Leitsatz (redaktionell)

Ein Bescheid der gemäß BVG § 62 Abs 2 S 1 die Grundrente eines Beschädigten mindert oder entzieht, ist rechtswidrig, wenn er vor Ablauf der in dieser Vorschrift bestimmten 2-Jahresfrist zugegangen oder zugestellt worden ist.

 

Orientierungssatz

1. Bis zum Inkrafttreten des VwZG ND (1954-04-01) ist die PostZustV vom 1943-08-23 (RGBl 1 1943, 527) anzuwenden.

2. Hat das BSG das angefochtene Urteil lediglich wegen eines Verfahrensmangels aufgehoben, so bindet seine rechtliche Beurteilung somit auch nur in bezug auf das Verfahren; im übrigen ist das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen worden ist, in der Beurteilung nicht gebunden.

 

Normenkette

BVG § 62 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1950-12-20; VwZG Fassung: 1953-11-20; SGG § 170 Abs. 5 Fassung: 1953-09-03; PostZustV Fassung: 1943-08-23

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Juni 1961 insoweit abgeändert, als es unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. Juni 1956 die Klage abgewiesen und den Bescheid vom 1. Oktober 1957 über die Feststellung der Schädigungsfolgen und die Ablehnung der Rente bestätigt hat.

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. Juni 1956 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Worte unter II des Tenors "bis zur Erteilung eines etwaigen Berichtigungsbescheides" wegfallen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.

 

Gründe

Bei dem Kläger wurden durch Bescheid vom 16. Juli 1951 "abklingender Eiweißmangelschaden, Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems und Steigerung der allgemeinen nervösen Erregbarkeit nach Gehirnerschütterung, geringe Störungen des Hautempfindungsvermögens am rechten Oberschenkel" als Körperschäden nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v. H. für die Zeit vom 1. August bis 30. September 1950 anerkannt. Durch Bescheid vom gleichen Tage wurden dieselben Leiden ebenfalls mit einer MdE um 40 v. H. vom 1. Oktober 1950 an nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anerkannt. In diesem Bescheid ist das Wort "Umanerkennung" in "Erstanerkennung" geändert worden. Beiden Bescheiden gingen eine nervenfachärztliche und eine innerfachärztliche Untersuchung voraus. Nach dem Gutachten der Psychiatrischen und Nervenklinik der Städtischen Krankenanstalten II in B (Chefarzt Dr. K und Assistenzarzt Dr. K) vom 14. August 1950 bestand eine deutliche Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems, eine Herabsetzung des Hautempfindungsvermögens im Bereich der Rückseite des rechten Oberschenkels und in psychischer Hinsicht Gehemmtheit bei depressiver Stimmungslage und Steigerung der allgemeinen nervösen Erregbarkeit. Nach Ansicht der Sachverständigen handelte es sich um Krankheitserscheinungen, die zu einem Teil mit den im Fronteinsatz erlittenen Verwundungen in Zusammenhang gebracht werden müßten, zum andern aber als Ausdruck einer Reaktion auf die bedrückenden und unklaren sozialen Verhältnisse als Spätheimkehrer angesprochen werden könnten. Die Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems sowie geringe Störungen des Hautempfindungsvermögens am rechten Oberschenkel seien daher als Wehrdienstbeschädigung bei einer MdE um 20 v. H. anzusehen. Prof. Dr. S und Assistenzärztin Dr. H von den Städtischen Krankenanstalten II in B kamen in ihrem Gutachten vom 22. August 1950 zu dem Ergebnis, daß außerdem noch ein abklingender Eiweißmangelschaden und ein Zustand nach Granatsplitterverletzung an der Stirn und am rechten Oberschenkel vorlagen.

