Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 29.06.1989)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Juni 1989 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der 1923 geborene, in Polen lebende Kläger, der nur ein Jahr lang deutschen Schulunterricht hatte, war Angehöriger der deutschen Wehrmacht. Er wurde Ende des Jahres 1942 wegen Magen- und Darmkatarrhs, Halsbeschwerden und Gesichtsrose im Lazarett behandelt. Eine weitere einmonatige Behandlung wegen eines Ekzems schloß sich im Jahr 1943 an. Der Kläger hat nach seiner Darstellung im Januar 1945 eine Granatsplitterverwundung am linken Oberschenkel erlitten und sich während der schweren Kämpfe im Winter 1943 und daran anschließend ein Rheumaleiden zugezogen. Aus diesen Gründen beantragte er 1984 Gewährung von Versorgung. Der Beklagte holte Auskünfte der Deutschen Dienststelle und des Krankenbuchlagers Berlin ein, die 1943 abbrachen. Er ließ den Kläger über die polnische Versicherungsanstalt-Büro für Auslandsrenten in Warschau – durch den Chirurgen Dr. N.… untersuchen, der Narben nach einer Granatsplitterverletzung am linken Oberschenkel und eine Kontaktdermatitis an Armen und Beinen feststellte. Als Schädigungsfolgen wurden Narben am linken Oberschenkel anerkannt, Teilversorgung wurde jedoch abgelehnt, weil durch die Schädigungsfolgen keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Grad erreicht werde (Bescheid vom 23. Januar 1987, Widerspruchsbescheid vom 15. September 1987). Klage und Berufung waren ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Baden-Württemberg vom 29. Juni 1989). Im Gerichtsverfahren sind keine weiteren Gutachten eingeholt worden. Das LSG hat den medizinischen Sachverhalt für ausreichend geklärt gehalten. Auf den Antrag des Klägers, sein persönliches Erscheinen im Verhandlungstermin zu ermöglichen, hat der Vorsitzende des Senats geantwortet: “Zu der mündlichen Verhandlung ist Ihr persönliches Erscheinen nicht angeordnet. Vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts können Ihnen daher Fahrt- oder Aufenthaltskosten (auch für eine Übernachtung) nicht erstattet werden. Für das Gericht besteht daher keine Möglichkeit, Ihnen Geld für Übernachtung oder Verpflegung zukommen zu lassen oder Ihnen eine Übernachtungsmöglichkeit zu vermitteln”.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und Verletzung von Verfahrensrecht gerügt: Der Sachverhalt sei nicht ausreichend aufgeklärt. Weder ergebe sich sein gesamtes Vorbringen aus den Akten, weil die in polnischer Sprache abefaßten Schreiben nur teilweise übersetzt worden seien, noch sei versucht worden, die vom Kläger behauptete Schädigung durch Rheuma aufzuklären. Der Kläger habe als Soldat der Division Brandenburg angehört, die meist unter erschwerten Einsatzbedingungen (verdeckter Kampf) habe operieren müssen. Unter diesen Bedingungen habe sich der Kläger im Winter 1943/1944 an der Ostfront durchaus ein Rheumaleiden zuziehen können, das in der sowjetischen Gefangenschaft aktiviert worden sei. Zwar habe der Kläger insoweit nur unvollständig vorgetragen und keinen Beweisantrag gestellt. Dies beruhe jedoch darauf, daß ihm das rechtliche Gehör und damit zugleich ein faires Verfahren versagt worden sei. Er habe sich nicht sachkundig beraten lassen können, habe keine Chance gehabt, seinen Prozeß mit Aussicht auf Erfolg zu führen. Er beherrsche die deutsche Sprache schriftlich nur unzulänglich, zum mündlichen Vortrag habe es an Gelegenheit gefehlt, weil er an den Terminen in Stuttgart in erster oder zweiter Instanz nicht habe teilnehmen können. Das Gericht hätte sich gedrängt fühlen müssen, ihm die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu ermöglichen, weil er die Reisekosten in Deutschland nicht habe aufbringen können.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Juni 1989 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückzuverweisen.

Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt, hält jedoch eine Verletzung rechtlichen Gehörs nicht für gegeben. Auch wenn der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung anwesend gewesen wäre, hätte der Prozeß keinen anderen Verlauf genommen. Der Kläger habe sich schriftsätzlich äußern können. Das müsse genügen. Die medizinische Aufklärung im Verwaltungsverfahren sei ausreichend gewesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das Urteil des LSG ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen, und die getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung in der Sache nicht aus.

