Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenhauspflege. Sportunfall. Ablehnung

 

Orientierungssatz

1. Eine KK darf die Gewährung von Krankenhauspflege nicht allein deshalb ablehnen, weil die Erkrankung durch einen Sportunfall verursacht und der Versicherte gegen Sportunfälle privatrechtlich versichert ist. Sie kann sich in Fällen solcher Art jedenfalls dann nicht auf ihre besonders ungünstige wirtschaftliche Lage berufen, wenn sie bei anderen gleichartigen und gleich schweren Erkrankungen Krankenhauspflege gewährt.

2. Das Gericht hat bei der Prüfung, ob eine KK die Krankenhauspflege unter Berufung auf ihr freies Ermessen zu Recht abgelehnt hat, auch solche Gründe zu berücksichtigen, die von der KK erst im gerichtlichen Verfahren vorgebracht werden.

3. Die KK kann zur Zahlung von Krankenhauspflegekosten in bestimmter Höhe verurteilt werden, wenn die Ablehnung der Krankenhauspflege unter jedem denkbaren Gesichtspunkt einen Ermessensmißbrauch darstellen würde und die Sache in jeder Beziehung spruchreif ist (vgl BSG 1959-03-20 3 RK 13/55 = BSGE 9, 232).

 

Normenkette

RVO § 184; SGG §§ 54, 131 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 07.12.1955)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 7. Dezember 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger ist bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse gegen Krankheit versichert. Zugleich war er als Mitglied des Vereines "Radfahrer-Vereinigung 03 B... "bei der A... und M... -Feuer-Versicherungs-Gesellschaft gegen Unfälle bei Benutzung des Fahrrades zu sportlichen Zwecken versichert; hierbei galt als "vereinbart, daß Mitglieder von Krankenkassen zunächst deren Leistungen in Anspruch nehmen müssen, gleichgültig, ob es sich um Orts-, Betriebs- oder Privatkrankenkassen handelt. Die Gesellschaft gewährt Heilkostenersatz nur insoweit, als keine Krankenkasse in Anspruch genommen werden kann." Als der Kläger am 12. Oktober 1952 bei einem Radrennen (Bahnrennen) stürzte und sich eine Gehirnerschütterung, Hautabschürfungen sowie eine Platzwunde im Gesicht zuzog, für deren sofortige stationäre Behandlung vom 12. bis 24. Oktober 1952 Krankenhauspflegekosten in Höhe von 78,70 DM entstanden, lehnte die Beklagte die Kostenübernahme dem Sportverein gegenüber mit Bescheid vom 19. Februar 1953 ab. Auf die vom Kläger hiergegen beim Versicherungsamt erhobene Beschwerde wandte die Beklagte ein, sie befinde sich in einer ungünstigen Finanzlage, die Nichtübernahme der Krankenhauspflegekosten stelle demnach - zumal der Kläger durch eine private Sportunfallversicherung gesichert sei - keinen Ermessensmißbrauch dar. Das Versicherungsamt hob den Bescheid der Beklagten vom 19. Februar 1953 als ermessensfehlerhaft auf und erklärte die Beklagte - mit seiner Entscheidung vom 18. November 1953 - für verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der in den Entscheidungsgründen angegebenen Gesichtspunkte erneut zu bescheiden.

Die Beklagte legte gegen diese Entscheidung am 23. Dezember 1953 Berufung ein, die das Sozialgericht nach dem Übergang des Verfahrens auf die Sozialgerichtsbarkeit am 1. Januar 1954 als Klage behandelte. Die Beklagte bezog sich zur Begründung auf ihre Geschäfts- und Rechnungsergebnisse für die Jahre 1952 und 1953. Das Sozialgericht hob die angeführte Entscheidung des Versicherungsamts - unter Zulassung der Berufung - auf: Zwar dürfe die Beklagte nicht darauf abstellen, daß sich der Unfall des Klägers anläßlich eines sportlichen Wettkampfes ereignet habe. Sie dürfe infolge ihrer schlechten Lage aber die Frage nach der Bedürftigkeit des Leistungsberechtigten stellen. Der einzelne müsse auch Nachteile zum Wohle der Gemeinschaft in Kauf nehmen.