Am 11. Mai 1953 wurde der Kläger von dem Neurologen Dr. K erneut untersucht, der in seinem Gutachten ausführte, daß dieser bei der im Jahre 1939 erlittenen Granatsplitterverletzung an der Stirn eine Gehirnerschütterung erlitten habe. Hierbei sei es jedoch offenbar nicht zu einer substantiellen Schädigung des Gehirns gekommen, da die Röntgenaufnahme des Schädels weder frakturverdächtige Linien noch Knocheneindellungen im Bereich des Stirnbeins erkennen ließ. Diese Gehirnerschütterung sei, nachdem bei weitem mehr als zwei Jahre vergangen sind, als folgenlos ausgeheilt anzusehen. Die Beschwerden des Klägers seien auf eine Übererregbarkeit des Lebensnervensystems zurückzuführen, die aber anlagebedingt sei und keine Schädigungsfolge darstelle. Inwieweit eine gestörte Erlebnisverarbeitung die vegetativ-dystrophischen Störungen verstärke oder unterhalte, sei belanglos, da eine gestörte Erlebnisverarbeitung niemals eine Schädigungsfolge darstellen könne. Die geringen Störungen der Hautempfindung im rechten Oberschenkel seien noch vorhanden, bedingten aber keine meßbare MdE. In einem weiteren innerfachärztlichen Gutachten vom 11. Mai 1953 konnte Dr. K keinen faßbaren pathologischen Organbefund erheben, sondern lediglich Störungen feststellen, die auf einer Unausgeglichenheit im gesamten neuro-vegetativen System beruhten und sich besonders auffällig am Gefäßnervensystem auswirkten. Der Kläger sei im Mai 1950 aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden, so daß nach drei Jahren die erwähnten Störungen nicht mehr auf einen Eiweißmangelschaden bezogen werden könnten, sondern als anlagebedingt aufzufassen seien. Diese neuro-vegetativen Regulationsstörungen seien somit keine Wehrdienstbeschädigung mehr. Durch Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA) B vom 7. Juli 1953 wurde daraufhin die Rente wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse entzogen. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Bescheid des Landesversorgungsamts Niedersachsen vom 29. Mai 1954).

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Braunschweig in der mündlichen Verhandlung am 15. Juni 1956 noch Dr. H als Sachverständigen gehört, welcher meint, ein Vergleich der Gutachten des Dr. K. aus dem Jahre 1950 und des Dr. Ki. aus dem Jahre 1953 ergebe, daß die objektiven Untersuchungsbefunde die gleichen geblieben sind. Ein Unterschied liege nur in der Beurteilung der Ursachen vor. Dr. K führe die Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems und Steigerung der allgemeinen nervösen Erregbarkeit auf die Gehirnerschütterung zurück, während Dr. K die gleichen Befunde als anlagebedingt ansehe. Hierbei müsse besonders berücksichtigt werden, daß die Beurteilung des Dr. K im Jahre 1950 bereits elf Jahre nach der erlittenen Gehirnerschütterung erfolgt sei, daß also der normale Ablauf der Gehirnerschütterung bzw. deren Folgen gestört und versorgungsamtlich auch anerkannt gewesen sei. Im Anschluß an diese Äußerung des Sachverständigen hat das SG durch Urteil vom 15. Juni 1956 die Bescheide vom 7. Juli 1953 und 29. Mai 1954 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, die im Bescheid vom 16. Juli 1951 anerkannten Schädigungsfolgen nach einer MdE um 40 v. H. über den 31. August 1953 hinaus fortlaufend bis zur Erteilung eines etwaigen Berichtigungsbescheides zu berenten.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er hat während des Berufungsverfahrens einen Teilberichtigungsbescheid vom 1. Oktober 1957 erlassen und die Anerkennung einer Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems und Steigerung der allgemeinen nervösen Erregbarkeit nach Gehirnerschütterung nach § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) zurückgenommen, weil die Anerkennung dieser Schädigungsfolge in den Bescheiden vom 16. Juli 1951 ohne Zweifel zu Unrecht erfolgt sei. In Verbindung mit diesem Teilberichtigungsbescheid ist ein weiterer Bescheid des VersorgA Braunschweig vom 1. Oktober 1957 ergangen, in dem als nunmehr noch vorhandene Schädigungsfolgen ohne rentenberechtigende MdE "Narben an der Stirn, am rechten Oberschenkel und beiden Unterschenkeln, Empfindungsstörungen im Bereich der Haut des rechten Oberschenkels, Narbe rechte Leiste" anerkannt worden sind. Durch Urteil vom 24. September 1959 hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen den Teilberichtigungsbescheid vom 1. Oktober 1957 aufgehoben und die Klage gegen den weiteren Bescheid vom 1. Oktober 1957 (Anerkennung von Schädigungsfolgen) abgewiesen. Es hat ferner das Urteil des SG Braunschweig vom 15. Juni 1956 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) durch Urteil vom 25. August 1960 das Urteil des LSG Niedersachsen vom 24. September 1959 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Das BSG hat die nicht zugelassene Revision des Klägers wegen Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als statthaft und begründet angesehen, weil das LSG von einer sogenannten Verschiebung der Wesensgrundlage des anerkannten Leidens ausgegangen sei, ohne zu dieser Frage noch einen Sachverständigen zu hören.

