Orientierungssatz

Unfallversicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a beim Spaziergang:

Der Versicherungsschutz für die nach RVO § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a versicherten Personen besteht nicht nur bei Verrichtungen zur Durchführung von medizinischen Maßnahmen (vgl BSG vom 1978-06-27 2 RU 30/78 = SozR 2200 § 539 Nr 48). Für Verrichtungen, die sowohl privaten unversicherten als auch Interessen der Kurbehandlung dienen - sogenannte gemischte Tätigkeiten -, besteht nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre Versicherungsschutz, wenn die Verrichtung im Einzelfall den Interessen der Kurbehandlung wesentlich dient. Ein Spaziergang, der zwar auch, aber nicht wesentlich allein privaten Interessen, sondern wesentlich auch der stationären Behandlung gedient hat, steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 17 Buchst. a Fassung: 1974-08-07, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

SG Hildesheim (Entscheidung vom 13.03.1979; Aktenzeichen S 6 U 2/79)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 13. März 1979 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Beigeladenen die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die bei der Klägerin gegen Krankheit versicherte Beigeladene befand sich vom 21. März bis 2. Mai 1978 auf Kosten einer Landesversicherungsanstalt zu einer Kurbehandlung in einer Kurklinik. Am Nachmittag des 2. April 1978 besuchten sie ihr Ehemann und ihre beiden Kinder. Zusammen mit ihren Familienangehörigen begab sie sich zwischen 15.00 und 16.00 Uhr auf einen Spaziergang. Kurz nach dem Verlassen der Kurklinik stürzte sie und zog sich einen Radiusbruch rechts zu. In Höhe der aus Anlaß dieses Unfalles entstandenen Kosten machte die Klägerin einen Ersatzanspruch gegen die Beklagte geltend.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte durch Urteil vom 13. März 1979 verurteilt, der Klägerin 2.732,79 DM zu ersetzen. Es hat ua ausgeführt: Auch bei einem Spaziergang während einer stationären Kurbehandlung bestehe Unfallversicherungsschutz, wenn er der Behandlung dienlich sei. Der Arzt der Kurklinik habe der Beigeladenen Spaziergänge zu Heilzwecken ausdrücklich empfohlen. Die Beigeladene hätte den Spaziergang, bei dem sie verunglückt sei, zur selben Zeit und in derselben Weise auch unternommen, wenn ihre Angehörigen sie nicht besucht hätten.

Das SG hat die Revision im Urteil zugelassen.

Die Beklagte hat mit Einwilligung der Klägerin dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie trägt vor: Auch bei einem Spaziergang während eines Klinikaufenthaltes bestehe Versicherungsschutz nur, wenn er im ursächlichen Zusammenhang mit der stationären Behandlung stehe. Dabei dürfe es nicht auf das subjektive Verständnis des Versicherten ankommen. Außerdem bestehe nicht bei jedem Spaziergang Versicherungsschutz, selbst wenn ihn der Kurarzt empfohlen oder gar angeordnet habe. Die Beziehungen zu dem ärztlichen Rat seien hier hinter dem besonderen Anlaß und den besonderen Umständen des Sonntagsspazierganges mit den Angehörigen zurückgetreten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet.

Die Beklagte hat der Klägerin im Rahmen des § 1504 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und der Verwaltungsvereinbarung vom 28. Juni 1963 die Kosten zu ersetzen, die der Klägerin aus Anlaß des Unfalles der Beigeladenen am 2. April 1978 entstanden sind, da die Krankheit der Beigeladenen Folge eines Arbeitsunfalles war, den die Beklagte zu entschädigen hat.

Die Beigeladene gehörte im Zeitpunkt des Unfalles zu den nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen, da ihr eine Landesversicherungsanstalt als eine Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung stationäre Behandlung in einer Kureinrichtung gewährte.

Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO aufgeführten Tätigkeiten erleidet (s. § 548 Abs 1 Satz 1 RVO). Voraussetzung ist demnach, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und einer dieser Tätigkeiten gegeben ist (s. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S. 480 b I). Das SG ist zutreffend davon ausgegangen, daß ein Versicherungsschutz der Beigeladenen nach § 548 RVO somit nicht schlechthin während der gesamten Dauer der stationären Behandlung in einer Kureinrichtung bestanden hat. Ein nur zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen der stationären Behandlung und dem Unfall genügt nicht, vielmehr wird auch hier ein innerer ursächlicher Zusammenhang vorausgesetzt.

Der Versicherungsschutz für die nach § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO versicherten Personen besteht nicht nur bei Verrichtungen zur Durchführung von medizinischen Maßnahmen (BSG SozR 2200 § 539 Nr 48). Die im ursächlichen Zusammenhang mit einem Beschäftigungsverhältnis stehende Tätigkeit ist dadurch gekennzeichnet, daß sie dem Unternehmen dienlich ist (BSG SozR Nr 22 zu § 548 RVO; BSG aaO; Brackmann aaO S. 480 q). Somit steht auch eine Tätigkeit im ursächlichen Zusammenhang mit der stationären Behandlung im Sinne des § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO, wenn sie dieser Behandlung dienlich ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich entgegen der Auffassung der Revision - ebenso wie bei Tätigkeiten im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses (s. BSGE 20, 215, 218; BSG SozR Nr 23, 25, 30 zu § 548 RVO; BSG SozR 2200 § 539 Nr 48; Brackmann aaO; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 548 Anm 7) - nicht danach, ob die Tätigkeit der stationären Behandlung objektiv dienlich war, sondern es ist ausreichend, daß der Versicherte von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, die Tätigkeit sei geeignet, seiner stationären Behandlung zu dienen. Nach den tatsächlichen Feststellungen des SG hat außerdem der Arzt der Kurklinik der Beigeladenen im Hinblick auf deren Erkrankung ausdrücklich Spaziergänge zu Heilzwecken empfohlen. Das SG hat jedoch nicht verkannt, daß bei Verrichtungen, die wesentlich allein von der stationären Behandlung unabhängigen privaten Interessen des Versicherten dienen, ebenso wie im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses kein Versicherungsschutz besteht. Für Verrichtungen, die sowohl privaten unversicherten als auch Interessen der Kurbehandlung dienen - sogenannte gemischte Tätigkeiten -, besteht nach der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre (s. Brackmann aaO S. 480 g I ff) Versicherungsschutz, wenn die Verrichtung im Einzelfall den Interessen der Kurbehandlung wesentlich dient. Nach den tatsächlichen Feststellungen des SG, die im Rahmen der Sprungrevision mit Verfahrensrügen nicht angegriffen werden dürfen (s. § 161 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), hätte die Beigeladene den Spaziergang, auf dem sie verunglückt ist, auch unternommen, wenn sie nicht den Besuch ihrer Angehörigen erhalten hätte. Danach hat das SG zu Recht entschieden, daß der Spaziergang zwar auch, aber nicht wesentlich allein privaten Interessen, sondern wesentlich auch der stationären Behandlung gedient hat, so daß die Beigeladene im Unfallzeitpunkt unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658076

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