Entscheidungsstichwort (Thema)

Befragung des ärztlichen Sachverständigen

 

Orientierungssatz

1. Zur Befragung des ärztlichen Sachverständigen durch Beteiligte im sozialgerichtlichen Verfahren.

2. Beantragt der Versicherte eine Gegenüberstellung von sich in ihren Diagnosen widersprechenden Ärzten, so ist der Antrag zumindest auf einen Antrag zur Befragung des vom Gericht bestellten ärztlichen Gutachters umzudeuten, der das für den Versicherten bezüglich seines Rentenbegehrens nachteilige Gutachten entworfen hat.

3. Bei Vorliegen unterschiedlicher medizinischer Beurteilungen kann das Fragerecht nicht mit der Begründung abgeschnitten werden, das Gericht sehe den medizinischen Sachverhalt aufgrund der - für den Versicherten negativen - Äußerungen des beauftragten ärztlichen Sachverständigen bis zur Entscheidungsreife als geklärt an.

 

Normenkette

SGG § 118 Abs 1; ZPO §§ 397, 402, 411 Abs 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 29.11.1985; Aktenzeichen L 6 Kn 13/84)

SG München (Entscheidung vom 09.02.1984; Aktenzeichen S 15 Kn 45/82)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der beklagten Bundesknappschaft Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Der 1934 geborene Kläger arbeitete nach dem Besuch der Volksschule zunächst als Rekultivierungsarbeiter, dann als Vorrichtungsarbeiter im Bereich der knappschaftlichen Rentenversicherung. Nach einer längeren Zeit der Arbeitslosigkeit war er im Bereich der Arbeiterrentenversicherung als Bauhelfer tätig. Zuletzt arbeitete er - über 20 Jahre - als LKW-Fahrer bei der B. B. AG. Im Januar 1981 wurde er arbeitsunfähig.

Am 17. April 1981 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Rentenantrag wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Anspruch auf Gewährung der Gesamtleistung aus der Rentenversicherung und auch einen Anspruch auf Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit ab (Bescheid vom 22. Oktober 1981; Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1982).

Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Februar 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 29. November 1985 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Der Sachverständige Prof. Dr. Z. von der Orthopädischen Klinik M./H. habe beim Kläger einen Bandscheibenvorfall nicht bestätigt. Es bestünden nach Prof. Dr. Z. lediglich leichte degenerative Veränderungen an der Lendenwirbelsäule und mäßige degenerative Veränderungen an der Halswirbelsäule. Ob ein Bandscheibenvorfall vorliege, könne aber auch dahinstehen. Entscheidend sei, daß der Kläger nach den übereinstimmenden Aussagen der vom Senat befragten Sachverständigen (Prof. Dr. Z. als Orthopäde und Prof. Dr. F. als Neurologe) in seiner körperlichen Leistungsfähigkeit nicht wesentlich eingeschränkt sei. Dem Kläger seien noch eine Vielzahl von Tätigkeiten eines Berufskraftfahrers möglich und zumutbar.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt, die er auf Verletzungen des formellen und materiellen Rechts durch das Berufungsgericht stützt.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen; hilfsweise beantragt er sinngemäß, die Urteile der Vorinstanzen sowie den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit ab Antragstellung zu verurteilen.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die vom LSG verfahrensfehlerfrei festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung über die begehrte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht aus.

Hinsichtlich der Bewertung der vom Kläger in den Vordergrund gestellten Beschwerden auf Grund eines behaupteten Bandscheibenvorfalls hat das LSG sich auf die gutachterlichen Äußerungen von Prof. Dr. Z. gestützt. Dieses Beweisergebnis ist jedoch nicht verwertbar, da es - wie der Kläger formgerecht gerügt hat (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist.