Nach der Zurückverweisung hat das LSG ein Gutachten von dem Städtischen Krankenhaus L vom 17. März 1961 eingeholt, das von Prof. Dr. H und Dr. med. habil. S unter Zuziehung des Neurologen Dr. Dr. B erstattet worden ist. Die Sachverständigen sind zu dem Ergebnis gekommen, daß die Anerkennung einer vegetativen Übererregbarkeit nach Gehirnerschütterung in den Bescheiden vom 16. Juli 1951 ohne Zweifel unrichtig gewesen sei, daß damals aber noch postdystrophische vegetative Regulationsstörungen vorhanden gewesen seien. Diese Störungen seien jedoch im September 1953 mit Recht als abgeklungen betrachtet worden. Für die restlichen vegetativen Funktionsstörungen sei eine Verschiebung der Wesensgrundlage anzunehmen. Die Beschwerden beruhten seither auf der neuropathischen Veranlagung des Klägers, deren Äußerungen sich bis in die Kindheit zurückverfolgen ließen, deren Äußerungsfolgen sich aber mit dem Lebensalter änderten. Das fortschreitende Lebensalter und die damit sich ändernde Äußerungsform der Konstitution müßten auch als eine Änderung der Verhältnisse i. S. des § 62 Abs. 1 BVG aufgefaßt werden, da es sich dabei um einen neu hinzugekommenen Umstand handle.

Durch Urteil vom 22. Juni 1961 hat das LSG Niedersachsen den Teilberichtigungsbescheid vom 1. Oktober 1957 aufgehoben und den Bescheid vom 1. Oktober 1957 über die Feststellung der Schädigungsfolgen und die Ablehnung der Rente bestätigt; es hat ferner unter Aufhebung des Urteils des SG Braunschweig vom 15. Juni 1956 die Klage abgewiesen. Das LSG hat die Voraussetzungen des § 41 VerwVG hinsichtlich des Teilberichtigungsbescheides vom 1. Oktober 1957 nicht als gegeben angesehen, weil die schweren Belastungen des Klägers während der russischen Gefangenschaft die Anerkennung einer Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems in den Bescheiden vom 16. Juli 1951 nicht als ohne Zweifel unrichtig erscheinen ließen. Der Rentenentziehungsbescheid vom 7. Juli 1953, durch den der BVG-Bescheid vom 16. Juli 1951 mit Wirkung ab 1. September 1953 beseitigt worden ist, habe nur auf § 62 BVG, nicht aber auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt werden können. Der Bescheid vom 16. Juli 1951 nach dem BVG sei kein Bescheid ohne ärztliche Nachuntersuchung i. S. des § 86 Abs. 3 BVG gewesen; denn die Versorgungsbehörde habe das in den Gutachten vom 14. und 22. August 1950 niedergelegte Ergebnis der durchgeführten Untersuchungen nicht nur für den SVD-Bescheid vom 16. Juli 1951 verwertet. Dadurch, daß die im Formular vorgesehene Bezeichnung "Umanerkennungsbescheid" handschriftlich in "Erstanerkennungsbescheid" abgeändert worden sei, habe die Versorgungsbehörde eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß die Ergebnisse der für das SVD-Verfahren durchgeführten ärztlichen Untersuchungen auch für die erste Festsetzung nach dem BVG verwertet und nicht lediglich aus dem SVD-Bescheid "übernommen" worden seien.

