Leitsatz (amtlich)

1. Der Sonderrechtsnachfolger iS von § 56 Abs 1 SGB 1 kann den Antrag nach § 44 Abs 4 S 3 SGB 10 auf Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts und Neufeststellung zu Unrecht nicht erbrachter Sozialleistungen gemäß § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 stellen.

2. Ein Verwaltungsverfahren nach § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 gilt als "im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten... anhängig" iS von § 59 S 2 SGB 1, wenn der berechtigte Antrag des Sonderrechtsnachfolgers nach § 44 Abs 4 S 3 SGB 10 (siehe Leitsatz 1) auf einen vor dem Tod des Leistungsberechtigten erlassenen nicht begünstigenden Verwaltungsakt zurückwirkt (Bestätigung der Entscheidung des erkennenden Senats vom 1983-08-11 1 RA 53/82 = SozR 1200 § 59 Nr 4).

 

Normenkette

SGB X § 44 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1980-08-18; SGB I § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1975-12-11, § 59 S. 2 Fassung: 1975-12-11; SGB X § 44 Abs. 4 S. 3 Fassung: 1980-08-18; SGB X Art. 2 § 40 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

SG Würzburg (Entscheidung vom 17.02.1982; Aktenzeichen S 4 Ar 228/81)

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 23.03.1983; Aktenzeichen L 14 Ar 173/82)

 

Tatbestand

Streitig ist die Neufeststellung einer Versichertenrente.

Die Klägerin ist die Witwe des im Juli 1904 geborenen und am 19. Oktober 1980 verstorbenen früheren Holzarbeiters Karl Nikolaus S (S.). Ihm hatte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) mit Bescheid vom 22. September 1969 ab 1. August 1969 antragsgemäß Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres von damals monatlich 902,-- DM bewilligt. Jahre später, im Februar 1974, wurde bei S. eine Siliko-Tuberkulose festgestellt, die in der Folge von der zuständigen Berufsgenossenschaft (BG) als Berufskrankheit anerkannt und mit 60 vH der Vollrente auf Dauer berentet wurde. Mit mehreren Bescheiden hatte die Beklagte hierauf das Altersruhegeld des S. wegen Zusammentreffens mit einer Unfallrente unter Anwendung der Ruhensvorschrift des § 1278 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) herabgesetzt, zuletzt mit Bescheid vom 15. Juli 1977 ab 1. Januar 1977 von 946,-- DM monatlich (= 11.352,62 DM jährlich) auf monatlich 730,-- DM und ab 1. Juli 1977 von monatlich 1.040,20 DM (= 12.481,88 DM jährlich) auf monatlich 848,50 DM.

Nach dem Tode des Versicherten hat die Beklagte der Klägerin Witwenrente von 699,40 DM monatlich bewilligt (Bescheid vom 18. Dezember 1980).

Mit einem Schreiben vom 8. März 1981 wandte sich die Klägerin an die Beklagte und bat, die Höhe der ihr zustehenden Leistungen zu überprüfen.

Die Beklagte faßte dieses Schreiben als Antrag auf Nachzahlung von S. in zu geringer Höhe gezahlten Versichertenrente auf, lehnte aber mit dem streitigen Bescheid vom 2. April 1981 den Antrag ab: Zwar hätte sie, die Beklagte, dem verstorbenen Ehemann der Klägerin seine Versichertenrente unverkürzt auch über den Zeitpunkt hinaus weitergewähren müssen, in dem ihm Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuerkannt worden war; denn der "Unfall" sei erst nach dem Versicherungsfall des Alters eingetreten. Obwohl sie, die Beklagte, also das Altersruhegeld des S. zu Unrecht habe ruhen lassen, bestehe nach § 59 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 1) kein Anspruch der Klägerin auf Nachzahlung dieser Rente; ihr Ehemann habe sich gegen die unrechtmäßige Einbehaltung nicht gewandt, so daß zum Zeitpunkt seines Todes kein Verwaltungsverfahren anhängig gewesen sei. Der Widerspruch der Klägerin gegen diesen Bescheid hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 30. Juni 1981).

