Entscheidungsstichwort (Thema)

Einbeziehung neuer Bescheide in das Berufungsverfahren

 

Orientierungssatz

Die Vorschrift des § 96 SGG gilt auch im Berufungsverfahren, auch wenn darüber nicht nur das Vorverfahren, sondern auch die erste Gerichtsinstanz verlorengeht, so daß das LSG nicht auf die Berufung, sondern auf die Klage zu entscheiden hat. Es hat dann von sich aus auf eine Ergänzung der Anträge der Beteiligten, die der neuen Prozeßlage entsprechen, hinzuwirken (vgl BSG vom 24.10.1956 2 RU 114/55 = BSGE 4, 24). Bezieht das LSG neue Bescheide, die aus denselben Rechtsgründen wie die Erstbescheide ergangen sind, nicht in das Verfahren ein, liegt ein Verstoß gegen § 96 SGG und damit ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vor.

 

Normenkette

SGG § 96 Abs 1, § 106 Abs 1, § 160 Abs 2 Nr 3

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 10.12.1987; Aktenzeichen L 5 Ka 9/87)

SG Mainz (Entscheidung vom 11.03.1987; Aktenzeichen S 1 Ka 123/86)

 

Tatbestand

Die Beklagte hat das Honorar des als Kinderarzt zur kassenärztlichen Versorgung zugelassenen Klägers hinsichtlich der Quartale IV/1985 und I/1986 wegen übermäßiger Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit um rund 35.960,-- DM gekürzt. Das Sozialgericht (SG) hat beide Bescheide (Bescheid vom 12. Mai 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 1986 sowie einen zweiten, nach Klageerhebung ergangenen Bescheid ohne Datum) aufgehoben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG), nachdem im Berufungsverfahren der Kürzungsbetrag um rund 9.770,-- DM reduziert worden war, unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abgewiesen.

Mit der Revision rügt der Kläger ua die Nichtanwendung des § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er habe mit seiner Berufungserwiderungsschrift vom 2. Juni 1987 dargelegt, daß zwei weitere Bescheide, nämlich hinsichtlich der Quartale III und IV/1986, aus gleichen Rechtsgründen ergangen seien. Das LSG habe jedoch, ohne in der mündlichen Verhandlung darauf einzugehen, über die neuen Bescheide nicht mitentschieden.

Er beantragt,

1. das Urteil des LSG Mainz vom 10. Dezember 1987

- Az.: L 5 Ka 9/87 - aufzuheben,

2. die Honorarbescheide der Beklagten betreffend

die Quartale IV/85, I/86, III/86 und IV/86 aufzuheben,

hilfsweise die Neuberechnungen IV/85 und I/86 der Beklagten aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Wie der Kläger in seinem Schriftsatz vom 2. Juni 1987 gegenüber dem LSG dargelegt hat, hatte die Beklagte nach Klageerhebung zwei weitere Bescheide, nämlich hinsichtlich der Quartale III und IV/1986 aus den gleichen Rechtsgründen - wegen übermäßiger Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit - erlassen und die Honoraranforderung des Klägers um weitere rund 4.677,-- DM (III/86) bzw 10.504,-- DM (IV/86) gekürzt. Dabei hat der Kläger ausdrücklich auf die Einbeziehung gemäß § 96 SGG hingewiesen und beantragt, auch diese Bescheide aufzuheben. Das LSG hat die Bescheide ohne Begründung nicht miteinbezogen. Damit hat es gegen § 96 SGG verstoßen, so daß sein Urteil wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels (BSGE 4, 24, 26) aufzuheben war. Wird nach Klageerhebung der Verwaltungsakt durch einen neuen abgeändert oder ersetzt, so wird auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Diese Vorschrift ist unter dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie auszulegen (BSGE 47, 242, 243 mwH; Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 3. Aufl 1987, RdNr 4 zu § 96 mwH). Indem die beiden neuen Verwaltungsakte aus denselben Rechtsgründen der übermäßigen Ausdehnung der kassenärztlichen Tätigkeit ergangen sind und sie vom Kläger aus denselben rechtlichen Gesichtspunkten angegriffen werden, sind hier die Voraussetzungen ihrer Einbeziehung jedenfalls gegeben. Eine Zulassungsangelegenheit mit der vom Senat vertretenen Beschränkung der analogen Anwendung des § 96 SGG liegt hier nicht vor (SozR 1500 § 96 SGG Nr 32). Die Vorschrift des § 96 SGG gilt auch im Berufungsverfahren, auch wenn darüber nicht nur das Vorverfahren, sondern auch die erste Gerichtsinstanz verlorengeht (allg M), so daß das LSG nicht auf die Berufung, sondern auf die Klage zu entscheiden hat. Es hätte von sich aus auf eine Ergänzung der Anträge der Beteiligten, die der neuen Prozeßlage entsprachen, in der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 1987 hinwirken müssen (§§ 153, 106 SGG; BSGE 4, 26).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1660202

AusR 1990, 29

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