Leitsatz (amtlich)

1. Wer mit seiner Familie in West-Berlin wohnt, hält sich dort auch dann im Sinne des SVFAG § 1 Abs 1 Nr 1 ständig auf, wenn er tagsüber als sogenannter Grenzgänger in Ost-Berlin berufstätig ist.

2. Einem Anspruch auf Unfallrente nach dem SVFAG steht nicht entgegen, daß das Versicherungsverhältnis bei einem deutschen Versicherungsträger in Ost-Berlin zZt der Geltendmachung des Anspruchs noch besteht. Die negative Anspruchsvoraussetzung, daß der Rentenbewerber von dem Versicherungsträger außerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin keine Leistungen erhält (SVFAG § 1 Abs 1 Nr 2) ist schon dann erfüllt, wenn dieser Versicherungsträger die Leistungen abgelehnt hat; es ist nicht erforderlich, daß gegen die Ablehnung die zulässigen Rechtsbehelfe erfolglos eingelegt werden oder aussichtslos erscheinen. 3. Gewährt ein Versicherungsträger außerhalb des Bundesgebietes oder des Landes Berlin erst nach Abschluß des Berufungsverfahrens Leistungen an den Verletzten, so kann diese neue Tatsache im Revisionsverfahren nicht berücksichtigt werden.

 

Normenkette

SVFAG § 1 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-08-07; SGG § 163

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 11. Oktober 1956 wird insoweit mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben, als die Beklagte zur Rentenzahlung über den 8. April 1956 hinaus verurteilt worden ist. In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Im übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger wohnt seit mehr als 15 Jahren mit seiner Familie in West-Berlin. Er ist als Elektromeister in einem Betrieb im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin beschäftigt. In diesem Betrieb erlitt er am 9. April 1954 einen Arbeitsunfall; er zog sich einen Bruch des rechten Unterschenkels zu. Nach Beendigung des Heilverfahrens nahm er am 23. August 1954 seine Arbeit in Ost-Berlin wieder auf. Seinen Antrag auf Gewährung einer Verletztenrente lehnte die für den Elektro-Betrieb zuständige Versicherungsanstalt B... (VAB.), Bezirksverwaltungsstelle 1, mit der Begründung ab, sie entschädige nach ihrer Satzung nur Personen, die in ihrem Geschäftsbereich, also im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin, ihren Wohnsitz hätten; der Kläger müsse sich mit seinem Anspruch an die zuständige Berufsgenossenschaft in West-Berlin wenden. Daraufhin nahm der Kläger die Beklagte in Anspruch. Auf ihre Veranlassung erstattete der Facharzt für Chirurgie Dr. B... ein Gutachten; er beurteilte die auf den Unfall zurückzuführende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) des Klägers wie folgt:

"30 v.H. vom 23. August 1954 bis 22. Februar 1955, 20 v.H. vom 23. Februar bis zur Festsetzung der Dauerrente, dann voraussichtlich unter 10 v.H."

Durch Bescheid vom 12. Juli 1955 lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch des Klägers mit folgender Begründung ab: Die Anspruchsvoraussetzungen des § 1 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes (FremdRG) seien in zweifacher Hinsicht nicht erfüllt. Einmal seien nur solche Personen anspruchsberechtigt, die in einer gesetzlichen Unfallversicherung bei einem nicht mehr bestehenden, einem stillgelegten oder einem außerhalb des Bundesgebiets oder des Landes Berlin befindlichen deutschen Versicherungsträger versichert "waren". Die Versicherung des Klägers bei der VAB. im sowjetisch besetzten Sektor bestehe jedoch aufgrund seines ungelösten Arbeitsverhältnisses noch. Außerdem fehle es bei dem Kläger an dem Erfordernis des ständigen Aufenthalts im Bundesgebiet oder im Lande Berlin; denn er halte sich nicht ausschließlich in West-Berlin auf, verbringe vielmehr als sogenannter Grenzgänger infolge seiner Berufstätigkeit einen wesentlichen Teil des Tages im sowjetisch besetzten Sektor.

Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG.) den ablehnenden Bescheid der Beklagten durch Urteil vom 6. Juni 1956 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 23. August 1954 an eine vorläufige Rente von 20 v.H. der Vollrente zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat das SG. die Voraussetzungen des § 1 FremdRG mit folgender Begründung bejaht: Der Kläger halte sich ständig in West-Berlin auf, wenn er auch tagsüber im sowjetisch besetzten Sektor der Arbeit nachgehe. Er sei auch - zur Zeit des Unfalls - bei einem deutschen Versicherungsträger außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin, nämlich der VAB. (Ost), versichert gewesen. Die Tatsache, daß das Versicherungsverhältnis noch bestehe, beeinträchtige seinen Anspruch gegen die Beklagte nicht. Der Kläger erhalte auch von der VAB. (Ost) keine Rente; die VAB. habe sich sowohl dem Kläger als auch der Beklagten gegenüber geweigert, eine Rente zu zahlen.

Die Berufung der Beklagten ist vom Landessozialgericht (LSG.) Berlin durch Urteil vom 11. Oktober 1956 im wesentlichen aus den Gründen der erstinstanzlichen Entscheidung zurückgewiesen worden. Das LSG. hat die Auffassung der Beklagten nicht geteilt, daß der Kläger die zulässigen Rechtsmittel gegen die Leistungsverweigerung der VAB. (Ost) eingelegt haben müsse, ehe von einer endgültigen Leistungsverweigerung ausgegangen werden könne.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfragen hat das LSG. die Revision zugelassen.

Gegen das ihr am 8. November 1956 zugestellte Urteil des LSG. hat die Beklagte am 4. Dezember 1956 Revision eingelegt und diese am 14. Dezember 1956 unter weitgehender Wiederholung und Vertiefung ihrer im Bescheid vom 12. Juli 1955 zum Ausdruck gekommenen Auffassung begründet.

Im weiteren Verlauf des Revisionsverfahrens haben die Beklagte in Photokopie einen Bescheid des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Verwaltung der Sozialversicherung (VAB.) Ost-Berlin, vom 25. Januar 1957 und der Kläger in Abschrift ein Schreiben der VAB. (Ost) an die Beklagte vom 23. Mai 1957 vorgelegt. Nach dem angeführten Bescheid ist dem Kläger - wie er auch einräumt - aus Anlaß des Unfalls vom 9. April 1954 eine Verletztenrente von 30 v.H. der Vollrente vom 23. August 1954 an bewilligt worden. Nach dem Schreiben vom 23. Mai 1957 handelt es sich dabei um eine vorläufige Leistung, die im Falle der Rentengewährung durch die Beklagte endet und zurückgefordert wird.

In den überreichten Unterlagen sieht die Beklagte eine Bestätigung für ihre Auffassung, daß der Kläger schon früher eine Rente von dem für seine Arbeitsstätte zuständigen Versicherungsträger hätte erhalten können, wenn er alles ihm Zumutbare zur Erreichung dieses Zieles getan hätte und daß ein Anspruch nach dem FremdRG erst gewährt werden dürfe, wenn alle Möglichkeiten für eine Entschädigung durch jenen Versicherungsträger erschöpft seien. Außerdem hält die Revision aus Gründen der Prozeßökonomie die vorgelegten Urkunden ungeachtet der Bindungswirkung des festgestellten Sachverhalts (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) im Revisionsverfahren für verwertbar. Sie verweist darauf, daß im Zivilprozeß neue Tatsachen in der Revisionsinstanz vorgebracht werden dürften, wenn sie die Wiederaufnahme des Verfahrens ermöglichen. Im vorliegenden Falle hält sie die Wiederaufnahme des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 180 Abs. 1 Nr. 1 SGG für zulässig, weil sie - die Beklagte - zur Leistung verurteilt sei und die VAB. (Ost) Unfallrente gewähre.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise

festzustellen, daß die Beklagte dem Kläger eine Unfalldauerrente von dem Zeitpunkt an zu gewähren habe, zu dem die VAB. (Ost) den Widerruf der freiwilligen Leistungen erkläre.

Er bezieht sich im wesentlichen auf die Gründe des angefochtenen Urteils.

