Leitsatz (amtlich)

1. Der Anspruch auf Rückzahlung zu Unrecht entrichteter Beiträge (hier: nach AVG § 146 = RVO § 1424 - Fassung: 1957-02-23 -) ist Eigentum iS des GG Art 14.

2. Der Ausschluß der Rückforderung nach AVG § 146 Abs 3 aF für den Fall, daß "aus den Beiträgen" bereits eine Regelleistung bewilligt war, verletzt nicht die dem Gesetzgeber bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums (GG Art 14 Abs 1 S 2) gezogenen Grenzen.

3. GG Art 14 wird nicht verletzt durch die Auslegung von AVG § 146 Abs 3 aF, die es für unerheblich hält, ob sich der einzelne Beitrag auf die rechtliche Grundlage der Regelleistung (hier: eines Heilverfahrens) auch "konkret ausgewirkt" hat (vgl BSG 1976-02-05 11 RA 20/75 = SozR 2200 § 1424 Nr 2).

4. Der Versicherungsträger muß sich zwar vor Bewilligung eines Heilverfahrens vergewissern, ob die versicherungsmäßigen Voraussetzungen der Leistung vorliegen; diese Pflicht besteht aber nicht dem Versicherten gegenüber.

 

Normenkette

AVG § 146 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1424 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; AVG § 13 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1236 Fassung: 1974-08-07; AVG § 23 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Fassung: 1957-02-23; SGB 4 § 26 Abs. 1 Fassung: 1976-12-23; GG Art. 14 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1949-05-23; BGB § 812 Fassung: 1896-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 21.11.1975; Aktenzeichen IV ANBf 79/74)

SG Hamburg (Entscheidung vom 01.07.1974; Aktenzeichen 13 AN 218/73)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 21. November 1975 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger hat, nachdem für ihn bis Mai 1950 insgesamt 57 Pflichtbeiträge und von Juli 1957 bis Dezember 1960 nochmals 42 Pflichtbeiträge entrichtet worden waren, in der Zeit von Januar 1961 bis Dezember 1963 weitere 36 freiwillige Beiträge im Gesamtwert von 4.788,- DM entrichtet. Die Versicherungskarten, in die die Marken der freiwilligen Beiträge eingeklebt waren, sind im März 1962 und im März 1968 aufgerechnet worden.

Mit Bescheid vom 6. März 1972 beanstandete die Beklagte die für die Jahre 1961 bis 1963 entrichteten Beiträge, weil der Kläger nach dem vor Juli 1965 geltenden Recht nicht zur Weiterversicherung berechtigt gewesen sei; zugleich lehnte sie die Rückzahlung wegen eines dem Kläger im Jahre 1968 gewährten Heilverfahrens ab.

Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hielt die Beanstandung der Beiträge für berechtigt und die hilfsweise geforderte Rückzahlung nicht für begründet. Die Rückforderung sei ausgeschlossen, weil das Heilverfahren auch aus den beanstandeten Beiträgen gewährt worden sei. Die Beklagte habe weder zu spät beanstandet noch vor Durchführung des Heilverfahrens die Wirksamkeit dieser Beiträge prüfen müssen. Art 14 des Grundgesetzes (GG) sei nicht verletzt; selbst wenn das Rückforderungsrecht unter den Begriff des Eigentums falle, schränke § 146 Abs 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF es in zulässiger Weise ein.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung der Vorentscheidungen die Beklagte zur Erstattung der beanstandeten Beiträge zu verurteilen.

Nach seiner Ansicht ist der Ausschluß der Rückforderung wegen des Heilverfahrens nicht mit Art 14 GG vereinbar. Selbst noch bei der Bestimmung der Schranken des Eigentums müsse sich der Gesetzgeber am öffentlichen Interesse orientieren; danach sei der Rückforderungsausschluß allenfalls dann gerechtfertigt, wenn die zu Unrecht entrichteten Beiträge die rechtliche Grundlage der gewährten Leistung darstellten. Ferner habe es die Beklagte unterlassen, die Wirksamkeit der entrichteten Beiträge beizeiten zu prüfen und den Kläger auf die Regelung des § 146 Abs 3 AVG aF hinzuweisen.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Obwohl der Kläger im Revisionsantrag die Aufhebung der ergangenen Urteile und Bescheide ohne Einschränkung beantragt hat, ergibt doch sein gesamtes Revisionsvorbringen, daß er nur den Anspruch auf Rückzahlung weiterverfolgen will. Damit ist der Bescheid vom 6. März 1972 nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend geworden, soweit die Beklagte darin die Rechtswirksamkeit der für 1961 bis 1963 entrichteten Beiträge beanstandet hat. Der Senat hat sich infolgedessen nur noch mit der Rückforderung zu befassen und hierbei davon auszugehen, daß die beanstandeten Beiträge zu Unrecht entrichtet worden sind.