Dagegen ist die Klägerin mit ihrem Anspruch in den Vorinstanzen durchgedrungen. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt, die Versichertenrente des verstorbenen Ehemannes der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1977 bis 31. Oktober 1980 neu festzustellen und der Klägerin den Differenzbetrag einschließlich der Zinsen hieraus ab 1. Januar 1978 auszuzahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit dem angefochtenen Urteil vom 23. März 1983 die Berufung der Beklagten hiergegen zurückgewiesen und ausgeführt: Auf den vorliegenden Fall sei bereits § 44 Abs 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) anzuwenden. Danach sei der ein teilweises Ruhen der Rente des S. anordnende Verwaltungsakt der Beklagten vom 15. Juli 1977, auch nachdem er unanfechtbar geworden sei, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich ergebe, daß bei Erlaß dieses Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewendet worden sei und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden seien. Dem stehe § 59 Satz 2 SGB 1 nicht entgegen; "anhängig" in diesem Sinn sei nämlich ein Verwaltungsverfahren auch dann, wenn die Rechtsnachfolger die Fortsetzung des ursprünglichen Verfahrens betrieben. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu §§ 627, 1300 RVO aF sei auf § 44 SGB 10 zu erstrecken. Die Beklagte sei verpflichtet gewesen, ihren Fehler von Amts wegen durch "Verwaltungshandeln" auszugleichen. Das SG habe den Zeitraum der Neufeststellung und den Zinsanspruch zutreffend beurteilt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihre Auffassung weiter und bringt zuletzt vor: § 59 SGB 1 stelle gegen § 44 SGB 10 eine eigenständige Regelung dar. Der Entscheidung des erkennenden Senats vom 11. August 1983 - 1 RA 53/82 - könne nicht gefolgt werden; sie stelle § 44 SGB 10 gegenüber der Sonderrechtsnachfolge in § 59 SGB 1 ungerechtfertigt voran und verknüpfe sie unzulässig. Das Sozialrechtsverhältnis ende mit dem Tod des Versicherten; das neue Sozialrechtsverhältnis mit den Hinterbliebenen beginne mit dem Zeitpunkt des Antrags auf Hinterbliebenenrente. Im - hier interessierenden - "Zwischenraum" sei kein Verwaltungsverfahren anhängig.

Die Beklagte beantragt, 1. das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. März 1983 und das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 17. Februar 1982 aufzuheben; 2. die Klage vom 10. Juli 1981 gegen ihren Bescheid vom 2. April 1981 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 1981 abzuweisen und zu entscheiden, 3. daß außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten seien.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen und zu entscheiden, daß ihr die Revisionsklägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten habe.

Sie führt aus, Sinn und Zweck der mit § 59 Satz 2 SGB 1 getroffenen Regelung sei, daß die Rechtsnachfolger die rechtlichen Möglichkeiten haben sollten, die der Leistungsberechtigte selbst zu Lebzeiten nach Erfolg der Antragstellung gehabt habe. Unter anderem nach § 44 SGB 10 sollten die Versicherungsträger jedoch von Amts wegen tätig werden, wenn sie erkennen, daß sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hätten; eine Neufeststellung der Leistung hänge also nicht von einem Tätigwerden des Berechtigten ab. Deshalb sei eine latente "Anhängigkeit" des Verfahrens so lange vorhanden, bis das Verwaltungsunrecht erkannt und korrigiert werde. Es könne nicht Sinn und Zweck des § 59 SGB 1 sein, offenkundiges Verwaltungsunrecht nach dem Tode des Versicherten zu sanktionieren und den Rechtsnachfolgern die dem verstorbenen Versicherten zustehenden Leistungen vorzuenthalten, zumal dann, wenn der Rechtsnachfolger aufgrund der engen Lebensgemeinschaft mit dem Versicherten die negativen finanziellen Auswirkungen der zu Unrecht gekürzten Leistung voll mitzutragen gehabt habe.

Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) einverstanden seien.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig, sachlich aber nicht begründet.

Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10, in Kraft getreten am 1. Januar 1981 (Art II § 40 Abs 1 Satz 1 des Gesetzes vom 18. August 1980 - BGBl I 1469, ber 2218), ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen dann, wenn sich ua ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Nach Art II § 40 Abs 1 Satz 2 aaO steht der Anwendung von § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 nicht entgegen, daß der "aufzuhebende Verwaltungsakt" - hier der dem Ehemann der Klägerin das Altersruhegeld ab 1. Januar 1977 teilweise einbehaltende Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1977 - "vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist" (vgl hierzu mit Nachweisen ua aus der Rechtsprechung des erkennenden Senats den Beschluß des Großen Senats des BSG vom 15. Dezember 1982 - GS 2/80). Die Beklagte räumt ausdrücklich ein, daß sie mit dem S. am 15. Juli 1977 erteilten "Ruhensbescheid" die RVO unrichtig angewandt und dem Versicherten Rentenleistungen zu Unrecht vorenthalten habe. Das kann nicht zweifelhaft sein; nach § 1278 Abs 3 Nr 1 RVO tritt kein Ruhen ein, wenn die Verletztenrente für einen Unfall - hier: für die einem Arbeitsunfall gleichgestellte Berufskrankheit der Siliko-Tuberkulose (vgl § 551 RVO) - gewährt wird, der sich ua nach dem Beginn des Altersruhegeldes ereignet hat. Da die Beklagte dem Ehegatten der Klägerin Altersruhegeld bereits im Jahre 1969 bewilligt, die Berufskrankheit aber erst im Jahre 1974 aufgetreten ist, ruhte dieses Altersruhegeld trotz des Zusammentreffens mit der Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht. Gleichwohl verweigert die Beklagte der Klägerin als der nach § 56 Abs 1 Nr 1 SGB 1 berufenen Sonderrechtsnachfolgerin ihres Ehemannes die Nachzahlung der diesem zu Unrecht vorenthaltenen Geldleistungen unter Berufung auf § 59 Satz 2 SGB 1. Sie kann damit jedoch aus folgenden Gründen keinen Erfolg haben:

Nach § 59 Satz 1 aaO erlöschen die - höchstpersönlichen - Ansprüche auf Dienst- und Sachleistungen mit dem Tod des Berechtigten, Ansprüche auf Geldleistungen dagegen nach Satz 2 aaO "nur, wenn sie im Zeitpunkt des Todes des Berechtigten weder festgestellt sind noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist". Der Wortlaut der ersten Alternative dieser Bestimmung - keine Feststellung des streitigen Anspruchs des verstorbenen Berechtigten auf eine Geldleistung noch zu dessen Lebzeiten - stützt den Rechtsstandpunkt der beklagten LVA nicht: Zuletzt mit dem in Streit liegenden Bescheid vom 15. Juli 1977 hat die Beklagte dem Ehemann der Klägerin das von ihm bereits 1969 beantragte Altersruhegeld ab 1. Januar 1977 auf monatlich 946,-- DM (= jährlich 11.352,62 DM) und ab 1. Juli 1977 auf monatlich 1.040,20 DM (= jährlich 12.481,88 DM) festgestellt; freilich hat die Beklagte im gleichen Bescheid, in einem weiteren Verfügungssatz, die Auszahlung eines Teils des so festgestellten Altersruhegelds wegen angeblichen Ruhens verweigert. Die für Bezugszeiten ab 1. Januar 1977 streitige Geldleistung war sonach von der Beklagten sehr wohl - bindend iS von § 77 SGG - in der von der Rechtsnachfolgerin beanspruchten Höhe, also positiv "festgestellt"; nur die Auszahlung wurde zum Teil verweigert. Verwaltungspraktische Gründe - Schwierigkeiten, einen Geldanspruch erst nach dem Tode des Berechtigten erstmals festzustellen - können daher ein Erlöschen des Anspruchs der Klägerin nicht plausibel begründen (vgl dazu die Amtliche Begründung zu §§ 56 bis 69 des Entwurfs eines SGB - Allgemeiner Teil -, BT-Drucks 7/868 und Hauck/Haines, SGB I, § 59 RdNr 4).

Selbst dann aber, wenn diese gewichtigen Bedenken dahingestellt blieben und § 59 Satz 2 SGB 1 über seinen Wortlaut hinaus etwa dahin ausgelegt würde, daß die - von S. zu Lebzeiten nicht angefochtene - teilweise Einbehaltung des ihm bewilligten Altersruhegeldes einer "Nichtfeststellung" des Anspruchs auf (Auszahlung von) Geldleistungen gleichzuerachten wäre, so wäre der Auszahlungsanspruch der klagenden Sonderrechtsnachfolgerin gleichwohl begründet. In diesem Fall wäre nämlich anzunehmen, daß über den streitigen Anspruch iS der zweiten Alternative des § 59 Satz 2 SGB 1 ein Verwaltungsverfahren im Zeitpunkt des Todes des S. als anhängig gewesen galt:

