Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz eines als Jugendleiter und Ausbilder tätigen Mitgliedes eines Reit- und Fahrvereins

 

Leitsatz (redaktionell)

Unfallversicherungsschutz für ehrenamtlich Tätige in Vereinen sowie nach RVO § 539 Abs 2:

Überwiegen weder die Merkmale einer Beschäftigung im Rahmen eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 1 noch die einer selbständigen Unternehmertätigkeit, so ist weiter zu prüfen, ob die Person wie ein Versicherter tätig geworden ist (RVO § 539 Abs 2).

 

Orientierungssatz

Für eine Einordnung der Tätigkeit unter den Personenkreis der unselbständig Beschäftigten oder der Selbständigen ist, sofern sie sich nicht bereits aus dem ersten Anschein klar ergibt, eine volle Tatbestandsfeststellung anhand einer Einzelprüfung erforderlich. Diese muß sich umfassend auf die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse erstrecken, unter denen der Kläger seine Tätigkeit im Verein ausgeübt hat. Dazu gehören alle äußeren Umstände und Gestaltungen. Unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung wird abzuwägen sein, welche Merkmale überwiegen. Bei den Abgrenzungskriterien eines Selbständigen (Unternehmers) wird auch die steuerrechtliche Behandlung der Entschädigung herangezogen werden können (vgl BSG vom 1976-08-31 12/3/12 RK 20/74 = SozR 2200 § 1227 Nr 4 und BSG vom 1977-12-01 12/3/12 RK 39/74 = SozR 2200 § 1227 Nr 8).

 

Normenkette

RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30, Abs. 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 27.07.1977; Aktenzeichen I UBf 56/76)

SG Hamburg (Entscheidung vom 05.11.1976; Aktenzeichen 24 U 567/74)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 27. Juli 1977 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf unfallversicherungsrechtliche Leistungen hat.

Der durch die Mitgliederversammlung des Reit- und Fahrvereins N (ca 120 Mitglieder) zum Jugendleiter und Ausbilder des reiterlichen Nachwuchses gewählte Kläger erlitt am 9. April 1972 bei einem Übungsausritt ins Gelände einen Bruch des linken Oberschenkels. Die ursprünglich vom Kläger als Vereinsmitglied unentgeltlich ausgeübte Betreuertätigkeit (dreimal wöchentlich je 3 Stunden, zusätzlich etwa 10 Turniere jährlich) wurde im weiteren Verlauf mit rund 200,- DM monatlich abgegolten, wobei auf Veranlassung des Vorstandes ein Mitglied der Jugendgruppe von jedem Jugendlichen monatlich 20,- DM kassierte und an den Kläger abführte. Eine mitgliedschaftliche Verpflichtung zur Übernahme der Betreuung der Jugendlichen bestand nicht. Mit den Beträgen sollten die Unkosten und der Zeitaufwand des Klägers wenigstens teilweise gedeckt werden. Reitlehrer und Pferdepfleger wurden vom Verein nicht beschäftigt. Der Kläger hatte sein eigenes Pferd zu versorgen.