Der Kläger legte gegen dieses ihm am 13. Oktober 1955 zugestellte Urteil am 1. November 1955 Berufung ein. er machte geltend, der Ablehnungsbescheid der Beklagten sei nicht ausreichend begründet gewesen und das Nachschieben weiterer Ablehnungsgründe sei unzulässig; ferner habe die Beklagte die Kostenübernahme in seinem Einzelfall ohne individuelle Prüfung aus der grundsätzlichen Erwägung abgelehnt, bei Sportunfällen sei die Sportunfallversicherung in Anspruch zu nehmen; dies verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz und sei willkürlich; die Ausübung des Ermessens müsse sich auf die Notwendigkeit stationärer Behandlung und die Kostenfrage beschränken. Die Beklagte trug vor, sie habe die Übernahme von Krankenhauspflegekosten bei Erkrankungen, die durch Sportunfälle verursacht seien - bei entsprechender medizinischer Indikation - zunächst nicht abgelehnt und habe nur verschiedene Maßnahmen getroffen, um sicherzustellen, daß Krankenhauspflege nur in medizinisch dringend erforderlichen Fällen und nur so lange, als dies unbedingt notwendig sei, gewährt werde; ferner habe sie andere Kannleistungen - insbesondere Erholungs- und Kinderkuren - einzuschränken versucht. Erst im Jahre 1952 habe sie die Gewährung von Krankenhauspflege - auf allgemeine Empfehlung des Hessischen Landesverbandes - noch in zwei weiteren gleichliegenden Fällen abgelehnt, habe dann jedoch die Krankenhauskosten wieder übernommen, als der Landesverband dies empfohlen habe.

Das Landessozialgericht verurteilte die Beklagte - unter Zulassung der Revision - dem Kläger 78,70 DM zu zahlen; es hob den entgegenstehenden Bescheid der Beklagten vom 19. Februar 1953, die Entscheidung des Versicherungsamts vom 18. November 1953 sowie das Urteil des Sozialgerichts vom 4. Oktober 1955 auf: Der Anspruch auf Krankenhauspflege könne - abweichend von der früher geltenden Rechtslage - gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verfolgt werden. Nach § 184 Abs. 4 Reichsversicherungsordnung (RVO) seien für die pflichtgemäße Entscheidung über die Gewährung von Krankenhauspflege zwei Erwägungen ausschlaggebend: der Grad ihrer Notwendigkeit und die Bedeutung der Kosten für die Krankenkasse. Die medizinische Notwendigkeit allein sei allerdings nicht als ausschlaggebend anzusehen; die Krankenkassen müßten Beitragserhöhungen vermeiden und dürften die ärztliche Versorgung der übrigen Versicherten nicht gefährden. Auch sei es unschädlich, wenn sich die Beklagte erst im Verlaufe des Rechtsstreits auf ihre schlechte Finanzlage einerseits und die für den Kläger bestehende Sportunfallversicherung anderseits bezogen habe. Die von der Beklagten vorgenommene Unterscheidung in Erkrankungen anläßlich von Sportunfällen und solche aus anderen Ursachen stelle aber eine ungleiche, sachlich nicht gerechtfertigte, der RVO fremde und daher ermessenswidrige Behandlung gleichartiger Tatbestände dar, die das Gesetz nicht zulasse. § 192 RVO, wonach die Krankenkasse das Krankengeld ganz oder teilweise versagen könne, wenn sich ein Versicherter eine Krankheit vorsätzlich oder durch schuldhafte Beteiligung bei Schlägereien zugezogen habe, dürfe nicht entsprechend für die Entscheidung über Gewährung von Krankenhauspflege bei Sportunfällen herangezogen werden. Die Nichtgewährung der Krankenhauspflege könne auch nicht damit begründet werden, daß der Kläger privat gegen Unfall versichert gewesen sei. Die Berufung der Beklagten hierauf wäre nur zulässig, wenn sie Krankenhauspflege stets dann verweigern würde - nicht nur bei Sportunfällen -, wenn der Versicherte auch einen Anspruch auf Krankenhauspflege aus einer privaten Versicherung habe. Im übrigen sei die Bedürftigkeit des Versicherten keine Leistungsvoraussetzung der gesetzlichen Krankenversicherung. - Das Gericht sei auch verpflichtet gewesen, selbst eine Verurteilung der Krankenkasse auszusprechen, da es alle von der Klägerin vorgebrachten Gründe geprüft und als rechtswidrig befunden habe.

Das Urteil des Landessozialgerichts wurde der Beklagten am 6. März 1956 zugestellt. Sie beantragt mit ihrer beim Bundessozialgericht am 15. März 1956 eingegangenen Revision,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 4. Oktober 1955 - unter Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts - zurückzuweisen.