Der Kläger hatte in der mündlichen Verhandlung des LSG vom 29. November 1985 - ua - beantragt "die Ärzte Dr. L. und Dr. H. einander gegenüberzustellen". Auf eine Gegenüberstellung hatte er allerdings schon deswegen keinen Anspruch, weil Dr. H. vom Gericht nicht als ärztlicher Sachverständiger bestellt worden war. Indes beinhaltet der gestellte Antrag auch das Begehren, dem Sachverständigen des Gerichts Fragen stellen zu können. Dr. L. hatte zusammen mit Prof. Dr. Z. das Gutachten erstattet, auf das sich das LSG stützt. Dr. H., Chefarzt des städtischen Marienkrankenhauses Amberg, hatte - anders als Prof. Dr. Z. und Dr. L.- einen Bandscheibenvorfall bejaht. Erkennbar war also, daß der Kläger der ärztlichen Hilfsperson des Sachverständigen, der das für sein Rentenbegehren nachteilige Gutachten entworfen hatte (Dr. L.), einen entsprechenden Vorhalt machen wollte. Ob gleichwohl Prof. Dr. Z. als der vom LSG bestellte Sachverständige der zutreffende Adressat für die beabsichtigten Fragen gewesen wäre, kann dahingestellt bleiben. Denn es wäre Sache des Vorsitzenden gewesen, den insoweit unklaren Antrag mit dem Kläger zu erörtern und den Antrag sachdienlich stellen und gegebenenfalls ergänzen zu lassen (§§ 106 Abs 1, 112 Abs 2 SGG). Denn was der Kläger prozessual wollte, war erkennbar: Er wollte dem Sachverständigen selbst Fragen stellen. Hierzu war er aber gemäß § 118 Abs 1 SGG iVm §§ 402, 397 Zivilprozeßordnung (ZPO) berechtigt und zwar unabhängig davon, ob er daneben auch noch mit Erfolg die gerichtliche Anordnung des Erscheinens des Sachverständigen zur Erläuterung des schriftlichen Gutachtens iS des § 411 Abs 3 ZPO hätte beantragen können (vgl Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 45. Auflage, Anm 5b, zu § 411 mwN).

Der 4b Senat des BSG hat mit Urteil vom 16. Januar 1986 (SozR 1750 § 411 Nr 2) zwar entschieden, daß im sozialgerichtlichen Verfahren ein auf die §§ 118 Abs 1 SGG, 411 Abs 3 ZPO gestützter Antrag grundsätzlich bereits vor dem Verhandlungstermin schriftlich anzubringen und seine Sachdienlichkeit darzulegen ist. Ob dies gleichermaßen auch für das Fragerecht iS der §§ 118 Abs 1 SGG, 402, 397 ZPO zu gelten hat und ob davon bejahendenfalls im vorliegenden Fall im Hinblick auf die dem Kläger erst zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung vom 29. November 1985 zugegangene und für die Sachdienlichkeit der beabsichtigten Befragung maßgebliche Stellungnahme des Dr. H.(vgl Bl 151 und 153 LSG-Akte) eine Ausnahme zu machen wäre, kann offenbleiben. Denn das LSG hat den diesbezüglichen Antrag nicht mit der Begründung abgelehnt, er sei verspätet gestellt worden. Vielmehr hat es in seinem Urteil lediglich ausgeführt, es sehe "mit Rücksicht auf die Äußerungen der vom Senat bestellten ärztlichen Sachverständigen den medizinischen Sachverhalt bis zur Entscheidungsreife geklärt an", so daß eine weitere Aufklärung von Amts wegen nicht erforderlich sei. Diese Begründung betrifft weder die Frageberechtigung iS der §§ 118 Abs 1 SGG, 397, 402 ZPO noch wäre sie dafür rechtlich relevant. Sie kann nur als Begründung für die Ablehnung des vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 29. November 1985 außerdem noch zusätzlich gestellten Antrags auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens gesehen werden.

Es ist auch nicht auszuschließen, daß bei Ausübung des dem Kläger zustehenden Fragerechts eine andere, für ihn günstigere Entscheidung des LSG ergangen wäre. Jedenfalls bestand die Möglichkeit, daß der ärztliche Sachverständige des Gerichts sich nach entsprechender Fragestellung die von Dr. H. in der Stellungnahme vom 21. November 1985 vertretenen medizinischen Beurteilung eines Bandscheibenvorfalls beim Kläger - in Abweichung von seinem Gutachten vom 1. Juli 1985 - zu eigen gemacht hätte. Dann hätte das LSG seine Entscheidung nicht mehr auf dieses Gutachten stützen können, weil die dort bejahte Leistungsfähigkeit des Klägers als LKW-Fahrer auf der Annahme basiert, daß beim Kläger kein Bandscheibenschaden besteht (vgl insbesondere die Ausführungen im Gutachten S 18). Das LSG hat aber seine Ablehnung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit des Klägers allein damit begründet, daß der Kläger noch eine Vielzahl von Tätigkeiten innerhalb des von ihm "beschrittenen Berufsfeldes des Berufskraftfahrers" zumutbar ausüben könne. Andere, dem Kläger womöglich iS der §§ 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung, 46 Abs 2 Reichsknappschaftsgesetz noch zumutbare Verweisungstätigkeiten hat es nicht in Betracht gezogen.

Da somit die Entscheidung des LSG auf die zu bejahende Verletzung der §§ 118 Abs 1 SGG, 397, 402 ZPO beruhen kann, mußte das angefochtene Urteil gemäß § 171 Abs 2 Satz 2 SGG aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, ohne daß die vom Kläger noch gerügten weiteren Verfahrensverstöße zu prüfen waren.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659026

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