Das LSG hat ferner die Auffassung vertreten, daß es die Frage, ob die Versorgungsbehörde nach dem Erstanerkennungsbescheid vom 16. Juli 1951 bereits unter dem 7. Juli 1953 gemäß § 62 Abs. 1 BVG einen Bescheid über die Entziehung der Versorgungsrente erlassen und am 10. Juli 1953 absenden durfte, mit Rücksicht auf die rechtliche Beurteilung dieser Frage durch das Revisionsgericht nicht zu entscheiden hatte. Zwar sei das Urteil vom 24. September 1959 wegen wesentlicher Verfahrensmängel aufgehoben worden, so daß die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts den erkennenden Senat nach der herrschenden Rechtsprechung an sich nur in bezug auf das Verfahren binde. Das BSG habe jedoch in seinem Urteil vom 25. August 1960 zum Ausdruck gebracht, daß es - da der 1. September 1953 mehr als zwei Jahre nach Erlaß des Bescheides vom 16. Juli 1951 liegt - die Zweijahresfrist des § 62 Abs. 2 BVG als gewahrt angesehen habe, andernfalls hätte es in der Sache selbst entscheiden müssen. Im übrigen hat sich das LSG dem von ihm eingeholten Gutachten des Städtischen Krankenhauses Ludwigshafen vom 17. März 1961 angeschlossen und eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i. S. des § 62 Abs. 1 BVG angenommen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 3. Juli 1961 zugestellte Urteil des LSG hat der Kläger mit Schriftsatz vom 8. Juli 1961, eingegangen beim BSG am 11. Juli 1961, Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 22. Juni 1961 insoweit abzuändern, als es unter Aufhebung des Urteils des SG Braunschweig vom 15. Juni 1956 die Klage abgewiesen und den Neufeststellungsbescheid des Beklagten vom 1. Juli 1957 bestätigt hat,

die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Braunschweig zurückzuweisen.

Der Kläger rügt eine Verletzung der §§ 62 BVG, 170 SGG. Er trägt hierzu vor, daß eine Bindungswirkung der Entscheidung des Revisionsgerichts vom 25. August 1960 nach § 170 Abs. 4 SGG hinsichtlich der Frage, ob die Versorgungsbehörde bereits unter dem 7. Juli 1953 gemäß § 62 BVG einen Bescheid erlassen durfte, nicht vorgelegen habe. Das BSG habe das Urteil des Berufungsgerichts vom 24. September 1959 wegen wesentlicher Verfahrensmängel aufgehoben; damit sei die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts für das Berufungsgericht nur in bezug auf das Verfahren bindend. Hätte das Revisionsgericht in der Entscheidung vom 25. August 1960 tatsächlich eine bindende Entscheidung hinsichtlich der Voraussetzung der Zweijahresfrist nach § 62 Abs. 2 BVG treffen wollen, so hätte es nach § 42 SGG den Großen Senat des BSG anrufen müssen, weil nach einer Entscheidung des 10. Senats des BSG vom 23. Februar 1960 (BSG 12, 16) ein auf § 62 gestützter Bescheid dann rechtswidrig ist, wenn er vor Ablauf der in § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG bestimmten Zweijahresfrist zugegangen oder zugestellt worden ist. Da im vorliegenden Falle die Zweijahresfrist hinsichtlich des Änderungsbescheides vom 7. Juli 1953 nicht eingehalten worden sei, hätte das LSG diesen Bescheid schon deswegen als rechtswidrig ansehen müssen. Das LSG habe ferner § 62 BVG verletzt, weil es die Anlage zu einem Leiden für einen neu hinzugekommenen Umstand gehalten habe, in dem eine Änderung in den Verhältnissen i. S. dieser Vorschrift zu erblicken sei. Im übrigen wird zu dem Vorbringen des Klägers zu einer Verletzung des § 62 BVG auf die Revisionsbegründung vom 8. Juli 1961 Bezug genommen.

Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision; er hat eine Stellungnahme nicht abgegeben.

Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG); sie ist daher zulässig. Seine Revision ist auch begründet.

Das LSG hat in seinem Urteil vom 22. Juni 1961 den Teilberichtigungsbescheid des VersorgA Braunschweig vom 1. Oktober 1957 aufgehoben. Da der Beklagte gegen dieses Urteil keine Revision eingelegt hat, ist es insoweit rechtskräftig geworden mit der Folge, daß der erkennende Senat das nur vom Kläger angefochtene Urteil des LSG in dieser Hinsicht nicht mehr nachzuprüfen hat.

