Leitsatz (amtlich)

1. Ein während des Revisionsverfahrens ergangener Bescheid, der den streitigen aufhebt, aber die gleiche Rechtsfolge nur mit einer neuen Begründung ausspricht, ist kein neuer Verwaltungsakt im Sinne von SGG § 171 Abs 2; er ist daher von dem Revisionsgericht nachzuprüfen.

2. Die Überleitung von Rechtsansprüchen in ALfuV HE § 5 Abs 3 ist nicht durch die Ermächtigung in AVAVG 1927 § 115 gedeckt und daher unwirksam.

 

Normenkette

SGG § 171 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; AVAVG § 115; AVAVG 1927 § 115; AlfuV HE § 5 Abs. 3

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 4. Dezember 1957 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger bezog Arbeitslosenunterstützung (Alu) und anschließend Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Im November 1954 wurde ihm die Alfu rechtskräftig entzogen, weil er nicht mehr arbeitsfähig war. Bereits mit Schreiben vom 11. Dezember 1951 hatte das Arbeitsamt Gießen (ArbA), gestützt auf § 5 Abs. 3 der Hessischen Alfu-Verordnung, bei dem Regierungspräsidenten in Darmstadt einen Ersatzanspruch für die gezahlte Alfu geltend gemacht, nachdem es erfahren hatte, der Kläger erhalte demnächst Übergangsgebührnisse.

Durch Wiedergutmachungsbescheid des Bundesministers des Innern vom 22. Dezember 1954 wurde dem Kläger rückwirkend ab 1. April 1950 eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) bewilligt. Daraufhin bezifferte die Beklagte mit Schreiben vom 18. April 1955 gegenüber der Staatsoberkasse in Darmstadt den Erstattungsanspruch auf 1.125,45 DM. Durchschrift des Schreibens mit Rechtsmittelbelehrung wurde dem Kläger am 20. April 1955 zugestellt. Er legte kein Rechtsmittel hiergegen ein. Am 22. September 1956 beantragte der Kläger beim ArbA die Auszahlung des mit seiner Entschädigung verrechneten Betrages. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 21. März 1957 abgelehnt, wobei sich das ArbA nicht darauf berief, daß der Bescheid vom 18. April 1955 bindend geworden sei, vielmehr in eine erneute Prüfung der Sach- und Rechtslage eintrat. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 6. April 1957 zurückgewiesen; auch in diesem Bescheid wurde davon ausgegangen, daß durch den Bescheid vom 21. März 1957 der Rechtsweg für den Kläger erneut eröffnet worden sei.

Mit der Klage vor dem Sozialgericht (SG) begehrte der Kläger, die Bescheide vom 21. März 1957 und vom 6. April 1957 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn den Betrag von 1.125,45 DM zurückzuzahlen. Die Klage wurde durch Urteil des SG Fulda vom 14. August 1957 abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung des Klägers durch Urteil vom 4. Dezember 1957 mit der Begründung zurück, § 10 Abs. 2 BEG, der die Überleitung des Entschädigungsanspruchs auf den Rechtsträger der Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vor dem 1. November 1953 ausschließe, sei erst am 1. April 1956 in Kraft getreten. Deshalb könne diese Vorschrift auf den vorliegenden Fall, in dem die Alhi bereits zurückerstattet worden sei, keine Anwendung finden. § 10 Abs. 2 BEG betreffe nur die Fälle, in denen der Ersatzanspruch noch nicht verwirklicht worden sei. Das LSG ließ die Revision zu.

Der Kläger legte am 12. April 1958 gegen das am 13. März 1958 zugestellte Urteil Revision ein und begründete sie nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist am 12. Juni 1958.

Während des Revisionsverfahrens hob das ArbA mit Schreiben vom 23. März 1961 an den Regierungspräsidenten in Darmstadt seine Anzeige vom 11. Dezember 1951 und den Bescheid vom 18. April 1955 (nicht aber auch die Bescheide vom 21. März und 6. April 1957) auf und teilte mit, der Anspruch des Klägers auf Versorgungsbezüge in Höhe von 1.125,45 DM gehe gemäß § 186 Abs. 1 in Verbindung mit § 144 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in der Fassung vom 3. April 1957 (BGBl I, 323) auf die Bundesrepublik über; durch dieses Verfahren werde die Erstattung lediglich auf eine andere Rechtsgrundlage gestellt. Durchschrift dieses Bescheides wurde dem Kläger übersandt mit dem Hinweis darauf, daß sein Anspruch gegenüber dem Regierungspräsidenten in Höhe von 1.125,45 DM auf die Bundesrepublik bzw. die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (EfArb) übergegangen sei, nachdem das ArbA dem Kläger die Alfu in dieser Höhe gemäß § 185 AVAVG nF mit Wirkung vom 20. März 1961 entzogen habe. Dieser Bescheid gelte gemäß § 171 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als mit der Klage beim SG angefochten.