Die Beklagte rügt mit der am 31. März 1956 beim Bundessozialgericht eingereichten Begründung der Revision unzutreffende Auslegung von Vorschriften der RVO (§§ 184, 192). Eine Entscheidung über Leistungen, die im Wege freien Ermessens bewilligt werden könnten, sei etwas grundsätzlich anderes als eine Entscheidung über Gewährung von Pflichtleistungen. Bei Ermessensentscheidungen müßten alle Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die im Einzelfalle eine Rolle spielten. Eine Unterscheidung nach den Unfallursachen liege, wie § 192 RVO ergebe, sehr wohl im Sinne der RVO; das gleiche gelte für die Berücksichtigung der Bedürftigkeit des Patienten.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Nach seiner Ansicht darf die Vorschrift des § 192 RVO auf einen die Gewährung von Krankenhauspflege betreffenden Antrag nicht angewandt werden, weil § 192 RVO eine Ausnahmevorschrift darstelle, die nur für den Fall der Gewährung von Krankengeld gelte. Würdigkeit und Bedürftigkeit eines Patienten seien keine Gesichtspunkte, die nach der RVO für eine Ermessensentscheidung in Betracht gezogen werden dürften. Zwischen Ermessens- und Pflichtleistungen bestehe insoweit kein Unterschied.

II.

Der vom Landessozialgericht zugelassenen und daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaften sowie form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Revision der Beklagten muß der Erfolg versagt werden. Die Vordergerichte hatten die Allgemeine Ortskrankenkasse im sozialgerichtlichen Verfahren als Klägerin und den Versicherten, der im Verfahren vor dem Versicherungsamt - im Ergebnis - obgesiegt hatte, als Beklagten behandelt. Die prozessuale Stellung der am bisherigen Verfahren Beteiligten beurteilt sich hingegen in Fällen der vorliegenden Art nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats danach, welche Parteirolle sie in dem Rechtsstreit hätten, wenn er unter Geltung des Sozialgerichtsgesetzes anhängig gemacht worden wäre (zu vgl. BSG. 3 S. 30 ff. [34]). In diesem Falle hätte aber der bisher als Beklagter bezeichnete Versicherte Klage gegen den Ablehnungsbescheid der Allgemeinen Ortskrankenkasse vom 19. Februar 1953 erhoben. Dem Versicherten kommt demnach im vorliegenden Falle die Rolle eines Klägers und der Allgemeinen Ortskrankenkasse diejenige des Beklagten zu.

In der Sache selbst hat das Vordergericht zutreffend festgestellt, daß die Beklagte, indem sie dem Kläger den Ersatz der Kosten für die von ihm in Anspruch genommene Krankenhauspflege verweigerte, ihr Verwaltungsermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt hat. Der Umstand, daß sich der Kläger an einem von einem Sportverein veranstalteten Radrennen (Bahnrennen) beteiligt und dabei einen Unfall erlitten hat, vermag die Versagung der Krankenhauspflege nicht zu rechtfertigen. Eine sportliche Betätigung als Ursache einer Verletzung des Versicherten schließt den Eintritt des Versicherungsfalles der Krankheit nicht aus. Dies ist in der Entscheidung des erkennenden Senats vom 20. März 1959 (3 RK 13/55 - einer Parallelsache - näher begründet worden. In jener Sache hatte der beklagte Versicherungsträger - ebenso wie hier - die Gewährung von Krankenhauspflege immer nur bei Sportunfällen abgelehnt. Das hat der Senat als einen Verstoß gegen den das Leistungsrecht im Sozialversicherungsrecht beherrschenden Grundsatz der Gleichbehandlung aller Kassenmitglieder angesehen und daher als unzulässig erachtet. Ob die Beklagte die Gewährung der Krankenhauspflege etwa dann hätte verweigern dürfen, wenn sie Ermessensleistungen in allen Fällen verweigert hätte, in denen die Versicherten Anspruch aus privater Versicherung - ohne Rücksicht auf die Entstehungsursache der Erkrankung - haben, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Die Ablehnung von Ermessensleistungen nur bei Sportunfällen war jedenfalls willkürlich. Die Beklagte konnte sich auch nicht allein gegenüber Versicherten, die einen Sportunfall erlitten haben, auf ihre besonders ungünstige Finanzlage berufen, ohne damit die Grenzen ihres pflichtgemäßen Ermessens zu überschreiten.

Das Berufungsgericht hat somit in der Ablehnung der Krankenhauspflege mit Recht einen Ermessensfehler gesehen. - Da die Sache in jeder Beziehung spruchreif war, hat der Vorderrichter auch mit Recht die Beklagte zur Erstattung der Pflegekosten verurteilt. Dieses Ergebnis deckt sich auch, wie in der oben angeführten Entscheidung des Senats vom 20. März 1959 (3 RK 13/55) näher dargelegt ist, mit den in der Verwaltungspraxis und im Schrifttum überwiegend zum Ausdruck gekommenen Ansichten.

Die Revision muß danach als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324238

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