II

Die Revision ist, weil zugelassen, statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sachlich hatte das Rechtsmittel nur teilweise Erfolg.

Die Vorinstanzen haben den Kläger mit Recht als anspruchsberechtigt nach § 1 FremdRG angesehen. Er hält sich ständig im Lande Berlin auf (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 FremdRG), obwohl er seine Arbeitszeit in Ost-Berlin verbringt. Unter "ständigem Aufhalten" im Sinne dieser Vorschrift ist - dies galt auch schon für den Begriff des "Wohnorts" nach dem früheren § 1637 der Reichsversicherungsordnung (RVO) (vgl. RVO Mitgl.-Komm. § 1637 Anm. 2) - ein tatsächliches, länger dauerndes, nicht zufälliges Verweilen in einem bestimmten Gebiet zu verstehen (ebenso Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: 15. Februar 1959, Bd. I S. 294 d V und VI; Hoernigk-Jahn-Wickenhagen, Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz, Kommentar, S. 42 Anm. 6). Da der Kläger mit seiner Familie in West-Berlin wohnt und nach Beendigung seiner Arbeitsschicht täglich dorthin zurückkehrt, ist West-Berlin der Ort seines ständigen Aufenthalts in dem angeführten Sinne. Dem steht nicht entgegen, daß er tagsüber in Ost-Berlin arbeitet. "Ständig aufhalten" ist nicht gleichbedeutend mit "nie abwesend sein", sondern steht im Gegensatz zu "vorübergehend aufhalten"; dies ergibt sich aus § 1 Abs. 4 Satz 1 FremdRG, nach dem die Leistungen ruhen, wenn und solange sich der Berechtigte "nicht nur vorübergehend" außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin aufhält. Ist er nur vorübergehend, beispielsweise - wie im vorliegenden Falle - nur während der Arbeitszeit abwesend, so beeinträchtigt dies die Entstehung und den Fortbestand seines Anspruchs auf Leistungen nach dem FremdRG nicht. Der somit zutreffenden Auffassung des LSG., daß das Merkmal des "ständigen Aufhaltens" im Lande Berlin in der Person des Klägers erfüllt sei, ist die Beklagte in der Revisionsinstanz nicht mehr entgegengetreten; gleichwohl unterlag sie der Nachprüfung des Senats.