Gemäß Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Entsprechend bestimmt § 62 Halbsatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), daß den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren ist. Das Gericht ist insgesamt dafür verantwortlich, daß dem Gebot des rechtlichen Gehörs Rechnung getragen wird (BVerfGE 17, 265, 268; 46, 185, 187 f; 53, 219, 222 f; 60, 96, 100; 62, 347, 352). Hierzu stehen dem Prozeßgericht besondere Verfahrenshilfen zur Verfügung, die in den allgemeinen Prozeßgesetzen oder besonderen Vorschriften ihren Niederschlag gefunden haben.

Hier geht es nicht um die Frage, ob jedem in Polen lebenden Kläger unter allen Umständen zur Wahrung seines rechtlichen Gehörs die Reise zur mündlichen Verhandlung finanziell ermöglicht werden muß. Vielmehr war wegen der besonderen Umstände dieses Falles zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die Anwesenheit des Klägers in der mündlichen Verhandlung geboten. Die mündliche Verhandlung, die der Entscheidung des Gerichts in der Regel vorauszugehen hat (§ 124 Abs 1 SGG), ist gleichsam das “Kernstück” des gerichtlichen Verfahrens, um dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und den Streitstoff erschöpfend mit ihnen zu erörtern (BSGE 44, 292, 293 = SozR 1500 § 124 Nr 2 mwN). Auch im vorliegenden Verfahren hat das LSG Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt. Der Kläger war im Termin jedoch nicht anwesend. Damit mußte das LSG auch rechnen und hat das getan; denn ihm war bekannt, daß der Kläger nicht in der Lage war, die Anreise aus Polen vollständig selbst zu finanzieren. Der Kläger war zwar in der Ladung auf die Möglichkeit einer Entscheidung auch ohne sein Erscheinen hingewiesen worden. Gleichwohl durfte das LSG hier nicht in Abwesenheit des Klägers in der Sache entscheiden, hätte vielmehr zur weiteren Sachaufklärung ein persönliches Erscheinen anordnen müssen (§§ 103, 111 Abs 1 Satz 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG). Aus dem gesamten Vorbringen des Klägers iVm dem dürftigen Akteninhalt war deutlich zu erkennen, daß erstmals durch eine mündliche Erörterung des Streitstoffes eine erschöpfende Darstellung des Sachverhalts aus der Sicht des Klägers und eine Erforschung möglicher Beweismittel in die Wege geleitet werden konnte.

Zwar stehen den Verfahrensbeteiligten und dem Gericht allgemein auch andere Mittel zu Gebote, dem rechtlichen Gehör Genüge zu tun. Das kann über eine Anhörung nach § 15 des Verwaltungsverfahrensgesetzes-Kriegsopferversorgung (VwVGKOV) – auch schriftlich – geschehen oder über die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwaltes. Die wachsende Kompliziertheit des Sozialrechts strahlt inzwischen auch auf die Ausgestaltung der prozessualen Rechte aus und wird vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bei deren Auslegung gewürdigt (vgl ua BVerfGE 81, 123, 129). Es sind daher besondere Vorkehrungen zu treffen, wenn der Aufenthaltsort eines Beteiligten vom Sitz des Gerichts weit entfernt ist und er deshalb besondere Schwierigkeiten hat, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen. Dies war bis zur Änderung durch das Gesetz über die Prozeßkostenhilfe vom 13. Juni 1980 (BGBl I 677) in § 72 Abs 3 Satz 1 SGG ausdrücklich geregelt (vgl zu den Motiven der Streichung BR-Drucks 187/79 S 39), gilt aber fort, wenn sich der Umfang des entschädigungspflichtigen Tatbestandes erst ermitteln läßt, nachdem ein Vertreter bestellt ist, oder wenn der Beschädigte zur Sachaufklärung persönlich hat angehört werden können und müssen. Die Verfahrensvorschriften der einzelnen Gesetze müssen so ausgelegt werden, daß sie mit Blick auf die Grundrechte (hierzu zählt auch das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht – BVerfGE 53, 219, 222 mwN) diese nicht verkürzen und einen effektiven Rechtsschutz garantieren (BVerfGE 49, 220, 226; 81, 123, 129).

