Leitsatz (amtlich)

Zur Verweisbarkeit eines Grubensteigers (Bergingenieurs), insbesondere zur Frage, ob neuere Entwicklung im Ausbildungsgang und in den Anforderungen der Tätigkeit eine neue Bewertung erfordern (Anschluß an und Fortführung von BSG 24.3.1983 1 RA 15/82 = BSGE 55, 45 = SozR 2200 § 1246 Nr 107 und BSG 13.12.1984 11 RA 72/83 = BSGE 57, 291 = SozR 2200 § 1246 Nr 126).

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Erweiterung des Mehrstufenschemas für die Verweisung von Angestellten im Bergbau.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.11.1984; Aktenzeichen L 2 Kn 168/81)

SG Dortmund (Entscheidung vom 03.09.1981; Aktenzeichen S 25 Kn 298/79)

 

Tatbestand

Der im Jahre 1934 geborene Kläger beansprucht Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit gem § 46 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG).

Von 1948 bis Ende März 1968 war der Kläger knappschaftlich versichert als Berglehrling, Knappe und Hauer sowie danach als Grubensteiger in der Gehaltsgruppe 02 der Anlage A zum Manteltarifvertrag für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus. Nach einer Hüftgelenksoperation wird er seit dem 1. August 1978 im Bergbau über Tage als kaufmännischer Angestellter in der Gehaltsgruppe K 43 des erwähnten Tarifvertrages beschäftigt. Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit erhält er seit dem 1. Juli 1977. Seinen Rentenantrag vom 28. Mai 1979, ihm Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. August 1979 ab. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12. November 1979).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 3. September 1981 und 8. November 1984). Das LSG hat ausgeführt, als ehemaliger Grubensteiger müsse der Kläger sich zumutbar auf die von ihm ausgeübte Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter verweisen lassen.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung des § 46 RKG.

Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und unter Abänderung des Urteils des SG die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 2. August 1979 idF des Widerspruchsbescheides vom 12. November 1979 zu verurteilen, ihm Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. September 1979 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits gem § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits noch nicht zu.

"Bisheriger Beruf" des Klägers iS des § 46 Abs 2 RKG ist die Tätigkeit des Grubensteigers, die er von 1968 bis 1977 verrichtet hat und die er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte. Als Grubensteiger bezog der Kläger ein Gehalt nach der Gruppe 02 der technischen Angestellten unter Tage im Gehaltsgruppenverzeichnis der Anlage A zum Manteltarifvertrag für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus vom 16. Juli 1973 in der bis zum Ende dieser Tätigkeit im Jahre 1977 geltenden Fassung. Da er nicht mehr als Grubensteiger arbeiten kann, hängt der Anspruch auf Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit davon ab, ob er eine Verweisungstätigkeit verrichten kann, die - gemessen am qualitativen Wert des "bisherigen Berufs" - für ihn zumutbar iS des § 46 Abs 2 RKG ist.

Das LSG hat den Kläger verwiesen auf die Tätigkeit des kaufmännischen Angestellten der Gehaltsgruppe K 43 der Anlage A zum Manteltarifvertrag für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus. Das steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). So hat der Senat im Urteil vom 4. Dezember 1974 - 5 RKn 21/73 - ausgeführt, zumutbar iS des § 46 RKG seien für einen ehemaligen Grubensteiger die Tätigkeiten eines Staubkarteiführers (vgl BSG in SozR Nr 14 zu § 46 RKG) und einzelne weitere der Gruppe 42 des Manteltarifvertrages wie zB das Ausfertigen von Bestellungen, Rechnungen, Gutschrifts- und Belastungsaufgaben. Ist eine Verweisung in den Bereich der Gruppe 42 möglich, dann hat das erst recht zu gelten für die höher qualifizierten Tätigkeiten der Gruppe 43. Entwicklungen in der neueren Rechtsprechung des BSG einerseits und Änderungen im Berufsbild des Grubensteigers andererseits machen es jedoch erforderlich, die oben dargelegten Verweisungsmöglichkeiten zu überdenken.