Auch die weitere Anspruchsvoraussetzung, daß der Kläger in einer gesetzlichen Unfallversicherung bei einem außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin befindlichen deutschen Versicherungsträger versichert war (§ 1 Abs. 2 Nr. 1 FremdRG), ist entgegen der Ansicht der Revision erfüllt. Das LSG. hat aus der im Gesetz gebrauchten Vergangenheitsform "versichert waren" (vgl. auch § 1 Abs. 1 Nr. 2 FremdRG: "... bei dem das Versicherungsverhältnis "bestanden hat") mit Recht nicht den Schluß gezogen, daß das Versicherungsverhältnis im Zeitpunkt der Antragstellung oder der Leistungsgewährung erloschen sein muß. Die Fassung des Gesetzes läßt sich, wie es die Vorinstanzen getan haben, unschwer so erklären, daß im Hinblick auf das - in der Vergangenheit liegende - Unfallereignis die Vergangenheitsform gewählt wurde. Die von der Revision bekämpfte Auffassung entspricht auch dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Das FremdRG wollte die Sozialversicherungsverhältnisse nicht nur der Flüchtlinge und der Vertriebenen regeln, sondern aller in der Bundesrepublik und in West-Berlin sich ständig aufhaltenden Personen, auch der seit Jahren dort wohnenden Einheimischen, die Ansprüche gegen nicht mehr bestehende, stillgelegte oder außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin befindliche deutsche Versicherungsträger haben (vgl. Hoernigk-Jahn-Wickenhagen a.a.O., Vorbem. vor § 1; Amtl. Begründung zum Entwurf des FremdRG, BT. 1. Wahlperiode, Drucks. Nr. 4201 S. 14 und 16). Der zuletzt angeführten Personengruppe gehören auch die in West-Berlin wohnenden Grenzgänger an. Wollte man ihnen bei bestehendem Versicherungsverhältnis zu einem Versicherungsträger des sowjetisch besetzten Sektors von Berlin oder der sowjetisch besetzten Zone den Leistungsanspruch nach dem FremdRG versagen, so ergäbe sich für viele dieser Versicherten die - ihnen in der Regel nicht zumutbare - Notwendigkeit, vor der Antragstellung das Arbeitsverhältnis in Ost-Berlin zu lösen. Als Zweck des FremdRG ist in der amtlichen Begründung u.a. angeführt: "... eine einheitliche Regelung für alle Fälle zu schaffen, in denen durch die Trennung der gesamtstaatlichen deutschen Sozialversicherung infolge der seit 1945 eingetretenen völker- und staatsrechtlichen Verhältnisse die Versicherten und Anspruchsberechtigten Einbußen in ihren Sozialversicherungsrechten erlitten haben" (a.a.O. S. 14). In diesem Sinne regelungsbedürftig ist auch der vorliegende Fall. Die VAB. (Ost) hatte es abgelehnt, dem Kläger Entschädigung zu gewähren, weil nach ihrer Satzung das Wohnsitzprinzip gilt, also nur die in Ost-Berlin wohnenden Beschäftigten versichert sind. Demgegenüber beruft sich die Beklagte darauf, daß derjenige Versicherungsträger zur Leistung verpflichtet sei, in dessen Bereich sich der Unfall ereignet hat. Die Diskrepanz in den beiden deutschen Sozialversicherungssystemen droht also den Kläger um jeglichen Entschädigungsanspruch zu bringen. Solche unbefriedigenden Ergebnisse wollte das FremdRG weitgehend verhindern. Dies läßt sich vor allem auch der Entstehungsgeschichte des Gesetzes entnehmen. Nach dem Regierungsentwurf war Voraussetzung für einen Leistungsanspruch u.a., daß die in § 1 Abs. 2 bezeichneten Personen von dem Versicherungsträger, bei dem das Versicherungsverhältnis bestanden hat, "wegen ihres Aufenthalts in diesen Gebieten oder wegen nachweisbarer Gefährdung ihrer Person bei der Verwirklichung ihres Anspruchs keine Leistungen erhalten können". Gegenüber dieser engen Fassung wies bei der ersten Beratung des Entwurfs im Bundestag (260. Sitzung am 16. April 1953) der Angeordnete Dr. Sch... einerseits darauf hin, daß eine persönliche Gefährdung oft nicht nachweisbar sei, andererseits zeigte er die Schwierigkeiten auf, die sich "auch für alle anderen in West-Berlin wohnenden Personen ergeben, die bei einem Träger der Sozialversicherung der sowjetisch besetzten Zone oder Ost-Berlins versichert sind, weil sie dort arbeiten." Er forderte, daß grundsätzlich "alle Menschen, die im Lande Berlin wohnen oder arbeiten, leistungsmäßig zum Versicherungsträger West-Berlins gehören" (BT. S. 12663). Am 5. Juni 1953 beschloß der Ausschuß für Sozialpolitik (21. Ausschuß des Bundestags), in § 1 Abs. 1 Nr. 2 die oben in Sperrdruck angeführten Worte zu streichen und damit der Nr. 2 die jetzige Fassung zu geben. Daraus ist nach der Auffassung des Senats zu folgern, daß der leistungsberechtigte Personenkreis weit gezogen und vor allem die Grenzgänger, wie ihre Hervorhebung während der Gesetzgebungsarbeiten zeigt, nicht ausgeschlossen werden sollten, und zwar auch dann nicht, wenn sie noch im Beschäftigungsverhältnis stehen. Die Auffassung der Revision, die vom LSG. vertretene Rechtsansicht führe zu einem doppelten Versicherungsschutz für den Grenzgänger, trifft nicht zu. Sobald der außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin befindliche deutsche Versicherungsträger eine Leistung gewährt, erlischt der Leistungsanspruch nach § 1 Abs. 1 FremdRG (§ 1 Abs. 5 Satz 1 FremdRG).

