderte Änderung der Verhältnisse eingetreten.

Somit durfte die Beklagte im angefochtenen Bescheid vom 16. Juli 1981 die Leistungsbewilligung für die vergangene Zeit vom 16. März bis 30. Juni 1981 aufheben, wenn einer der in § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 1 bis 4 SGB 10 genannten Tatbestände erfüllt war. Davon kamen hier die Nrn 2 und 4 in Betracht. Das LSG hat wohl Nr 4 für gegeben erachten wollen; zu Nr 2 hat es angeführt, die Beklagte könne sich darauf "wegen der erfolgten Anzeigen der Arbeitsunfähigkeit nicht berufen". In den Entscheidungsgründen des LSG fehlen jedoch jegliche Ausführungen darüber, daß und warum der Tatbestand der Nr 4 erfüllt ist. Dieser konnte in zwei Alternativen erfüllt werden, nämlich wenn der Kläger wußte (1. Alternative) oder wenn er, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hatte, nicht wußte (2. Alternative), daß der Leistungsanspruch für die Zeit ab dem 19. März 1981 weggefallen war. Im Hinblick hierauf hätte das LSG die nach seiner Ansicht gegebene Alternative bezeichnen und sich mit ihren Voraussetzungen befassen müssen; dazu gehörte bei der 2. Alternative vor allem die Darlegung, daß der Kläger, was er auch im Revisionsverfahren noch bestreitet, seine Sorgfaltspflicht in besonders schwerem Maße verletzt hat. Zu beiden Alternativen der Nr 4 enthält das Urteil des LSG jedoch weder tatsächliche Feststellungen noch daran anknüpfende rechtliche Schlüsse.

Wegen dieses Mangels in den Entscheidungsgründen (§ 136 Abs 1 Nr 6 SGG), insbesondere wegen der fehlenden, im Revisionsverfahren nicht nachholbaren tatsächlichen Feststellungen, kann der Senat der Revision der Beklagten weder stattgeben noch sie zurückweisen. Beides muß daran scheitern, daß offen ist, ob der Kläger den Tatbestand der Nr 4 des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 erfüllt. Dies kann der Senat auch nicht aufgrund des Verbots der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers (Verbot der reformatio in peius) unterstellen. Hierfür genügt es nicht, daß das LSG bei der Aufhebung des angefochtenen Bescheides der Beklagten die Möglichkeit einer neuen Bescheiderteilung belassen wollte, die bei Nichterfüllung der Tatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 ausscheidet. Wenn ein Verwaltungsakt aufgehoben wird, ist der Umfang der Begünstigung oder Belastung der Beteiligten aus den Gründen der Entscheidung zu entnehmen. In den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils hat das LSG jedoch gerade nicht entschieden, daß einer der Tatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 (auch nicht der der Nr 4) erfüllt ist. Demgemäß können die Entscheidungsgründe der Beklagten keine Rechtsstellung verschafft haben, bei der die Erfüllung eines solchen Tatbestandes nicht mehr in Frage gestellt werden dürfte.

Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG zunächst Ausführungen darüber nachzuholen haben, wie es sich mit der Erfüllung dieser Tatbestände verhält; dabei wäre bei der Nr 2 ggfs noch auf die Nichtanzeige einer Abschlußprüfung und insgesamt wohl auch auf die Schwierigkeiten des Klägers im Verständnis der deutschen Sprache einzugehen. Erst wenn das LSG einen Tatbestand iS des § 48 Abs 2 Satz 1 SGB 10 für erfüllt hält, wäre (wieder) zu prüfen, ob es sich um einen atypischen Fall handelt; da nach der Vorschrift der Verwaltungsakt in den dort bestimmten Fällen mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden "soll", darf der Leistungsträger nämlich in atypischen Fällen nach seinem Ermessen von der rückwirkenden Aufhebung absehen (SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8; § 48 Nr 19); hiervon bildet die Fallgruppe der Nr 4 keine Ausnahme. Dadurch unterscheidet sich § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 von § 152 Abs 1 AFG aF, der die Rückzahlung der Leistung (mit Ausnahme der hier nicht einschlägigen Nr 3) zwingend angeordnet hat. Bei der Prüfung, ob ein besonderer Fall vorliegt, sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen (SozR aa0); dabei kann ein Mitverschulden des Leistungsträgers an der Überzahlung nicht in allen Fällen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 von vornherein außer Betracht bleiben. Dem kann nicht entgegengehalten werden, § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB 10 lasse der Verwaltung ein Jahr Zeit für die rückwirkende Aufhebung; das kann nämlich nicht bedeuten, daß sie in dieser Zeit unbesorgt weitere Überzahlungen entstehen lassen dürfe. Für die Nr 4 des § 48 Abs 2 Satz 1 SGB 10 ist jedoch zu bedenken, daß die Rechtsprechung zu § 1301 der Reichsversicherungsordnung aF (RVO aF) dem Leistungsträger die Rückforderung bei eigenem Mitverschulden (jedenfalls bei einfacher Fahrlässigkeit) nicht verwehrt hat, wenn - wie es den Alternativen der Nr 4 entspricht - der Leistungsempfänger wußte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht wußte, daß ihm die Leistung nicht zustand (SozR 2200 § 1301 Nrn 3 und 7). Sollte es gleichwohl bei einer Gesamtabwägung noch auf ein Mitverschulden der Beklagten ankommen, müßte dies klarer als im angefochtenen Urteil dargelegt werden. Dieses macht nämlich nicht deutlich, wann die Beklagte erkennen mußte, daß der Kläger nicht nur vorübergehend an der Maßnahme nicht mehr teilnahm (teilnehmen konnte); in den ersten Meldungen (Ende März, April 1981) ist nur eine zeitlich befristete Arbeitsunfähigkeit mitgeteilt worden. Außerdem müßte festgestellt werden, welche der - offenbar monatlichen - Zahlungen die Beklagte bei nicht verzögerter Aufhebung der Leistungsbewilligung hätte verhindern können; nur für diese könnte ihr überhaupt ein Mitverschulden an der Überzahlung angelastet werden.

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662161

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