Das LSG hat mit dem angefochtenen Urteil unter Aufhebung des Urteils des SG Braunschweig vom 15. Juni 1956 die Klage gegen den Rentenentziehungsbescheid vom 7. Juli 1953 abgewiesen. Es ist zunächst davon ausgegangen, daß dieser Bescheid, durch den der BVG-Bescheid vom 16. Juli 1951 mit Wirkung vom 1. September 1953 ersetzt wurde, nur auf § 62 BVG, nicht aber auf § 86 Abs. 3 BVG aF gestützt werden konnte, weil der BVG-Bescheid vom 16. Juli 1951 kein Bescheid ohne ärztliche Nachuntersuchung i. S. der letzteren Vorschrift sei. Dieser Rechtsauffassung des LSG ist zuzustimmen. Der Neufeststellungsbescheid vom 7. Juli 1953 ist nach seinem Inhalt ersichtlich nur auf § 62 BVG gestützt worden, weil die Entziehung der Versorgungsbezüge mit einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse i. S. dieser Vorschrift begründet worden ist. Im vorliegenden Falle sind am 16. Juli 1951 gleichzeitig zwei Bescheide mit gleichem Inhalt ergangen, von denen der eine die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Höhe der MdE nach der SVD Nr. 27, der andere die Anerkennung der Schädigungsfolgen und die Höhe der MdE nach dem BVG betrifft. Das LSG hatte also die Frage zu entscheiden, ob es sich bei dem BVG-Bescheid vom 16. Juli 1951 um einen Umanerkennungsbescheid ohne ärztliche Nachuntersuchung i. S. des § 86 Abs. 3 BVG aF handelt oder ob diesem Bescheid die vorhergehenden ärztlichen Untersuchungen vom 14. und 22. August 1950 zugrunde gelegt worden sind. Von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab, ob der Beklagte den Neufeststellungsbescheid vom 7. Juli 1953 auch auf § 86 Abs. 3 BVG aF hätte stützen können. Zwar hat das BSG in seinem Urteil vom 15. November 1960 (BSG 13, 144 = SozR BVG § 86 Bl. Ca 9 Nr. 11) ausgesprochen, daß in einem Falle, in dem ein Bescheid nach dem Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) am 26. April 1951 und ein Bescheid nach dem BVG am 27. April 1951 ergangen und in beiden Bescheiden dieselben Schädigungsfolgen mit derselben Höhe der MdE enthalten sind, die Rente unter Übernahme des bisher anerkannten Grades der MdE und der Schädigungsfolgen ohne ärztliche Nachuntersuchung i. S. des § 86 Abs. 3 BVG aF festgestellt worden ist. In dieser Entscheidung des BSG lag der Fall jedoch insofern anders, als aus den Umständen zu entnehmen war, daß die ärztlichen Untersuchungen, die vor dem Abschluß des KBLG-Verfahrens stattgefunden hatten, lediglich die Grundlage des KBLG-Bescheides, also der Anerkennung des Rentenanspruchs nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften gewesen waren, daß sie aber nicht auch für die Feststellung der Rente des Klägers nach dem BVG durchgeführt oder "verwertet" worden waren. Der 11. Senat des BSG hat sich in dieser Entscheidung dem Urteil des erkennenden Senats vom 24. April 1959 - 10 RV 571/58 - SozSich 1959 Rechtspr. Nr. 1019 - insoweit angeschlossen, als dort ausgeführt worden ist, daß die Rente eines Beschädigten nicht ohne ärztliche Nachuntersuchung unter Übernahme des bisher anerkannten Grades der MdE i. S. des § 86 Abs. 3 BVG aF festgestellt worden ist, wenn sich aus den tatsächlichen Umständen ergibt, daß vor dem Erlaß des BVG-Bescheides stattgefundene Untersuchungen ersichtlich bei Erlaß dieses Bescheides "verwertet" worden sind. Im vorliegenden Falle ist in dem BVG-Bescheid vom 16. Juli 1951 das Wort "Umanerkennung" ausdrücklich in "Erstanerkennung" geändert worden. Aus diesem Umstand hat das LSG in dem angefochtenen Urteil mit Recht gefolgert, daß der Beklagte die Ergebnisse der für das SVD-Verfahren durchgeführten ärztlichen Untersuchungen vom 14. und 22. August 1950 für die erste Festsetzung nach dem BVG verwertet und auch hierfür als zutreffend angesehen hat. Schädigungsfolgen und Grad der MdE sind daher nicht lediglich aus dem SVD-Bescheid vom gleichen Tage "übernommen" worden, vielmehr wollte nach den Gesamtumständen des Falles das VersorgA Braunschweig die angeführten Untersuchungsergebnisse ausdrücklich auch der "Erstanerkennung" nach dem BVG zugrunde legen. Es ist daher mit dem LSG davon auszugehen, daß es sich bei dem BVG-Bescheid vom 16. Juli 1951 nicht um einen Bescheid i. S. des § 86 Abs. 3 BVG aF gehandelt hat. Damit konnte der angefochtene Rentenentziehungsbescheid vom 7. Juli 1953 lediglich auf § 62 BVG gestützt werden.