Schließlich ist auch die weitere Voraussetzung erfüllt, daß der Kläger von dem Versicherungsträger außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin keine Leistungen erhält (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 FremdRG), obwohl er einen dahin zielenden Versuch unternommen hat. Das Erfordernis des vergeblichen Versuchs ist zwar in § 1 Abs. 1 FremdRG nicht ausdrücklich enthalten, wird aber mit Recht aus § 1 Abs. 5 Satz 1 FremdRG hergeleitet (vgl. Brackmann a.a.O. S. 294 d IX; Hoernigk-Jahn-Wickenhagen a.a.O. § 1 Anm. 8). Nach den vom LSG. getroffenen Feststellungen hat es die VAB. (Ost) mit Schreiben vom 9. Dezember 1954 abgelehnt, den Kläger zu entschädigen und hat demgemäß jedenfalls bis zur letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz keine Leistungen erbracht. Die Revision rügt zwar, die Feststellung, daß keine Leistungen gewährt würden, sei unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht zustande gekommen. Diese Rüge ist jedoch unbegründet und vermag deshalb die Bindungswirkung des § 163 SGG nicht zu beeinträchtigen. Es ist nicht ersichtlich, was das LSG. angesichts des Schreibens der VAB. (Ost) vom 9. Dezember 1954 an die Beklagte zur weiteren Erforschung des Sachverhalts noch hätte unternehmen sollen. Entgegen der Auffassung der Revision war es nicht nach § 103 SGG verpflichtet, den Inhalt der Satzung der VAB. (Ost) festzustellen und deren Rechtsstandpunkt zu überprüfen. Der Senat ist der Revision auch nicht in der Auffassung gefolgt, der Kläger sei erst leistungsberechtigt, wenn er die ihm gegen die Versagung der Entschädigung durch die VAB. (Ost) zustehenden Rechtsbehelfe erfolglos eingelegt habe oder solche aussichtslos erschienen. Diese Auffassung findet im Gesetz keine Stütze und würde zu dem nicht vertretbaren Ergebnis führen, daß der Verletzte, der wegen der Entfernung zum Sitz der zuständigen Instanzen und wegen der Schwierigkeit, über die von ihm zu unternehmenden Schritte richtig unterrichtet zu werden, in der Regel nicht in der Lage ist, auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken, oft erst nach vielen Jahren vergeblichen Prozessierens dazu käme, das Entschädigungsverfahren nach dem FremdRG zu betreiben.

Das erst in der Revisionsinstanz in den Rechtsstreit eingeführte neue Vorbringen der Beklagten, die VAB. (Ost) habe ihren ursprünglich ablehnenden Standpunkt aufgegeben und dem Kläger bis auf weiteres eine Verletztenrente bewilligt, konnte vom Senat nicht berücksichtigt werden, weil es im Widerspruch steht zu der gemäß § 163 SGG das Bundessozialgericht (BSG.) - bindenden Feststellung des LSG., der Kläger erhalte von dem für seine Arbeitsstätte zuständigen Versicherungsträger keine Leistungen. Die dem § 163 SGG entsprechende Vorschrift des § 561 der Zivilprozeßordnung (ZPO), die dem Zwecke dient, schwebende Verfahren möglichst schnell rechtskräftig abzuschließen, hat allerdings in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der Zivilgerichtsbarkeit insofern eine Durchbrechung erfahren, als neue Tatsachen, welche Wiederaufnahmegründe nach § 580 ZPO enthalten, unter gewissen Voraussetzungen in der Revisionsinstanz berücksichtigt werden (vgl. RG., DR 1944 S. 498; BGHZ 18 S. 59). Ob solche Ausnahmen auch für das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zuzulassen sind, kann unerörtert bleiben, weil der Beklagten kein Wiederaufnahmegrund zur Seite steht. § 179 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 580 Nr. 7 Buchst. b ZPO ist, wie die Revision einräumt, nicht anwendbar; ein Wiederaufnahmegrund im Sinne dieser Vorschrift bestände nur, wenn die vorgelegten Urkunden vor dem Zeitpunkt errichtet wären, in dem der Beklagten - gegebenenfalls - die Möglichkeit genommen gewesen wäre, sie im Berufungsverfahren zu benutzen, die Urkunden stammen jedoch aus der Zeit nach Abschluß des Berufungsverfahrens (vgl. hierzu Stein-Jonas, ZPO, § 580. Anm. IV. 2 b; Baumbach-Lauterbach, ZPO, § 580 Anm. 4 c; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Aufl., S. 746 j). Ebensowenig sind die besonderen Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 180 Abs. 1 Nr. 1 SGG gegeben. Selbst wenn diese Vorschrift auf Versicherungsträger außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin anwendbar wäre, so steht ihrer - direkten oder sinngemäßen - Anwendung auf den vorliegenden Fall schon die Tatsache entgegen, daß die VAB. (Ost) den Anspruch des Klägers nicht "endgültig anerkannt" hat, sondern - wie die Beteiligten übereinstimmend vorgetragen haben - lediglich bis auf weiteres eine widerrufliche Rente gewährt.