Der Kläger ist der Auffassung, die Verfügung vom 23. März 1961 sei trotz der Aufhebung der früheren Bescheide kein neuer, selbständiger Verwaltungsakt, weil sie nur eine neue Begründung der früheren Verwaltungsakte darstelle. Es müsse daher auch über diesen Bescheid durch das Revisionsgericht entschieden werden. Die Überleitung der Entschädigung auf das ArbA sei unwirksam.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Hessischen LSG vom 4. Dezember 1957 und des SG Fulda vom 14. August 1957 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die in Anspruch genommene Entschädigung von DM 1.125,40 an den Kläger zurückzuzahlen,

hilfsweise, das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische LSG zurückzuverweisen,

bzw. die Hauptsache für erledigt zu erklären und der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.

Die Beklagte beantragt,

das Revisionsverfahren in der Hauptsache für erledigt zu erklären.

Sie meint, die Hauptsache sei durch die Aufhebung der früheren Bescheide erledigt; der neue Bescheid gelte gemäß § 171 Abs. 2 SGG als vor dem SG angefochten.

II.

Die durch die Zulassung statthafte auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet.

Die Beklagte hat zwar am 23. März 1961 die alten Verwaltungsakte vom 11. Dezember 1951 und 18. April 1955 (nicht aber auch die vom 21. März und 6. April 1957) aufgehoben. Damit ist jedoch der Rechtsstreit nicht, wie die Beklagte meint, in der Hauptsache erledigt; vielmehr hat der Senat auch über den Bescheid vom 23. März 1961 zu entscheiden. Nach § 171 Abs. 2 SGG gilt, wenn während des Revisionsverfahrens der angefochtene Verwaltungsakt durch einen neuen abgeändert oder ersetzt wird, der neue Verwaltungsakt als mit der Klage vor dem SG angefochten, es sei denn, daß der Kläger durch den neuen Verwaltungsakt klaglos gestellt wird oder dem Klagebegehren durch die Entscheidung des Revisionsgerichts zum ersten Verwaltungsakt in vollem Umfange genügt wird. Diese Vorschrift ist aber hier nicht anwendbar, weil der Bescheid vom 23. März 1961 kein neuer Verwaltungsakt ist, wie ihn diese Vorschrift meint, sondern trotz seiner Form und seines Wortlauts in Wirklichkeit nur eine andere Begründung der bisherigen Maßnahmen enthält. In den Verfügungen von 1951, 1955 und 1957 wurden als Ersatz für gezahlte Alfu die Entschädigungsansprüche des Klägers übergeleitet, gestützt auf § 5 Abs. 3 der Hessischen Alfu-Verordnung. In der Verfügung von 1961 wird das gleiche, die Überleitung wegen der gleichen Forderung bezüglich der gleichen Entschädigungsansprüche ausgesprochen, gestützt auf § 186 AVAVG. Wenn in dieser Verfügung auch die Entziehung und Rückforderung der Alhi gemäß § 185 AVAVG angeordnet wurde, so geschah dies nur, um eine Grundlage für die Überleitung nach § 186 AVAVG zu haben, die eine Entziehung und Rückforderung nach § 185 AVAVG zur Voraussetzung hat. Es wurde also nur mit einer anderen Begründung die gleiche Rechtsfolge herbeigeführt und kein neuer Verwaltungsakt gesetzt. Für die Identität der Verwaltungsakte spricht auch der Umstand, daß die Beklagte den übergeleiteten Betrag erhalten hat und auch behalten will; es handelt sich also lediglich um die Aufrechterhaltung des bereits bestehenden Zustandes. Derartige Fälle werden durch § 171 Abs. 2 SGG nicht erfaßt. Während sonst im Laufe des Verfahrens ergangene Verwaltungsakte, soweit sie den angefochtenen abändern oder ersetzen, in erster und zweiter Instanz nach §§ 96, 153 SGG Gegenstand des erst- und zweitinstanzlichen Verfahrens werden und vom SG und LSG in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nachgeprüft werden, mußte für das Bundessozialgericht (BSG) eine Sonderregelung getroffen werden, weil dieses einen neuen Bescheid nur in rechtlicher Hinsicht nachprüfen könnte. Eine Nachprüfung muß aber auch in tatsächlicher Hinsicht möglich sein; deshalb gilt ein während des Revisionsverfahrens ergangener Bescheid als vor dem SG angefochten. Diese Sicherung ist jedoch entbehrlich, wenn der neue Bescheid sich nur als eine andere rechtliche Begründung des alten darstellt. Denn das BSG hat ohnehin unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Der Senat ist mithin befugt, auch den Verwaltungsakt vom 21. März 1961 nachzuprüfen.

