Leitsatz (amtlich)

1. Für die Zustellung nach VwZG § 5 Abs 2 ist der Zeitpunkt maßgebend, zu dem der Empfänger von dem Zugang des zuzustellenden Schriftstücks Kenntnis erlangt und bereit ist, die Zustellung entgegenzunehmen (jetzt einhellige Rechtsauffassung der obersten Gerichtshöfe des Bundes, vgl BSG 1966-03-23 9 RV 334/63 = SozR Nr 4 zu § 5 VwZG; BGH 1971-10-26 X ZB 15/71 = BGHZ 57, 160, 165 und BGH 1975-01-30 III ZR 83/73 = LM Nr 21 zu Preuß EnteignungsG; BFH 1971-06-23 I B 12/71 = BFHE 102, 457; BVerwG 1979-12-21 4 ER 500.79, 1980-01-15 6 ER 505.79 und 1980-01-21 2 ER 503.79).

2. Die Revisionsbegründung, die zwar nicht die eigenhändige Unterschrift des für ihren Inhalt Verantwortlichen, aber den in Maschinenschrift wiedergegebenen Namen des Verfassers mit einem Beglaubigungsvermerk - mit oder ohne Dienstsiegel - enthält, ist formrichtig (im Anschluß an den Beschluß des GmSOGB vom 1979-04-30 GmSOGB 1/78 = SozR 1500 § 164 Nr 14).

3. Wird einem Unfallverletzten rückwirkend eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für einen Zeitraum bewilligt, für den er wegen einer Wiedererkrankung an Unfallfolgen - neben der Verletztenrente - Verletztengeld bezogen hat, so geht der Anspruch auf Rentennachzahlung in entsprechender Anwendung von RVO § 183 Abs 3 S 2 bis zur Höhe des Verletztengeldes auf den Träger der Unfallversicherung über (Anschluß an BSG 1973-06-26 8/2 RU 112/70 = BSGE 36, 62).

 

Normenkette

RVO § 183 Abs 3 S 2 Fassung: 1961-07-12, § 562 Abs 2 Fassung: 1963-04-30, § 628 Fassung: 1963-04-30; VwZG § 5 Abs 2; SGG § 164 Abs 2 S 1 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

SG Köln (Entscheidung vom 28.03.1977; Aktenzeichen S 19 Kr 15/76)

 

Tatbestand

I

Der im Jahre 1951 geborene Tankwart J G (Versicherter) war bei der klagenden Berufsgenossenschaft (BG) gegen Arbeitsunfall und bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) in der Rentenversicherung der Arbeiter versichert. Er hatte im Jahre 1971 einen Arbeitsunfall erlitten und bezog von der BG Verletztenrente.

Wegen Erkrankung an den Unfallfolgen war der Versicherte vom 22. März bis 28. November 1973 arbeitsunfähig. Die BG zahlte ihm für die Zeit vom 3. Mai 1973 an Verletztengeld nach § 562 Abs 2 iVm § 560 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO), beide idF des UVNG. Die LVA gewährte ihm mit Bescheid vom 4. Januar 1974 für die Zeit vom 22. September 1973 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit; sie zahlte auch die Rente für die zurückliegende Zeit an den Versicherten aus, obwohl ihr bekannt war, daß dieser Verletztengeld bezogen hatte.

Die BG errechnete für die Zeit vom 22. September bis 28. November 1973 eine Zuvielzahlung an den Versicherten in Höhe von 906,12 DM. In diesem Umfang verlangte sie von der LVA die Auszahlung der - nach ihrer Ansicht auf sie übergegangenen - Rente des Versicherten, jedoch erfolglos. Auf die Klage der BG hin hat das Sozialgericht (SG) Köln am 28. März 1977 die beklagte LVA verurteilt, 906,12 DM an die klagende BG zu zahlen; es hat die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Versicherte habe nach § 562 Abs 2 RVO keinen Anspruch auf Verletztengeld gehabt, weil er erwerbsunfähig gewesen sei und weil ihm eine entsprechende Rente zugebilligt worden sei. Insoweit sei § 183 Abs 3 RVO entsprechend anzuwenden, da die unrechtmäßige Überzahlung sonst nicht in zufriedenstellender Weise ausgeglichen werden könne.

Das Urteil ist der Beklagten mit Empfangsbekenntnis zugestellt worden (§ 5 Abs 2 Verwaltungszustellungsgesetz -VwZG-). Dieses trägt den Eingangsstempel der Beklagten vom Mittwoch, dem 18. Mai 1977, und den von einem Bediensteten der Beklagten unterschriebenen Vermerk, er habe das Schriftstück am 23. Mai 1977 (einem Montag) erhalten.