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers auf Anerkennung eines Arbeitsunfalles vom März 1974 mit Bescheid vom 27. November 1974 ab. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile vom 5. November 1976 und 27. Juli 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des Sozialgerichts (SG) im Ergebnis bestätigt; es hatte die Auffassung vertreten, zur Zeit des Unfalles habe der Kläger in keinem Arbeits- oder Dienstverhältnis zu seinem Verein gestanden (§ 539 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung - RVO -), er sei für diesen auch nicht "wie ein Arbeitnehmer" tätig gewesen (§ 539 Abs 2 RVO). Er sei weder persönlich noch wirtschaftlich abhängig gewesen, vielmehr habe der Kläger freiwillig und kostenlos ein Vereinsamt übernommen. Dem damit verbundenen erheblichen Zeitaufwand komme keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Die Betreuungstätigkeit habe keinen Weisungen unterlegen, ihre Verweigerung hätte für den Kläger als Mitglied des Vereins keine nachteiligen Folgen gehabt. Unter Berücksichtigung des hohen Zeitaufwandes insbesondere an den Turnierwochenenden und bei Vergleich mit den Vergütungen, die der Deutsche Sportbund für geschulte Übungsleiter bezahle, könne die dem Kläger gewährte Leistung nicht als Entgelt, sondern nur als Aufwandsentschädigung gewertet werden. Dies treffe auch dann zu, wenn man die Fahrtkosten von und zum Wohnort nicht als zusätzlichen Zeit- oder Kostenaufwand betrachte, weil der Kläger ohnehin sein eigenes Pferd habe versorgen müssen. Der Kläger habe auch objektiv und subjektiv keine arbeitnehmerähnliche Funktion, sondern eine typisch ehrenamtliche und sportliche Betätigung aufgrund der Vereinsmitgliedschaft ausgeübt, die nicht unter Versicherungsschutz stehe. Der Umstand, daß der Kläger gleiche Tätigkeiten verrichtet habe wie ein entgeltlich beschäftigter Trainer oder Sportlehrer, sei nicht ausschlaggebend (Bundessozialgericht - BSG - vom 27. Februar 1970 - 2 RU 304/67 - WzS 1970, 177 -). Der Kläger habe sich von den übrigen Vereinsmitgliedern nur dadurch unterschieden, daß er seiner Aufgabe mit großer Hingabe unter Opferung der Freizeit nachgekommen sei. Inwieweit sich die Tätigkeit auch - wie das SG gemeint habe - als selbständiger Beruf eines Reitlehrers im Verhältnis zu den Mitgliedern darstelle, könne dahinstehen, weil daraus kein Versicherungsschutz gegenüber den Berufsgenossenschaften abzuleiten sei.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt unter Hinweis auf das Urteil des BSG vom 29. Februar 1972 - 2 RU 194/68 - (BSG SozR Nr 27 zu § 539 RVO) einen Verstoß des LSG gegen § 539 Abs 2 RVO. Zwischen den sportpädagogischen Aufgaben eines Reitlehrers und Trainers gegenüber den eigenen Vereinsmitgliedern und denen eines Segelfluglehrers, der Schüler eines anderen Vereins unentgeltlich ausbilde, bestehe kein Unterschied, da in beiden Fällen keine Verpflichtung der Vereinsmitglieder zur Ausbildung bestanden habe. Nicht zweifelhaft könne sein, daß die Tätigkeit eines Reitlehrers und Trainers ihrer Art nach von Personen verrichtet werden könnte, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen. Die Gepflogenheit in kleineren Reitvereinen, die Aufgaben eines Reitlehrers und Ausbilders ehrenamtlich durch ein Vereinsmitglied wahrnehmen zu lassen, könne diese Zurechnung nicht in Frage stellen. Unerheblich müsse bleiben, ob der Verein ohne die Bereitschaft des Klägers einen besoldeten Reitlehrer angestellt hätte und welche Motive den Kläger bei der Übernahme seiner Tätigkeit geleitet haben. Der Satzung des Vereins sei keine Verpflichtung der Mitglieder in dieser Richtung zu entnehmen. Eine solche beschränke sich in der Regel auf Ordnungsdienste ua (vgl BSGE 14, 3). Das Urteil des BSG vom 27. Februar 1970 - 2 RU 304/67 - (WzS 1970, 177 ff) stehe diesem Ergebnis nicht entgegen.