Die Beklagte hatte die Überleitung der Entschädigungsansprüche auf § 5 Abs. 3 Satz 2 der Hessischen Alfu-Verordnung (Verordnung des Hessischen Ministers für Arbeit und Wohlfahrt vom 5. Juli 1948 in der Fassung der Verordnung vom 3. Juni 1949 - GVBl S. 83 -) gestützt, die im Gegensatz zu den entsprechenden Verordnungen von Bayern, Württemberg-Baden und Bremen eine solche Überleitung vorsah. Der Hessische Arbeitsminister war jedoch nicht befugt, eine derartige Maßnahme im Wege der Verordnung einzuführen. Die Verordnung ist auf Grund des § 115 AVAVG in der in der amerikanischen Besatzungszone geltenden Fassung ergangen. Hiernach war das Arbeitsministerium ermächtigt, im Einvernehmen mit den zuständigen Landesbehörden zu bestimmen, daß abweichend von den Vorschriften der §§ 95 bis 99, 105 bis 107 Alu als Arbeitslosenfürsorge aus Landesmitteln durch die Arbeitsämter gewährt wurde. Die Ermächtigung erstreckte sich also nur darauf, für die Alfu ganz bestimmte Abweichungen (bezüglich Anwartschaft, Dauer und Höhe) festzulegen. Sie ergab aber nicht die Grundlage dafür, in Forderungsrechte des Arbeitslosen einzugreifen und sie zum Ersatz von überzahlter Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Die Überleitungsverfügungen des ArbA können daher nicht auf § 5 Abs. 3 der Hessischen Alfu-Verordnung gestützt werden.

Auch auf § 186 AVAVG nF kann sich die Beklagte nicht zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen berufen. Es kann dahinstehen, ob die im Streit befindliche Forderung des Klägers überhaupt unter die in § 186 genannte fällt. Jedenfalls ist diese Vorschrift erst am 1. April 1957 in Kraft getreten und daher auf die vorher ausgesprochenen Überleitungen nicht anwendbar. Da sie eine Schlechterstellung des Arbeitslosen gegenüber dem früheren Rechtszustand bringt, kann sie auch nicht auf schwebende Fälle angewandt werden, wie das BSG in seinem insoweit nicht abgedruckten Urteil vom 30. August 1960. - SozR Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG) § 47 Nr. 10 - entschieden hat. Auch indem die Beklagte erst am 21. März 1961, also nach dem 1. April 1957, die Überleitung neu verfügt hat, kann sie sich nicht auf § 186 AVAVG nF berufen, weil es sich - wie oben bereits ausgeführt - in Wirklichkeit nicht um einen neuen Verwaltungsakt, sondern nur um eine neue Begründung der Verwaltungsakte von 1951 bzw. 1955 handelt.

Die Überleitungsverfügungen der Beklagten sind daher sämtlich rechtswidrig und deshalb aufzuheben.

Es muß jedoch geprüft werden, ob - nachdem die Beklagte die Alfu wegen rückwirkenden Wegfalls der Bedürftigkeitsvoraussetzungen entzogen hat - die Rückforderung der nunmehr zu Unrecht bezogenen Leistungen nach § 185 AVAVG nF gerechtfertigt ist. Denn diese Vorschrift, die ebenfalls am 1. April 1957 in Kraft trat, ist, weil sie Vergünstigungen einführt, nach der ständigen Rechtsprechung des Senats auch auf am 1. April 1957 noch laufende Fälle anzuwenden (vgl. BSG 10, 13).

Da tatsächliche Feststellungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers fehlen, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglicht hätten, muß das Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 und 4 SGG).

Diesem wird auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.

 

Fundstellen

BSGE, 105

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