Nach § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG darf die Grundrente eines Beschädigten nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Zustellung des Feststellungsbescheides gemindert oder entzogen werden. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 23. Februar 1960 (BSG 12, 16) hierzu ausgesprochen, daß ein Bescheid, der gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG die Grundrente eines Beschädigten mindert oder entzieht, dann rechtswidrig ist, wenn er vor Ablauf der in dieser Vorschrift bestimmten Zweijahresfrist zugegangen oder zugestellt worden ist. Ein vor Ablauf der Zweijahresfrist zugestellter Rentenentziehungsbescheid kann auch nicht in einen Bescheid umgedeutet werden, der nach Ablauf der Zweijahresfrist wirksam wurde, wenn - wie im vorliegenden Falle - die Entziehung der Rente erst mit Wirkung vom 1. September 1953, also nach Ablauf der Zweijahresfrist erfolgte. Dies ergibt sich aus der Erwägung, daß es sich bei § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG um ein Verbot des formellen "Tätigwerdens" der Versorgungsverwaltung durch das Zugehenlassen oder Zustellen eines Neufeststellungsbescheides handelt. Es ist hier demnach überhaupt kein Raum für die Abänderung eines formell wirksamen, aber materiell rechtswidrigen Neufeststellungsbescheides, sondern es käme nur ein völlig eigenes formelles Tätigwerden des Gerichts anstelle der Versorgungsverwaltung in Frage; insoweit kann aber ein Gericht nicht an die Stelle der Verwaltung treten (vgl. BSG aaO). Das verfrühte Tätigwerden der Verwaltung umfaßt nicht ein Tätigwerden zum richtigen Zeitpunkt, da insofern die Rechtslage eine andere ist als etwa bei einem Entziehungsbescheid, dessen materielle Voraussetzungen erst zu einem späteren Zeitpunkt eingetreten sind. Die Versorgungsverwaltung muß also bei Nichteinhaltung der Zweijahresfrist des § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG die Rente nach dem früheren Feststellungsbescheid trotz Änderung der Verhältnisse aus formellen Gründen weiterzahlen. Wie der erkennende Senat in dem oben angeführten Urteil ausgeführt hat, ist dieses Ergebnis auch gegenüber der Versorgungsverwaltung nicht unbillig, da diese die Möglichkeit hat, die Nichteinhaltung der Zweijahresfrist zu erkennen und einen weiteren Neufeststellungsbescheid nach Ablauf der Zweijahresfrist zu erlassen.