Das BSG ist in seiner Rechtsprechung zur Berufsunfähigkeit der Angestellten dazu übergegangen, auch für diese Schemata zu entwickeln, die eine Einteilung der Berufe wie beim sogenannten "Mehrstufenschema" in der Rentenversicherung der Arbeiter zum Inhalt haben (vgl Urteile des 1. Senats vom 24. März 1983 in BSGE 55, 45, 47 ff und des 11. Senats vom 13. Dezember 1984 aaO 57, 291, 297 = SozR 2200 § 1246 Nrn 107 und 126, auch Urteil des erkennenden Senats vom 31. Januar 1984 in SozR aaO Nr 114). Darin spiegelt sich der qualitative Wert sowohl des "bisherigen Berufs" als auch der Verweisungstätigkeiten wieder. Der 1. Senat hat eine Schematisierung eines Teils der tarifvertraglich erfaßten Angestelltentätigkeiten vorgenommen. Ausgehend von der für die Berufsausübung erforderlichen Ausbildung als generelle Zugangsvoraussetzung hat er drei Gruppen mit dem Leitberuf des "unausgebildeten Angestellten", des Angestellten mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren und des Angestellten mit längerer Ausbildung unterschieden. Dieses Schema sei jedoch nicht erschöpfend. Es erfasse nicht diejenigen Angestelltenberufe, für die über eine längere Ausbildung hinaus zusätzliche Zugangsvoraussetzungen wie etwa die Ablegung einer Meisterprüfung, der erfolgreiche Besuch einer Fachschule oder das abgeschlossene Studium an einer Fachhochschule oder wissenschaftlichen Hochschule erforderlich sind.

Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung im Urteil vom 31. Januar 1984 (aaO), wie auch der 11. Senat (aaO Seite 297) angeschlossen. Mit Blick auf die Bewertung der Tätigkeit des Grubensteigers besteht - worauf vieles hindeutet - Veranlassung, dieses Schema fortzuentwickeln. Dafür sprechen jedenfalls Überlegungen, die auf den tatsächlichen Verhältnissen im Steinkohlenbergbau basieren. Insoweit läßt sich anhand des Gehaltsgruppenverzeichnisses zum Manteltarifvertrag für die Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus bestätigen, was der 1. Senat - wie oben wiedergegeben - bezüglich möglicher Unterscheidungskriterien für Angestellte angedeutet hat, die über eine längere Ausbildung hinaus zusätzliche Zugangsvoraussetzungen für die Ausübung ihres Berufs erfüllen müssen. So werden die technischen Angestellten über Tage eingeteilt nach Tätigkeiten, die normalerweise in der Gruppe 13 eine Meisterausbildung, in der Gruppe 14 eine Fachschulausbildung sowie in den Gruppen 15 und 16 eine Fachhochschulausbildung erfordern.

Der erkennende Senat hat bereits am 20. Juni 1979 (BSGE 48, 202, 205 = SozR 2600 § 46 Nr 3) entschieden, daß sich Angestellte ebenso wie Arbeiter nach dem sogenannten Mehrstufenschema auf die jeweils nächstniedrigere Gruppe verweisen lassen müssen. Lassen sich in Fortführung der Rechtsprechung des 1. Senats (aaO) über die von diesem erfaßten Gruppen der Angestelltenberufe hinaus weitere etwa mit den Leitberufen des Meisters und des Fachhochschulabsolventen bilden, so hängt die Verweisbarkeit des Klägers als ehemaliger Grubensteiger davon ab, welcher dieser beiden Gruppen er zuzuordnen ist. Für einen Versicherten aus der Gruppe, in der Zugangsvoraussetzung normalerweise ein abgeschlossenes Studium an einer Fachhochschule ist, wäre die vom LSG vorgenommene Verweisung auf die Tätigkeit nach der Gehaltsgruppe 43 der kaufmännischen Angestellten im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau möglicherweise nicht zumutbar. Zur Gruppe K 43 gehören Angestellte, die Arbeiten verrichten, für die Kenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind, wie sie im allgemeinen durch eine abgeschlossene Lehre als Industriekaufmann oder in einem gleichwertigen Lehrberuf vermittelt werden. Dieser Tätigkeitsbereich wird somit durch den Leitberuf eines Angestellten mit einer längeren Ausbildung charakterisiert. Er liegt nicht in der Gruppe unterhalb der Fachhochschulabsolventen, wenn dies diejenige mit dem Leitberuf des Meisters ist. Die hier erörterte weitere Schematisierung der Angestelltenberufe ist nach der Entscheidung des 1. Senats (aaO Seite 51) nicht allein eine vom Revisionsgericht zu beantwortende Rechtsfrage. Vielmehr handelt es sich um die rechtliche Bewertung eines in der Wirklichkeit des Arbeits-und Berufslebens vorhandenen soziologischen Befundes. Die dazu erforderliche Aufklärung und Feststellung der tatsächlichen Einzelheiten obliegt den Tatsacheninstanzen.