Sofern eine Prozeßkostenhilfebewilligung noch nicht in Betracht kommt, haben die Gerichte durch die Anordnung des persönlichen Erscheinens gemäß § 111 Abs 1 Satz 1 SGG eine kostengünstigere Möglichkeit, den Sachverhalt so weit aufzuklären, daß über die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe und/oder über den Anspruch abschließend entschieden werden kann. Zwar läßt § 111 Abs 1 Satz 1 SGG dem Vorsitzenden des Spruchkörpers einen großen Entscheidungsspielraum. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens kann aber geboten sein, um einem Beteiligten Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben, wenn die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag, zB wegen Unbeholfenheit oder Sprachunkenntnis, keine erschöpfende Sachverhaltsaufklärung gewährleistet (vgl hierzu BSG SozR Nr 15 zu § 62 SGG und BSGE 44, 292). Das gilt insbesondere dann, wenn ein Erscheinen auf eigene Kosten sich als praktisch undurchführbar erweist, wenn also das Kostenrisiko den Zugang zum Gericht versperrt (vgl hierzu BVerfG Beschluß vom 12. Februar 1992 – 1 BvL 1/89).

So liegt es hier. Im vorliegenden Fall durfte nach dem Antrag des Klägers auf persönliche Teilnahme an der mündlichen Verhandlung keine andere (Ermessens-) Entscheidung getroffen werden, als das persönliche Erscheinen anzuordnen, wenn dem Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör zwecks ausreichender Sachaufklärung genügt werden sollte. Anderenfalls war die notwendige Teilnahme des Klägers an der Verhandlung nicht zu gewährleisten. Es kommt nicht darauf an, ob das LSG hat vorhersehen können, in welcher Weise dem Kläger konkret die Wahrnehmung des Termins unmöglich gemacht worden ist, denn auf Verschulden des Gerichts kommt es bei der Verletzung rechtlichen Gehörs nach § 62 SGG nicht an (vgl die Hinweise auf Entscheidungen des BVerfG in BSGE 17, 44 = SozR Nr 16 zu § 62 SGG). Hier ist der Kläger nach Stuttgart angereist, hatte jedoch kein Geld für eine Übernachtung; eine Übernachtung allein vor dem Termin wurde ihm von der Bahnhofsmission zugestanden. Er wurde alsdann mit Geld ausgestattet und als mittelloser Ausländer zurückgeschickt. Da die Anordnung des persönlichen Erscheinens in der Ladung nicht enthalten war, hat sich auch der Sozialhilfeträger nicht veranlaßt gesehen, dem Kläger den Zugang zum Termin zu ermöglichen. Die Mittellosigkeit des Klägers, die sich infolge der großen Entfernung zum Gerichtsort und dem bekannt schlechten Umrechnungskurs für ohnedies extrem niedrige Renten in Polen verschärft auswirkte, hätte bei ermessenfehlerfreier Entscheidung über das persönliche Erscheinen zum Termin der Wahrnehmung rechtlichen Gehörs nicht entgegengestanden.

Das Urteil des LSG beruht auch auf dem genannten Verfahrensfehler. In der mündlichen Verhandlung hätte in Anwesenheit des Klägers, ggf unter Hinzuziehung eines Dolmetschers, der Sachverhalt zureichend aufgeklärt werden können. Das LSG hätte sich die in den Verwaltungsakten enthaltenen Schriftsätze übersetzen lassen können, soweit dies noch nicht geschehen war, und der Kläger hätte einen Beweisantrag gestellt. Wie ein solcher Antrag nach § 103 SGG vom LSG mit hinreichender Begründung (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 aE SGG) hätte abgewehrt werden sollen, ist nach der Aktenlage nicht ersichtlich. Zu der behaupteten Rheumaerkrankung fehlen sämtliche Feststellungen tatsächlicher und medizinischer Art. Die im Lazarett über einen Monat behandelten Ekzeme, die in der jetzt noch vom Chirurgen aufgeführten Kontaktdermatitis ihre Entsprechung finden, sind versorgungsrechtlich bisher nicht in die Überlegungen einbezogen worden. Das chirurgische Gutachten beruht auf einer äußeren Augenscheineinnahme und auf Angaben des Klägers. Weder sind Röntgenaufnahmen gefertigt noch im einzelnen Befunde erhoben worden, die erst richterliche Kontrolle und Verwertung eines Gutachtens im Versorgungsrecht erlauben. Erst nach einer Anhörung des Klägers und einer hierauf fußenden gründlichen medizinischen Sachverhaltsaufklärung kann über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch entschieden werden. Dies ist nachzuholen; es ist auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI780387

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