Im vorliegenden Falle ist der Erstanerkennungsbescheid nach dem BVG vom 16. Juli 1951 nach den Aktenunterlagen an demselben Tage zur Post gegeben worden. Es kann hier dahingestellt bleiben, wann er dem Kläger zugegangen ist, jedenfalls könnte dies frühestens am 16. Juli 1951 der Fall gewesen sein. Der angefochtene Rentenentziehungsbescheid vom 7. Juli 1953 ist am 10. Juli 1953 an den Kläger abgesandt worden. Nach Ansicht des LSG galt der Bescheid nach § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) mit dem 13. Juli 1953 als zugestellt. Dem LSG kann allerdings insoweit nicht beigepflichtet werden, als es seine Auffassung auf das VwZG gestützt hat, da in dem fraglichen Zeitpunkt dieses Gesetz im Lande Niedersachsen noch nicht gegolten hat. Vielmehr ist bis zum Inkrafttreten des Niedersächsischen VwZG (1. April 1954) die Verordnung über Postzustellung in der öffentlichen Verwaltung vom 4. August 1943 - RGBl I 527 - ( PostzustellungsVO = PZVO ) anzuwenden. Nach dieser Vorschrift waren Zustellungen durch die Post auf dem Gebiet der öffentlichen Verwaltung in der Weise zu bewirken, daß das mitzuteilende Schriftstück unter der Anschrift des Empfängers zur Post gegeben wurde, und zwar in der Regel als gewöhnliche Sendung. Die PZVO stand, soweit sie das Zustellungsverfahren der Landesbehörden und der landesunmittelbaren Körperschaften betraf, nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 zur Disposition des Landesgesetzgebers; das gilt auch für die Zeit nach Inkrafttreten des Grundgesetzes (Art. 70 GG). Die Frage, wann der am 10. Juli 1953 zur Post gegebene Neufeststellungsbescheid vom 7. Juli 1953 dem Kläger zugestellt wurde, ist daher allein nach § 1 Satz 3 PZVO zu beantworten (vgl. hierzu BSG 4, 200, 203, 204). Nach dieser Vorschrift gilt die Zustellung bei Empfängern, die im Bereich des Ortsbestellverkehrs wohnen, am zweiten Werktag, sonst am vierten Werktag nach der Aufgabe zur Post als bewirkt, sofern nicht nach den Umständen anzunehmen ist, daß die Sendung nicht oder erst in einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Für derartige besondere Umstände sind im vorliegenden Falle keine Anhaltspunkte vorhanden und vom LSG auch nicht festgestellt. Da der Bescheid des VersorgA Braunschweig vom 7. Juli 1953 an den damals in Braunschweig wohnenden Kläger, also im Bereich des Ortsbestellverkehrs zuzustellen war, gilt die Zustellung nach § 1 Satz 3 PZVO am zweiten Werktag nach der Aufgabe zur Post als bewirkt. Im Hinblick darauf, daß der 12. Juli 1953 ein Sonntag war, gilt die Zustellung des Bescheides vom 7. Juli 1953 am 13. Juli 1953 als bewirkt. Damit hat der Beklagte die Zweijahresfrist des § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG, die frühestens am 16. Juli 1953 (zwei Jahre nach dem Bescheid vom 16. Juli 1951) enden konnte, nicht gewahrt. Der angefochtene Rentenentziehungsbescheid vom 7. Juli 1953 ist somit nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 12, 16), von der abzuweichen kein Anlaß besteht, schon aus diesem Grunde rechtswidrig.

