Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff Halbjahreskurs. Fachschulausbildung iS von RVO § 1259 Abs 1 Nr 4 Buchst b

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, wann ein "Halbjahreskurs mit Ganztagsunterricht" iS des "Fachschulverzeichnisses 1956" des BMA vorliegt und daher als Fachschulausbildung (§ 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG = § 1259 Abs 1 Nr 4 Buchst b RVO) berücksichtigt werden kann.

 

Orientierungssatz

Halbjahreskurs iS des Fachhochschulverzeichnisses ist jeder deutlich länger als fünf Kalendermonate andauernde planmäßige Vollzeitunterricht, der nach einer im Berufsleben üblichen und vernünftigen Anschauung als Halbjahreskurs angesehen wird. Bei der Prüfung, ob in bezug auf einen Lehrgang eine solche übliche Anschauung und Beurteilung besteht, ist ebenfalls das Fachschulverzeichnis des BMA heranzuziehen. Kurse, die der BMA nach entsprechender Prüfung selbst als Halbjahreskurse einschätzt, können von den Trägern der Rentenversicherung billigerweise nicht ungünstiger beurteilt werden.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 20.02.1987; Aktenzeichen L 1 An 171/86)

SG Hannover (Entscheidung vom 15.10.1986; Aktenzeichen S 22 An 141/86)

 

Tatbestand

Streitig ist die Vormerkung des Fachschulbesuches der Klägerin vom 8. Oktober 1956 bis 22. März 1957 als Ausfallzeit nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).

Im Rahmen eines Kontenklärungsverfahrens hatte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) der 1939 geborenen Klägerin durch Bescheid vom 30. September 1985 die Zeit vom 16. April 1955 bis 13. März 1956 (Schulausbildung) und vom 1. April 1957 bis 26. März 1958 (Fachschulausbildung) als Ausfallzeiten nach § 36 Abs 1 AVG vorgemerkt.

Die Vormerkung auch der streitigen Zeit, die die Klägerin mit dem Zeugnis der "Privaten kaufmännischen Berufsfachschule Diplom- Kaufmann B.     " (B.     -Schule) in Hannover belegte, lehnte die Beklagte jedoch mit dem streitigen Bescheid vom 31. Oktober 1985 ab, weil sie nicht von § 36 Abs 1 Nr 4 AVG erfaßt werde. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 1. April 1986).

Mit ihrer Klage auf Anerkennung der streitigen Zeit als Ausfallzeit hatte die Klägerin in den Vorinstanzen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Hannover vom 15. Oktober 1986, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 20. Februar 1987). In der Begründung führt das LSG ua aus, unstreitig sei die B.     -Schule nach Art und Form der vermittelten Ausbildung als Fachschule anzusehen. Die Dauer der Ausbildung entspreche ebenfalls der einer Fachschulausbildung. Zwar habe die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hierzu gefordert, daß die Ausbildung mindestens entweder sechs Monate oder insgesamt 600 Wochenstunden umfassen müsse, doch sei die Unterschreitung dieser Mindestausbildungsdauer im vorliegenden Fall nur geringfügig. Nach den Bescheinigungen der B.     -Schule habe es sich um einen Halbjahreslehrgang mit Vollzeitunterricht gehandelt.

Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Beklagte mit der vom LSG zugelassenen Revision. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG hinsichtlich des Fachschulbesuchs und trägt vor, mit einer angeblich rechtsunschädlichen Geringfügigkeit der Unterschreitung der "Halbjahresgrenze" verkenne das LSG die Funktion dieses nach Unterrichtsdauer bzw Stundenzahl bemessenen Abgrenzungskriteriums zu kurzfristigen Maßnahmen der Fortbildung und Weiterbildung. Die Ausbildungsdauer von sechs Monaten bzw 600 Unterrichtsstunden sei eine absolute Untergrenze, auf die zwecks sachgerechter und praktikabler Abgrenzungen zu anderweitigen Maßnahmen nicht verzichtet werden könne. Im übrigen sei die Unterschreitung der Halbjahresdauer um 8,33 % und der Stundenzahl um 6,66 % nicht als gering zu bezeichnen.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG (= § 1259 Abs 1 Nr 4 Buchst b der Reichsversicherungsordnung - RVO) sind - auf die Versicherungsjahre nach § 35 AVG (= § 1258 RVO) anrechenbare - Ausfallzeiten ua Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahrs liegenden abgeschlossenen Fachschulausbildung. Der Begriff "Fachschulausbildung" ist im Gesetz selbst nicht definiert. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung angenommen, dieser Begriff sei im wesentlichen so auszulegen, wie er in dem vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) im Jahre 1956 herausgegebenen "Fachschulverzeichnis - Die berufsbildenden Schulen in der Bundesrepublik Deutschland" verstanden werde (vgl BSGE 35, 52, 53 f = SozR Nr 49 zu § 1259 RVO; BSG SozR 2200 § 1255a Nr 6; SozR 2200 § 1259 Nr 47; Nr 62, Nr 63 und 76). Hieran hält der erkennende Senat fest. Zwar ist der Begriff der Fachschule im Beschluß der Kultusministerkonferenz vom Jahre 1975 neu definiert worden. Diese neue Definition ist indessen nur für seither zurückgelegte Ausbildungen von Belang. Ob eine Ausbildung den Erfordernissen einer Fachschulausbildung im aaO genannten Sinn entspricht, richtet sich nach den Gegebenheiten zur Zeit der Ausbildung (BSG SozR 2200 § 1259 Nr 22 und 76; BSGE 48, 219, 222 = SozR aaO Nr 42; BSGE 52, 86, 87 = SozR aaO Nr 52). Die Klägerin hat die "B.     - Schule" von Herbst 1956 bis März 1957 besucht; für sie "gilt" daher das vorgenannte "Fachschulverzeichnis" vom Jahre 1956.