Wie der Senat in seiner - zur Veröffentlichung bestimmten - Entscheidung vom 11. August 1983 - 1 RA 53/82 - ausgeführt hat, ist das Recht des in Satz 2 aaO genannten "Verwaltungsverfahrens" - einschließlich seiner "Anhängigkeit" und deren zeitlicher Ausdehnung - im SGB 10 (1. Kapitel, §§ 1 bis 66) geordnet. § 59 Satz 2 SGB 1 enthält keine den § 44 SGB 10 abändernde verfahrensrechtliche Regelung (vgl § 1 Abs 1 Satz 1 SGB 10 und § 37 SGB 10). Insbesondere ist nicht bestimmt, daß Rechtsnachfolger nicht berechtigt seien, ein Verfahren auf Rücknahme eines dem verstorbenen Versicherten erteilten rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes iS von § 44 SGB 10 zu betreiben. Gerade wegen der aaO angeordneten "Wirkung" der Rücknahme des nicht begünstigenden Verwaltungsakts "für die Vergangenheit" auch über den etwa inzwischen eingetretenen Tod des Versicherten zurück könnte das dort eingeräumte Antragsrecht zu Lasten des Rechtsnachfolgers nur ganz ausdrücklich ausgeschlossen sein. Einen solchen Ausschluß der Rechtsnachfolger enthält auch § 59 Satz 2 SGB 1 nicht. Im Gegenteil; § 59 Satz 2 aaO bestimmt ausdrücklich, daß mit dem Tod des Berechtigten, dh zu Lasten von dessen Rechtsnachfolger Ansprüche auf Geldleistungen "nur" in bestimmten Fällen, also nicht allgemein, erlöschen. § 59 Satz 2 aaO kann deshalb der Einleitung und Durchführung eines Verwaltungsverfahrens nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 nicht grundsätzlich entgegenstehen (ebenso Hauck/Haines, SGB X 1, 2, K § 44 RdNr 29). Bei dieser Rechtslage kann entgegen dem Vortrag der Beklagten nicht einsichtig werden, wie weit der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 11. August 1983 aaO § 44 SGB 10 dem § 59 SGB 1 ungerechtfertigt "vorangestellt" hätte.

Nun trifft zu, daß das von der Klägerin am 8. März 1981 nach § 44 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 4 Satz 2 SGB 10 bei der Beklagten eingeleitete Verfahren auf Rücknahme des zweiten Verfügungssatzes - Anordnung der teilweisen Nichtauszahlung des Altersruhegeldes - im Bescheid vom 15. Juli 1977 "im Zeitpunkt des Todes" ihres berechtigt gewesenen Ehemannes am 19. Oktober 1980 noch nicht beantragt war und ein Verwaltungsverfahren damit noch nicht "anhängig" iS von § 59 Satz 2 aaO war (so zutreffend auch Tannen in DRV 1983, 729, 731). Indessen berücksichtigt die Beklagte nicht, daß sie dann, wenn die - von ihr im vorliegenden Fall bereits vorgenommene und iS der Klägerin positiv abgeschlossene - Prüfung nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 die Unrichtigkeit des beanstandeten nichtbegünstigenden Verwaltungsakts ergibt, verpflichtet ist, diesen "mit Wirkung für die Vergangenheit" zurückzunehmen. Für den vorliegenden Fall, in dem die Beklagte die Rechtswidrigkeit des zweiten Verfügungssatzes in ihrem unanfechtbaren Verwaltungsakt vom 15. Juli 1977 und damit unrechtmäßiges Vorenthalten von Leistungen an S. ausdrücklich bereits eingeräumt hat, bedeutet dies, daß sie ihren Bescheid vom 15. Juli 1977 insoweit rückwirkend zu diesem Zeitpunkt (ex tunc) aufzuheben hat. Dieser Zeitpunkt liegt vor dem Tod von S. am 19. Oktober 1980. In Vollzug des § 44 Abs 4 Satz 1 SGB 10 hat die Beklagte sodann, da nach Teilaufhebung des entgegenstehenden Bescheids vom 15. Juli 1977 der Leistungsantrag des Berechtigten nach § 1248 Abs 5 RVO/ § 18 Satz 2 SGB 10 (bezüglich der Auszahlung der Rente) wieder unverbeschieden ist, dem Rechtsnachfolger die Sozialleistungen zu erbringen, die sie S. zu Unrecht vorenthalten hat. Freilich begrenzt § 44 Abs 4 Satz 1 und 3 diese Pflicht zur Nachleistung auf 4 Jahre ab Antragstellung.