Veranlassung zu weiteren Ermittlungen bietet der Umstand, daß es ausweislich der einschlägigen Literatur zur Berufskunde den Grubensteiger im Steinkohlenbergbau im herkömmlichen Sinne nicht mehr gibt. Er ist ersetzt worden durch den Bergingenieur. Nach Horney (Diplom-Ingenieur an Fachhochschulen - Fachrichtung Bergbau, Blätter zur Berufskunde 2 - I L 31, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeit, 3. Aufl 1981) haben sich die Ausbildungsvoraussetzungen seit dem Jahre 1972 durch die Zuordnung der Ingenieursausbildung zum Hochschulbereich geändert. Der betriebliche Führungsaufbau eines Bergwerks gliedert sich heute (so Horney aaO Seite 2) in Facharbeiter, Meister und Techniker in der unteren Führungsebene, Ingenieure in der mittleren und solche in der höheren Führungsebene. Zur mittleren Ebene im Fachbereich Bergtechnik gehören bei den Tarifangestellten der Bergingenieur (früher Grubensteiger) und der Revieringenieur (früher Revier-oder Abteilungssteiger), dessen Mitarbeiter der Bergingenieur ist. Der Revieringenieur ist verantwortlicher Leiter eines Reviers im Abbau oder in der Aus- und Vorrichtung. Der außertarifliche Bereich beginnt dann beim Fahrsteiger, der die Aufsicht über ein besonders großes Revier oder über mehrere kleinere Reviere führt (Horney aaO Seite 15). Voraussetzung für das zum Bergingenieur qualifizierende Studium an der Fachhochschule Bergbau ist ein Zeugnis über die Fachhochschulreife oder ein als gleichwertig anerkanntes Zeugnis sowie eine fachpraktische Vorbereitung. Das Studium selbst dauert sechs Semester und wird durch eine Diplom-Prüfung vor dem Staatlichen Prüfungsausschuß abgeschlossen (Horney aaO Seite 18 ff).

Bei der qualifizierenden Bewertung eines Berufs ist abzustellen auf die Kriterien, die dafür zur Zeit seiner Ausübung maßgebend waren (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 41, 113). Der Beginn der Tätigkeit des Klägers als Grubensteiger im Jahre 1968 läßt es als naheliegend erscheinen, daß er die dafür erforderliche Qualifikation durch die vor 1972 vorgeschriebene oder übliche Ausbildung erworben hat. Früher erforderte der Ausbildungsgang zum Grubensteiger (nach Boldt, Das Recht des Bergmanns, 3. Aufl 1960 Seite 181 ff) zunächst den Besuch der Bergvorschule, der wiederum von einer Aufnahmeprüfung abhing, in der der Nachweis guter Haupt- und Berufsschulkenntnisse erbracht werden sollte. Außerdem wurde von Bewerbern mit planmäßiger Ausbildung auf einer Zeche die Knappenprüfung, wie sie der Kläger abgelegt hat, verlangt. An zwei Jahre dauernde Lehrgänge an der Bergvorschule, neben denen der Bergschüler seine vollen Schichten verfuhr, schlossen sich 2 1/2 Jahre des Besuchs der Bergschule in den Steigerklassen im Wechsel mit Zeiten der Beschäftigung auf einer Zeche an. Die Unterschiede im Ausbildungsgang machen die Prüfung erforderlich, ob die Tätigkeit des Bergingenieurs ihrem qualitativen Wert nach anders zu beurteilen ist als die des Grubensteigers und wie unter diesem Aspekt die "bisherige Berufstätigkeit" des Klägers zu bewerten ist.

Das LSG wird daher noch Feststellungen zu folgenden Fragen zu treffen haben: Lassen sich für Angestellte im Bergbau oberhalb der im Urteil des 1. Senats vom 24. März 1983 (aaO) gebildeten Berufsgruppen weitere Gruppen für Angestellte bilden, die über eine längere Ausbildung hinaus für die Ausübung ihres Berufs weitere Zugangsvoraussetzungen benötigen? Auszugehen ist dabei von den tatsächlichen Verhältnissen des Arbeits- und Berufslebens. Welcher Gruppe ist der Kläger gegebenenfalls zuzuordnen und welcher der kaufmännische Angestellte in der Gehaltsgruppe K 43? Wirkt sich der Übergang vom Grubensteiger zum Bergingenieur auf die Bewertung dieser Berufe aus und ergeben sich daraus Konsequenzen für eine Verweisung im Rahmen des § 46 Abs 2 RKG? Erst wenn in tatsächlicher Hinsicht die Grundlagen für die Beantwortung dieser Fragen feststehen, kann die Verweisbarkeit des Klägers beurteilt werden.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1662363

BSGE, 249

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