Der Kläger beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. November 1974 dem Grunde nach zu verurteilen, dem Kläger für die Folgen des Unfalles vom 9. April 1972 bis zum 31. Dezember 1974 unfallversicherungsrechtliche Leistungen zu gewähren und die Beigeladene zu verurteilen, unfallversicherungsrechtliche Leistungen ab 1. Januar 1975 zu gewähren.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache gem § 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Die Sache ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, weil die tatsächlichen Feststellungen zur abschließenden Entscheidung nicht ausreichen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO sind in der Unfallversicherung, unbeschadet der §§ 541 und 542, die aufgrund eines Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses Beschäftigten gegen Arbeitsunfall versichert. Das LSG hat die Zugehörigkeit des Klägers zu dem genannten Personenkreis mit der Begründung abgelehnt, er habe ein Vereinsamt freiwillig und kostenlos übernommen, auch wenn der Zeitaufwand hierfür ein erhebliches Maß erreicht habe. Bei seiner Tätigkeit sei der Kläger nicht weisungsgebunden gewesen, er habe die Trainingsstunden und deren Ablauf im wesentlichen selbst bestimmen können, ohne sich gegenüber dem Verein rechtfertigen zu müssen. Auch habe es an sonstigen Merkmalen für ein Arbeitsoder Dienstverhältnis wie Bezahlung, Kündigung, Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall usw. gefehlt. Diese Feststellungen berücksichtigen nicht alle Merkmale, die für eine Einordnung der Tätigkeit des Klägers unter den Personenkreis der unselbständig Beschäftigten oder der Selbständigen von Bedeutung sind. Für eine solche Einordnung ist, sofern sie sich nicht bereits aus dem ersten Anschein klar ergibt, eine volle Tatbestandsfeststellung anhand einer Einzelprüfung erforderlich. Diese muß sich umfassend auf die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse erstrecken, unter denen der Kläger seine Tätigkeit im Verein ausgeübt hat. Dazu gehören alle äußeren Umstände und Gestaltungen. Maßstäbe hierfür hat die Rechtsprechung in erheblichem Umfang gesetzt (vgl BSGE 5, 168, 174; 14, 1, 4; 15, 292, 294; 16, 73, 76; 18, 143, 146; 19, 117, 118). Erst nach darauf abgestellten Ermittlungen wird das Gesamtbild des Falles festgestellt werden können: Unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung wird abzuwägen sein, welche Merkmale überwiegen. Bei den Abgrenzungskriterien eines Selbständigen (Unternehmers) wird auch die steuerrechtliche Behandlung der Entschädigung des Klägers herangezogen werden können (BSG SozR 2200 § 1227 Nr 4 und 8). Entgegen der Auffassung des LSG kann deshalb nicht dahinstehen, ob die Tätigkeit des Klägers selbständiger Natur gewesen ist, weil sich daraus kein Versicherungsschutz gegenüber der Beklagten oder der Beigeladenen ableiten lasse. Denn gerade die Ermittlung aller Umstände des Einzelfalles ermöglicht erst die notwendige Abgrenzung und Einordnung, ob der Kläger im Unfallzeitpunkt abhängig Beschäftigter oder Unternehmer war. Erst wenn sich eine solche Einordnung nicht uneingeschränkt durchführen läßt, also weder die Merkmale des Gesamtbildes in der einen oder anderen Richtung überwiegen, ist danach zu fragen, ob der Kläger wie ein nach § 539 Abs 1 RVO Versicherter tätig gewesen ist (§ 539 Abs 2 RVO), wobei nicht entgegensteht, daß die Tätigkeit auf längere Dauer ausgerichtet war (§ 539 Abs 2, 2. Halbsatz RVO).

Für die Ermittlung der genannten Merkmale kann die Vernehmung von Mitgliedern der vom Kläger trainierten Gruppe, aber auch sonstiger Vereinsmitglieder von Bedeutung sein. Auch vertragliche oder sonstige Vereinbarungen und Abreden zwischen dem Kläger, den Vorstandsmitgliedern und den Gruppenangehörigen können in ihrem Einzelheiten Gewicht erlangen. Bei deren Würdigung wird das LSG besonders die Problematik zu beachten haben, die sich bei der versicherungsrechtlichen Beurteilung einer sportlichen Tätigkeit ergibt (BSGE 19, 94, 96; 16, 98, 100), die nicht allein aus Sportbegeisterung verrichtet zu werden pflegt (BSGE 20, 6; BSG Urteil vom 27. Februar 1970 - 2 RU 304/67 - WzS 1970, 177), bei der also die Beweggründe in den Hintergrund treten (BSGE 5, 168; 16, 73, 75; 17, 211, 216; 19, 117, 118; zur Abgrenzung von typisch ehrenamtlichen Tätigkeiten, die eine hauptamtliche Funktion ausschließen, BSG SozR 2200 § 539 Nr 19; zum tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhang, in dem die Tätigkeit verrichtet wird BSGE 31, 275, 277, 279). Ferner wird es darauf Bedacht nehmen müssen, daß der Einsatz des Klägers das Maß der normalen Mitgliedspflichten weit überschritten hat (BSG SozR Nr 27 zu § 539 RVO mwN), woran es selbst keinen Zweifel gelassen hat. Diesen besonderen Einsatz - auf den letztlich die Vereinserfolge zurückzuführen waren - versicherungsrechtlich allein mit Mitgliedspflichten, denen andere Mitglieder offensichtlich nicht in gleicher Art und Weise unterlagen, zu begründen, geht jedenfalls fehl und ist widersprüchlich. Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben.

Für den Fall, daß die neue Entscheidung zu einem für den Kläger positiven Ergebnis führen sollte, könnte auch eine Prüfung zweckdienlich sein, ob dem mit Schriftsatz vom 7. Juni 1978 geänderten Antrag zu folgen ist.

Die Entscheidung über die Kosten der Revisions- und Beschwerdeverfahren bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656026

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