Das LSG hat diese Rechtslage in dem angefochtenen Urteil an sich nicht verkannt, es hat sich aber nach § 170 Abs. 4 SGG an die vorhergehende Entscheidung des Revisionsgerichts vom 25. August 1960 gebunden gefühlt. Insoweit rügt der Kläger jedoch zutreffend eine Verletzung dieser Verfahrensvorschrift. Das Berufungsgericht bezieht sich auf die Entscheidungsgründe dieses Urteils auf Seite 5, wo es heißt: "Es - das LSG - hat die Frage, ob der Bescheid vom 16. Juli 1951 jedenfalls mit Wirkung vom 1. September 1953 an teilweise hat zurückgenommen werden dürfen, allein unter dem Gesichtspunktspunkt geprüft, ob in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Schädigungsfolgen und der Rente maßgebend gewesen sind (§ 62 BVG), eine wesentliche Änderung eingetreten ist." Das LSG übersieht hierbei bereits, daß es sich bei dem angeführten Satz lediglich um die Wiedergabe des sachlich-rechtlichen Standpunkts des LSG in seinem Urteil vom 24. September 1959, dagegen nicht um eine Beurteilung der Frage durch das BSG gehandelt hat, welche rechtlichen Gesichtspunkte für die Dauer der Zweijahresfrist des § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG maßgebend sind. Eine Bindung des Vordergerichts an die Beurteilung einer Rechtsfrage durch das Revisionsgericht kann aber nur dann eintreten, wenn sich das Revisionsgericht zu dieser Rechtsfrage auch ausdrücklich geäußert hat. Wenn dagegen das Revisionsgericht eine Rechtsfrage, die allerdings die Entscheidung des Rechtsstreits beeinflussen konnte, in seinem aufhebenden Urteil überhaupt nicht berührt - gleichgültig aus welchen Gründen -, so kann insoweit eine Bindung des Berufungsgerichts i. S. des § 170 Abs. 4 SGG nicht eintreten. Im übrigen tritt die Bindung an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts nur insoweit ein, als diese der Aufhebung des angefochtenen Urteils zugrunde liegt (vgl. BSG in SozR SGG § 170 Bl. Da 2 Nr. 4). Hat das BSG das angefochtene Urteil - wie im vorliegenden Falle - lediglich wegen eines Verfahrensmangels aufgehoben, so bindet seine rechtliche Beurteilung somit auch nur in bezug auf das Verfahren; im übrigen ist das Gericht, an das die Sache zurückverwiesen worden ist, in der Beurteilung nicht gebunden (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 5 zu § 170 mit weiteren Hinweisen). Das LSG hat somit § 170 Abs. 4 SGG verletzt, weil es in dem angefochtenen Urteil eine Bindung nach dieser Vorschrift dahin angenommen hat, daß der angefochtene Bescheid vom 7. Juli 1953 nicht rechtswidrig sei, obwohl die Zweijahresfrist des § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG nicht eingehalten worden ist.

Da nach Erlaß des angefochtenen Bescheides vom 7. Juli 1953 ein neuer Bescheid nach § 62 BVG nicht ergangen ist, durfte das LSG die Klage nicht unter Aufhebung des Urteils des SG Braunschweig vom 15. Juni 1956 abweisen. Nach diesem Bescheid sind zwar noch der Teilberichtigungsbescheid vom 1. Oktober 1957, der durch das angefochtene Urteil rechtskräftig aufgehoben worden ist, und der Bescheid vom 1. Oktober 1957 über die Feststellung von Schädigungsfolgen und die Ablehnung der Rente ergangen. Der letztere Bescheid ist aber lediglich im Anschluß an den Teilberichtigungsbescheid erlassen worden und betrifft ersichtlich nur die nach Ansicht des Beklagten unter Zugrundelegung des Teilberichtigungsbescheides noch vorhandenen Schädigungsfolgen. Dieser Anschlußbescheid ist somit seinem Wesen und Inhalt nach kein Bescheid wegen Änderung der Verhältnisse i. S. des § 62 BVG. Das angefochtene Urteil mußte daher insoweit abgeändert werden, als es unter Aufhebung des Urteils des SG Braunschweig vom 15. Juni 1956 die Klage abgewiesen und den Bescheid vom 1. Oktober 1957 über die Feststellung der Schädigungsfolgen und die Ablehnung der Rente bestätigt hat. Wegen Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 7. Juli 1953 steht dem Kläger auch über den 31. August 1953 hinaus für sämtliche in dem Bescheid vom 16. Juli 1951 anerkannten Schädigungsfolgen eine Rente nach einer MdE um 40 v. H. zu. Bei dieser Rechtslage bedurfte es keiner Stellungnahme mehr zu der von dem LSG in dem angefochtenen Urteil vertretenen Auffassung, daß hinsichtlich der in diesem Bescheid als Schädigungsfolge anerkannten Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems und Steigerung der allgemeinen nervösen Erregbarkeit eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i. S. des § 62 BVG eingetreten sei. Ferner mußte die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Braunschweig vom 15. Juni 1956 mit der Maßgabe zurückgewiesen werden, daß die Worte unter II des Tenors "bis zur Erteilung eines etwaigen Berichtigungsbescheides" wegfallen. Dieser Teil des Urteilsausspruchs des SG Braunschweig ist durch die rechtskräftige Aufhebung des Teilberichtigungsbescheides vom 1. Oktober 1957 gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380375

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