Nach der vom BMA aaO auf Seite 4 Nr 7 und auf Seite 29 gegebenen Definition sind Fachschulen ua "solche nicht als Hochschulen anerkannte berufsbildende Schulen, die (ua) der kaufmännischen Ausbildung dienen, deren Besuch eine ausreichende praktische Berufsvorbildung oder mindestens berufspraktische Tätigkeit voraussetzt und deren Lehrgang mindestens einen Halbjahreskurs mit Ganztagsunterricht oder in der Regel insgesamt 600 Unterrichtsstunden umfaßt". Dabei "entspricht ... der Mannigfaltigkeit der Fachschulen bzw der einzelnen Lehrgänge der Fachschulen hinsichtlich der Ausbildungsziele die ganz verschiedene Ausbildungsdauer, die zwischen einem und acht Ausbildungshalbjahren schwankt ...".

Es kann dahinstehen, ob eine geringfügige Unterschreitung der sog. 600-Stundengrenze dem Anspruch der Klägerin unschädlich ist oder ob es sich hierbei um eine feste Grenze handelt, die nicht unterschritten werden darf (so wohl BSG SozR 2200 § 1259 Nr 63). Im vorliegenden Fall kommt es deswegen nicht darauf an, weil der Unterricht der Klägerin bei der B.     -Schule jedenfalls einen "Halbjahreskurs (= Ausbildungshalbjahr) mit Ganztagsunterricht" iS des Fachschulverzeichnisses umfaßte.

Was in diesem Sinn ein mit Ganztagsunterricht ausgefüllter "Halbjahreskurs" bzw. "Ausbildungshalbjahr" ist, entbehrt ebenfalls einer gesetzlichen wie einer im Fachschulverzeichnis getroffenen Definition. Indessen bedarf keiner näheren Begründung im einzelnen, daß unter Halbjahreskurs/Ausbildungshalbjahr nicht nur ein planmäßiger Ganztagsunterricht verstanden werden kann, dessen Unterrichtsveranstaltungen im Einzelfall alle Werktage eines sechs aufeinanderfolgende Kalendermonate umfassenden Zeitraums in Anspruch nehmen. Dann nämlich ließe sich ein Halbjahreskurs/Ausbildungshalbjahr schon dann nicht annehmen, wenn am kalendermäßigen Anfang oder Ende eines nach Monaten bemessenen Zeitraums ein Wochenende, ein oder mehrere Feiertage oder eine Kombination von beiden vorläge. Würde zB in einem süddeutschen Bundesland der für die erste Hälfte des Kalenderjahres (Januar bis Juni) vorgesehene Kursunterricht erst am 7. Januar aufgenommen, weil zwischen Neujahr und Dreikönigsfest am 6. Januar (Feiertag) ein Wochenende läge, wäre eine Anerkennung als Halbjahreskurs bereits ausgeschlossen. Das erschiene lebensfremd. Deshalb ist Halbjahreskurs iS des Fachhochschulverzeichnisses jeder deutlich länger als fünf Kalendermonate andauernde planmäßige Vollzeitunterricht, der nach einer im Berufsleben üblichen und vernünftigen Anschauung als Halbjahreskurs angesehen wird. Bei der Prüfung, ob in bezug auf einen Lehrgang eine solche übliche Anschauung und Beurteilung besteht, ist ebenfalls das Fachschulverzeichnis des BMA heranzuziehen. Kurse, die der BMA nach entsprechender Prüfung selbst als Halbjahreskurse einschätzt, können von den Trägern der Rentenversicherung billigerweise nicht ungünstiger beurteilt werden.

In den die Fachschulen in der Bundesrepublik betreffenden Tafeln 11 bis 13 aaO hat der BMA unter den Handelsschulen in Niedersachsen die B.     -Schule mit dem Vermerk aufgeführt, daß die Dauer der Unterrichtsveranstaltungen "2 J bzw 1 J bzw 1/2 J" betrage und der Beginn auf "F (uH)" festgelegt sei. Diese Eintragung läßt keine vernünftigen Zweifel offen, daß die B.     -Schule in der streitigen Zeit keine Lehrveranstaltungen durchführte, die nach ihrer Anlage auf eine geringere Dauer als auf ein "Halbjahr" bemessen und ausgerichtet waren. Hiernach muß auch der Unterrichtslehrgang der Klägerin, dem sie sich in dieser Schule vom 8. Oktober 1956 bis 22. März 1957 unterzogen hat, als Fachschulausbildung iS von § 36 Abs 1 Nr 4 Buchst b AVG beurteilt werden.

Hiernach trifft das angefochtene Urteil jedenfalls im Ergebnis zu, so daß die Revision der Beklagten hiergegen zurückzuweisen war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653146

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