Der Rückforderungsanspruch beurteilt sich (noch) nach dem - inzwischen aufgehobenen - § 146 AVG in der bis zum 1. Juli 1977 geltenden Fassung (vgl Art II §§ 2 Nr 1 Buchst a, 21 Abs 1 Sozialgesetzbuch - SGB - IV), im folgenden § 146 AVG aF. Nach dessen Abs 1 können zu Unrecht entrichtete Beiträge binnen zwei Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres der Entrichtung zurückgefordert werden; im Falle einer Beanstandung beginnt die zweijährige Frist gemäß Abs 2 erst mit dem Abschluß des Kalenderjahres dieser Beanstandung. Nach § 146 Abs 3 AVG aF ist die Rückforderung indessen ausgeschlossen, "wenn dem Versicherten bereits aus diesen Beiträgen eine Regelleistung bewilligt worden ist". Dieser Tatbestand ist hier erfüllt.

Regelleistungen sind nach § 12 Nr 1 AVG ua Heilverfahren im Sinne der Vorschriften der §§ 13 ff AVG. Eine Regelleistung kann, wie schon der Wortlaut des § 146 Abs 3 iVm Abs 1 AVG aF ausweist, entgegen der Auffassung des Klägers aus zu Unrecht entrichteten Beiträgen bewilligt worden sein. Dabei kommt es, wie der Senat in seinem Urteil vom 5. Februar 1976 (SozR 2200 § 1424 Nr 2) näher ausgeführt hat, nicht darauf an, daß sich der einzelne Beitrag auf die rechtliche Grundlage des Heilverfahrens "konkret ausgewirkt" hat. Das Heilverfahren ist dem Kläger aufgrund seiner Eigenschaft als Versicherter bewilligt worden. Als Versicherter galt seinerzeit ua, wer die Wartezeit nach § 23 Abs 3 AVG erfüllt hatte.

Die danach erforderliche Versicherungszeit war jedoch nur eine Mindestzeit. Zu ihrer Feststellung mußten nicht 60 Beiträge aus der gesamten Beitragszeit als für die Gewährung von Heilbehandlung maßgebende Grundlage ausgesondert werden. Infolgedessen haben alle vor der Gewährung des Heilverfahrens entrichteten Beiträge diese Leistung mitgetragen (so schon SozR aaO), also auch solche, deren Fehlen nicht dazu geführt hätte, daß die Leistung abzulehnen gewesen wäre. Es ist somit unzulässig, Beiträge von dem Rückforderungsausschluß auszunehmen, die für die Regelleistung entbehrlich gewesen wären. Der Wortlaut des § 146 Abs 3 AVG aF bietet hierfür keine Stütze. Auch die nun geltende Vorschrift des § 26 Abs 1 SGB IV gibt insoweit keinen Anlaß zu nachträglichen Zweifeln; sie stellt im Wortlaut darauf ab, ob "auf Grund" der zu Unrecht entrichteten Beiträge Leistungen erbracht worden sind; diese Umformulierung entspricht der bisherigen Rechtsprechung.

Dem Ausschluß des Rückforderungsanspruchs steht ferner nicht entgegen, daß die Beklagte nicht bereits vor der Bewilligung des Heilverfahrens die Beiträge beanstandet und auf die Gefahr des Rechtsverlustes hingewiesen hat (vgl SozR Nr 1 zu § 1421 RVO; SozR 2200 § 1424 Nr 2). Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger damit die Berufung der Beklagten auf § 146 Abs 3 AVG aF als unzulässige Rechtsausübung kennzeichnen oder von der Beklagten wegen pflichtwidriger Vereitelung der Rückforderung Schadensausgleich beanspruchen will. Mit diesem Vorbringen kann der Kläger jedenfalls deshalb nicht durchdringen, weil die Beklagte entgegen seinen Behauptungen keine Pflichten ihm gegenüber verletzt hat. Die Beklagte war nicht gehalten, die bei ihr eingegangenen Versicherungskarten sogleich oder doch alsbald auf Beanstandungsgründe, auch nicht auf sofort erkennbare Beanstandungsgründe zu prüfen (SozR Nr 1 zu § 1421 RVO). Sie mußte sich zwar vor der Bewilligung des Heilverfahrens vergewissern, ob die versicherungsmäßigen Voraussetzungen für diese Leistung gegeben waren; diese Pflicht bestand aber nicht im Interesse des Klägers, dh ihm gegenüber, sondern im Interesse der Versichertengemeinschaft, um sie nicht mit ungerechtfertigten Leistungen zu belasten. Nicht erörtert zu werden braucht, wie sich die Beklagte im Falle einer früheren Erkenntnis der unrechtmäßigen Beitragsleistung zu verhalten hatte; der vom LSG festgestellte Sachverhalt bietet für eine tatsächliche frühere Kenntnis keinen Anhalt.