Die Beklagte hat mit einem am Dienstag, dem 21. Juni 1977, bei dem Bundessozialgericht (BSG) eingegangenen Schriftsatz die Sprungrevision eingelegt. Die Revisionsbegründung ist innerhalb der - verlängerten - Begründungsfrist eingegangen. Sie trägt folgende Unterschriften: gez. W (maschinenschriftlich) Verwaltungsdirektor Beglaubigt: handschriftliche Unterschrift (B) Verwaltungsangestellter Ein Stempel oder Siegel ist nicht beigefügt.

Die Beklagte trägt vor, ein Forderungsübergang sei nicht eingetreten; § 183 Abs 3 Satz 2 RVO könne nicht entsprechend angewendet werden.

Sie beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 28. März 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die klagende BG beantragt, die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig. Sie ist innerhalb der Revisionsfrist eingelegt worden. Das Urteil des SG ist der Beklagten nicht schon an dem Tag zugestellt worden, der auf dem vorbereiteten Empfangsbekenntnis (§ 5 Abs 2 VwZG) mit dem Eingangsstempel vermerkt ist (18. Mai 1977), sondern erst an dem Tag, an dem ein Bediensteter der Beklagten den Eingangsvermerk unterschrieben hat (23. Mai 1977). Für die Zustellung nach § 5 Abs 2 VwZG ist der Zeitpunkt maßgebend, zu dem der Empfänger von dem Zugang des zuzustellenden Schriftstücks Kenntnis erlangt und bereit ist, die Zustellung entgegenzunehmen. Mit dieser Rechtsauffassung folgt der Senat der nunmehr einhelligen Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (BSG SozR Nr 4 zu § 5 VwZG; BGH in BGHZ 57, 160, 165 = LM Nr 5 zum VwZG und in LM Nr 21 zu Preuß EnteignungsG = NJW 75, 1171, 1660; BFH in BFHE 102, 457; BVerwG in den Beschlüssen vom 21. Dezember 1979 - 4 ER 500.79 -, 15. Januar 1980 - 6 ER 505.79 - und 21. Januar 1980 - 2 ER 503.79 -). Die Revisionsbegründung war formrichtig; sie enthielt zwar nicht die eigenhändige Unterschrift des für ihren Inhalt Verantwortlichen, aber den in Maschinenschrift wiedergegebenen Namen des Verfassers mit einem Beglaubigungsvermerk, wenn auch ohne Dienstsiegel. Wie sich aus dem Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 30. April 1979 -GmS-OGB 1/78 - ergibt, genügt diese Form den gesetzlichen Anforderungen.

Die Revision ist aber nicht begründet. Das SG hat zu Recht die Beklagte zur Zahlung von 906,12 DM an die Klägerin verurteilt. Der Anspruch der Klägerin ergibt sich aus folgenden Überlegungen.

Der Versicherte hatte aufgrund des Bescheides der beklagten LVA vom 4. Januar 1974 gegen diese einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ua auch für die Zeit vom 22. September bis 28. November 1973. Sein Anspruch auf Verletztengeld hatte am 21. September 1973 geendet. Die dahingehende Rechtsauffassung des SG wird von den Beteiligten nicht beanstandet.

Auf den Rentenanspruch ist § 183 Abs 3 Satz 2 RVO entsprechend anzuwenden. Nach dieser Vorschrift geht, falls über das Ende des Krankengeldanspruches hinaus Krankengeld gezahlt worden ist, der Anspruch auf Rente bis zur Höhe des gezahlten Krankengeldes auf die Kasse über (Satz 2). Die entsprechende Anwendung bedeutet hier, daß der Rentenanspruch des Versicherten auf die klagende BG übergegangen ist, und zwar bis zur Höhe des Verletztengeldes, das diese für den bezeichneten Zeitraum gezahlt hatte.

Die Revision bezweifelt, daß die rechtlichen Voraussetzungen für eine entsprechende Anwendung des § 183 Abs 3 RVO gegeben sind, jedoch zu Unrecht.