Diese vom Gesetz angeordnete Rückwirkung des erfolgreichen Antrags des Rechtsnachfolgers gem § 44 Abs 4 Satz 3 SGB 10 auf einen vor dem Tod des verstorbenen Berechtigten liegenden Zeitpunkt ist bei Anwendung von § 59 Satz 2 SGB 1 einer "Anhängigkeit" des Verwaltungsverfahrens - wie der erkennende Senat aaO entschieden hat - "gleichzuerachten". Das Verwaltungsverfahren in bezug auf das von S. beantragte Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres "gilt" seit dem Zeitpunkt - wieder - als anhängig, von dem an der Träger den unrechtmäßigen, ablehnenden Rentenbescheid zurückzunehmen hat. Diese gesetzliche Rückwirkung des von dem Träger wieder zu betreibenden Verwaltungsverfahrens zur Feststellung des dem S. zustehenden Sozialleistungen bedeutet nämlich, daß der Träger trotz formeller Unanfechtbarkeit des dem Versicherten erteilten Bescheids das ursprüngliche Leistungs-Feststellungsverfahren mit dem Ziel und zu dem Zweck "wiederaufnehmen" und "fortsetzen" muß, die beantragte Leistung nunmehr entsprechend dem überragenden Prinzip der Gesetzmäßigkeit und der materiellen Gerechtigkeit allen Verwaltungshandelns in gesetzlich zustehender Höhe festzustellen (zur Wirkungsweise der "Fortsetzung" des ursprünglichen Verwaltungsverfahrens vgl insbesondere Hauck/Haines, SGB I aaO, RdNr 5; zur Rechtsfigur der "Wiederaufnahme" vgl zB Casselmann in Koch/Hartmann, die Rentenversicherung im SGB, SGB-AT § 59 RdNr 6).

Ob anderes dann angenommen werden könnte, wenn in bezug auf die zu Unrecht nicht oder zu gering festgestellte Sozialleistung eine ausschließlich vermögens- und erbrechtlich zu beurteilende Rechtsnachfolge (vgl § 58 SGB 1) in Frage käme, kann vorliegend dahinstehen. Für den Familienangehörigen des verstorbenen Leistungsberechtigten iS von § 56 Abs 1 SGB 1 jedenfalls, der mit diesem zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat oder von ihm wesentlich unterhalten worden ist, kann dies nicht gelten. Er wird als Sonderrechtsnachfolger unter Verdrängung der nach bürgerlichem Recht als Erben berufenen Personen begünstigt, weil zu seinen Gunsten Einschränkungen der Lebensführung ausgeglichen werden sollen, die auch ihm schon zu Lebzeiten des Berechtigten durch Nichtauszahlung zustehender laufender Geldleistungen entstanden sind (Amtl Begründung, BT-Drucks 7/868 zu §§ 56 - 59; Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, SGB 1, § 56 Anm 1). Es ließe sich nicht rechtfertigen, daß die Rechtspflicht des Versicherungsträgers aus § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10, einen unrichtigen belastenden Leistungsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen und so der materiellen Gerechtigkeit Genüge zu tun, auch gegenüber dem durch Sonderrechtsnachfolge begünstigten Personenkreis der Familienangehörigen des verstorbenen Berechtigten ausgeschlossen würde und der Versicherungsträger auch ihnen gegenüber befugt sein könnte, die dem Berechtigten vorenthaltenen Sozialleistungen ein- und für sich zu behalten. Als schon zu Lebzeiten des Versicherten vom rechtswidrigen Verwaltungsakt "mitbetroffen" müssen diese Sonderrechtsnachfolger legitimiert sein, das "Wiederaufnahme- und Fortsetzungsverfahren" nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 zu beantragen; ihr Antrag muß daher die gleichen verfahrensrechtlichen Wirkungen haben, wie sie ein entsprechender Antrag des Berechtigten selbst hätte (zum Antragsrecht des "Betroffenen" vgl auch VerbKommentar, SGB 10, § 44 RdNr 5).

Ist aber der vorliegende Fall nach dem § 59 Satz 2 SGB 1 zu entnehmenden Plan des Gesetzgebers so zu behandeln, als sei über den berechtigten Anspruch des verstorbenen Ehemannes der Klägerin auf unverkürzte Auszahlung des ihm bindend bewilligten Altersruhegeldes ab 1. Januar 1977 zur Zeit von dessen Tod ein Verwaltungsverfahren noch anhängig gewesen, so haben die Vorinstanzen die Beklagte zu Recht verurteilt, den Bescheid vom 15. Juli 1977 in seinem rechtswidrigen Teil zurückzunehmen und der Klägerin ab 1. Januar 1977 den "Differenzbetrag" nebst Zinsen hieraus (§ 44 SGB 1) auszuzahlen.

Die Revision der Beklagten ist hiernach unbegründet und zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518467

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