Durch § 146 Abs 3 AVG aF in seiner hier vorgenommenen Auslegung wird schließlich nicht Art 14 GG verletzt. Der Rückforderungsanspruch aus § 146 AVG aF ist allerdings Eigentum im Sinne dieses Artikels. Als solches wertet das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) auch ein subjektives öffentliches Recht, das seinem Inhaber eine Rechtsstellung verschafft, die in den wesentlichen Merkmalen der des Eigentümers entspricht, so etwa, weil sie überwiegend auf eigener Leistung beruht oder inhaltlich vergleichbar stark und gegen ersatzlosen Entzug in gleicher Weise schutzbedürftig ist (vgl BVerfG zuletzt in NJW 1977, S. 2024, 2026 mit weiteren Hinweisen). Diese Voraussetzungen sind beim Rückforderungsanspruch gegeben; er ist weitgehend mit dem bürgerlich-rechtlichen Bereicherungsanspruch (§§ 812 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) vergleichbar, der vom Eigentumsbegriff des Art 14 GG erfaßt wird, und muß daher verfassungsrechtlich ebenfalls als Eigentum gelten.

Dieses "Eigentum" ist dem Kläger jedoch nicht entzogen worden. Die Vorschrift des § 146 Abs 3 AVG aF - dem beim Inkrafttreten des GG die Vorschrift des § 1445 c Abs 3 RVO iVm § 190 AVG, jeweils in der Fassung vor 1957, entsprach - hat bereits gegolten, als der Kläger die beanstandeten Beiträge entrichtet hat; der Gesetzgeber hat also die Rechtsposition des Klägers nicht nachträglich umgestaltet (vgl dazu BVerfGE 40, 65, 83 f). Aus Art 14 GG kann demgemäß nur Abs 1 Satz 2 bedeutsam sein; danach kann der Gesetzgeber Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen. Dies hat er in § 146 Abs 3 AVG aF ebenso wie in den Absätzen 1 und 2 getan. Er hat nicht die Grenzen überschritten, die ihm dabei verfassungsrechtlich gezogen sind (BVerfGE 8, 71, 80; 18, 121, 132; 21, 150, 155; 25, 112, 120). § 146 Abs 3 AVG aF läßt sich ähnlich wie § 818 Abs 3 BGB damit rechtfertigen, daß das ohne Rechtsgrund Erlangte nur ausgleichspflichtig sein soll, wenn dies der Billigkeit entspricht. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es nicht geboten, dem Versicherten auch solche Beiträge zurückzuzahlen, die bereits Grundlage einer ihm gewährten Leistung und ihm damit zugute gekommen sind. Insoweit ist es auch weder sachwidrig noch unverhältnismäßig, nach einem Heilverfahren alle Beiträge von der Rückgewähr auszuschließen, die im bereits dargestellten Sinne diese Leistungen mitgetragen haben. Es mag zwar sein, daß dann dem Versicherungsträger Beitragswerte verbleiben, die den Aufwendungswert der Regelleistung übersteigen. Das Wertverhältnis hängt jedoch immer von den Umständen des Einzelfalles ab; nicht selten können die Aufwendungen auch den Wert der Beitragsleistung, vor allem den einer "Mindestbeitragsleistung" erreichen oder übersteigen. Angesichts dessen erscheint eine generalisierende Regelung, wie sie § 146 Abs 3 AVG aF mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten einer Massenverwaltung trifft, angemessen, zumal diese Lösung auch versicherungsrechtlichen Grundsätzen (Versicherungsprinzip) entspricht, die für Leistungen aus der Rentenversicherung nicht ein striktes Gleichgewicht mit der vorherigen Beitragsleistung voraussetzten.

Nach alledem war die Revision mit der sich aus § 193 SGG ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 SGG).

 

Fundstellen

BSGE, 251

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