Der 8. Senat des BSG hat im Urteil vom 26. Juni 1973 mit eingehender Begründung entschieden: Wird einem Unfallverletzten rück wirkend eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) für einen Zeitraum bewilligt, für den er wegen einer Wiedererkrankung an Unfallfolgen - neben der Verletztenrente - Verletztengeld bezogen hat, so geht der Anspruch auf Rentennachzahlung in entsprechender Anwendung von § 183 Abs 3 Satz 2 RVO bis zur Höhe des Verletztengeldes auf den Unfallversicherungsträger über (BSGE 36, 62 = SozR Nr 5 zu § 562 RVO). Das Urteil ist zustimmend besprochen worden von Strecker (SozVers 74, 34 und 261), Drexel (SozVers 74, 175) und Schwankhardt (ZfS 74, 322). Es wird zustimmend kommentiert von Lauterbach (Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, Anm 5 zu § 562 RVO, S 389, Stand: Mai 1978) und Miesbach/Baumer (Die gesetzliche Unfallversicherung, Anm 6 zu § 562 RVO, Stand: November 1978). Gleicher Ansicht ist auch Brackmann (Handbuch der Sozialversicherung, S 563, Stand: April 1977). An der Entscheidung ist festzuhalten. Von ihr könnte nur dann abgewichen werden, wenn gegen sie nicht nur gute, sondern überwiegende Gründe sprechen sollten (BSGE 40, 292 = SozR 5050 § 16 Nr 9). Das ist jedoch nicht der Fall.

Die Revision weist allerdings zutreffend darauf hin, daß ein Träger der Unfallversicherung zu Unrecht gezahlte Leistungen (hier: das Verletztengeld für die Zeit vom Beginn der Rente wegen EU an) nach § 628 RVO zurückfordern könne. Dabei kann dahinstehen, ob § 628 RVO einen solchen Anspruch begründet oder nur den aus anderen Rechtsgründen bestehenden Anspruch ausgestaltet. Jedenfalls kann der Träger der Unfallversicherung unter bestimmten Voraussetzungen zuviel gezahlte Leistungen zurückfordern und seine Forderung auch durchsetzen, zumal er in Fällen wie diesen in der Regel eine Verletztenrente zu zahlen hat, gegen die er - allerdings auch nur unter bestimmten Voraussetzungen - aufrechnen kann (§ 51 SGB 1).

Dagegen vermag der Senat der Ansicht der Revision, bei den sozialrechtlichen Ersatzansprüchen seien Analogieschlüsse unzulässig, nicht zu folgen. Zwar kann es eine "Rechtsfortbildung contra legem" darstellen, eine abschließend gemeinte Regelung durch Analogie zu erweitern (Köbl, Allgemeine Rechtstheorie, Aspekte der Gesetzesbindung, in: Sozialrechtsprechung, Verantwortung für den sozialen Rechtsstaat, S 1005, 1069; vgl auch BSGE 25, 150, 151 und 38, 160, 161). Im Fall des Zusammentreffens von Verletztengeld bei Wiedererkrankung an Unfallfolgen und Rente wegen Erwerbsunfähigkeit spricht aber nichts dafür, daß der Gesetzgeber von der allgemeinen Regel einer - wie immer gearteten - gegenseitigen Anrechnung habe absehen wollen.

Schließlich vermag auch das letzte Argument der Revision nicht zu überzeugen. Die LVA meint, sie habe die Rente für die Zeit vom 22. September bis 28. November 1973 gewissermaßen im guten Glauben - und in Unkenntnis zwar nicht der Zahlung von Verletztengeld, aber des Forderungsüberganges an den Versicherten ausgezahlt, weil sie auf eine jahrzehntelange Übung der Versicherungsträger vertraut und von der Rechtsänderung durch das Urteil vom 26. Juni 1973 noch nichts gewußt habe; die BG müsse deshalb nach §§ 407, 412 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) die Leistung an den bisherigen Gläubiger, den Versicherten, gegen sich gelten lassen. Dabei übersieht die Revision, daß das Urteil des 8. Senats nicht das Recht geändert, sondern nur eine schon bisher bestehende Rechtslage klar umrissen hat. Wie es wäre, wenn die frühere Übung der Versicherungsträger auf der ständigen Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofes des Bundes beruht hätte und wenn diese Rechtsprechung später geändert worden wäre (vgl für diesen Fall zB § 40 Abs 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes-KOV), braucht hier nicht entschieden zu werden.

Jedenfalls haben die vom 8. Senat des BSG angeführten Gründe für eine entsprechende Anwendung des § 183 Abs 3 RVO (BSGE aaO, insbes. S 66) das größere Gewicht. Zur Vermeidung einer bei der Gewährung von Verletztengeld wegen Wiedererkrankung an Unfallfolgen unerwünschten Doppelversorgung ist es geboten, das Rechtsinstitut des Forderungsüberganges auch in Fällen wie dem vorliegenden anzuwenden.

Die Höhe der von der BG geltend gemachten Forderung ist, wie die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erneut versichert haben, unstreitig und damit nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens.

Die Revision der Beklagten war als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658883

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