Da das neue Vorbringen der Beklagten somit keinen Wiederaufnahmegrund enthält, bedurfte es nicht der Prüfung, unter welchen besonderen Voraussetzungen es anderenfalls im Revisionsverfahren zu berücksichtigen gewesen wäre. Es sei aber darauf hingewiesen, daß ein dringendes Bedürfnis, den Grundsatz des § 163 SGG zu durchbrechen, in Fällen wie dem vorliegenden schon deshalb in der Regel nicht anzuerkennen sein wird, weil der Leistungsanspruch des § 1 Abs. 1 FremdRG erlischt, sobald für denselben Versicherungsfall ein Träger der Sozialversicherung oder eine andere Stelle außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin die Leistungen aufnimmt (§ 1 Abs. 5 FremdRG). Der nach § 7 FremdRG zuständige Versicherungsträger hat daher die Möglichkeit, einen Entziehungsbescheid zu erlassen und ist auf die weitere Inanspruchnahme der Gerichte zunächst nicht angewiesen.

Nach alledem hat das LSG. den Kläger mit Recht dem berechtigten Personenkreis des § 1 FremdRG zugerechnet und ihm einen Anspruch auf Leistungen nach den im Bundesgebiet geltenden Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 2 FremdRG) zugebilligt.

Trotzdem mußte das angefochtene Urteil teilweise aufgehoben werden. Das LSG. hat zwar - in Übereinstimmung mit dem SG. - die Frage, ob der Kläger am 23. August 1954 (Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Arbeit) infolge des Arbeitsunfalls in seiner Erwerbsfähigkeit um mindestens ein Fünftel beschränkt war, geprüft und bejaht und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß dem Kläger gemäß § 559 a RVO eine Verletztenrente nach einer MdE. von 20 v.H. zustehe. Es hat aber zu prüfen unterlassen, ob die Anspruchsvoraussetzungen für den gesamten Zeitraum bis zur letzten mündlichen Verhandlung gegeben waren. Hinsichtlich des Ausmaßes der Unfallfolgen war ihm eine so umfassende Beurteilung gar nicht möglich, weil das einzige ärztliche Gutachten, dasjenige des Dr. B... vom 12. März 1955, eine abschließende Äußerung nur für den Zeitraum, bis zu dessen Ablauf die Dauerrente festzustellen gewesen wäre, also bis zum 9. April 1956 (§ 1586 Abs. 2 Satz 1 RVO), enthält. Für die spätere Zeit fehlte es dem LSG. an jeglichen Unterlagen für die Bemessung der MdE. des Klägers. Die Unterlassung des LSG. betrifft nicht nur die Aufklärung des Sachverhalts, sondern stellt sich als Fehler in der Anwendung des materiellen Rechts dar und mußte deshalb von Amts wegen berücksichtigt werden. Dies hatte zur Folge, daß das angefochtene Urteil insoweit mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben wurde, als die Beklagte zur Rentenzahlung über den 8. April 1956 hinaus verurteilt worden ist. In diesem Umfang mußte die Sache, da der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht selbst entscheiden konnte, zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG). Im übrigen war die Revision der Beklagten zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 266

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