Leitsatz (redaktionell)

Die Berufung auf die Versäumung der Anmeldefrist ist ein Rechtsmißbrauch, wenn der Anspruch offensichtlich berechtigt und der in Anspruch genommene Versicherungsträger für die Entscheidung zuständig ist.

 

Normenkette

RVO § 1548 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Mai 1957 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Ehemann der Klägerin, der Mechaniker J A M, ist am 25. Oktober 1944 von einem Fahrraddieb durch einen Herzschuß getötet worden, als er bei der Festnahme des Diebes Hilfe leistete.

Die Klägerin machte im Januar 1954 bei der Beklagten Ansprüche auf Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung geltend. Die Beklagte lehnte diese Ansprüche durch Bescheid vom 9. August 1954 unter Berufung darauf ab, daß die Klägerin die Anmeldefrist des § 1548 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versäumt habe und sich auch nicht auf § 1547 RVO berufen könne. Auf die Klage der Klägerin hat das Sozialgericht (SG.) Köln durch Urteil vom 18. November 1955 den ablehnenden Bescheid aufgehoben und festgestellt, daß die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin anläßlich des Unfalls vom 25. Oktober 1944 die den gesetzlichen Bestimmungen entsprechende Hinterbliebenenrente zu zahlen. Die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 14. Mai 1957 als unbegründet zurückgewiesen. Die Revision ist vom LSG. zugelassen worden.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil, das ihr am 12. Juli 1957 zugestellt worden ist, am 5. August 1957 Revision eingelegt und die Revision am 27. August 1957 begründet.

Sie beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG. die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden. Sie ist also zulässig.

Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Das LSG. hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Köln vom 18. November 1955 zutreffend als zulässig angesehen. § 145 Nr. 1 SGG (in der Fassung vor dem Zweiten Gesetz zur Änderung des SGG vom 25.6.1958 - BGBl. I S. 409 - vgl. hierzu BSG. 8 S. 135; SozR. SGG § 143 Bl. Da 2 Nr. 3) steht der Zulässigkeit nicht entgegen; denn das SG. hat die Anmeldefrist des § 1548 RVO als gewahrt angesehen und deshalb über den Entschädigungsanspruch selbst - nicht nur über die Berechtigung der Beklagten, sich auf die Versäumung der Anmeldefrist zu berufen - entschieden. Das LSG, hat also zutreffend in der Sache selbst entschieden.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG., die von der Revision nicht angegriffen worden sind (§ 163 SGG), ist der Ehemann der Klägerin - wie auch die Beklagte im ablehnenden Bescheid vom 9. August 1954 ausdrücklich festgestellt hat - am 25. Oktober 1944 im Stadtgebiet der Beklagten von einem Fahrraddieb erschossen worden, als er bei dessen Festnahme Hilfe leistete. Wie das LSG. zutreffend ausgeführt hat, stand der Ehemann der Klägerin nach § 537 Nr. 5 Buchst. c RVO während dieser Hilfeleistung unter Versicherungsschutz.

Die Beklagte hat in den beiden ersten Rechtszügen ihre Zuständigkeit nicht bestritten, vielmehr gegenüber dem Hinweis der Klägerin darauf, daß der Unfall rechtzeitig der Eigenunfallversicherung der NSDAP gemeldet worden sei, ausdrücklich erklärt, sie sei von vornherein der allein zuständige Versicherungsträger gewesen. Infolgedessen haben weder das SG. noch das LSG. nähere Ausführungen hinsichtlich der Zuständigkeit der Beklagten gemacht. Sie haben aber die Beklagte mit Recht für zuständig gehalten.

§ 627 RVO ist bisher nicht den Veränderungen des 3. Buches der RVO durch das Sechste Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9. März 1942 (RGBl. I S. 107 - 6. ÄndG) angepasst worden und zitiert infolgedessen in Abs. 1 und 2 noch den mit dem Inkrafttreten des 6. ÄndG weggefallenen § 553 a RVO. Dieser Paragraph war durch das Dritte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 20. Dezember 1928 (RGBl. I S. 405 - 3. ÄndG) in die RVO eingefügt worden und enthielt damals nur den Tatbestand der Lebensrettung (dem jetzt § 537 Nr. 5 Buchst. a 1. Halbs. entspricht). Dementsprechend enthielten die ersten beiden Absätze des gleichfalls durch das 3. ÄndG eingefügten § 627 RVO damals nur die Worte "und für die Unfälle beim Lebensretten". Für diese Unfälle waren also damals die Länder oder, soweit die oberste Verwaltungsbehörde von der Befugnis nach § 627 Abs. 2 RVO Gebrauch gemacht hatte, die Gemeinde als Versicherungsträger zuständig. Für das damalige Land Preußen hatte der Preußische Minister für Volkswohlfahrt durch Erlaß vom 28. Februar 1930 ("Volkswohlfahrt" 1930 Sp. 250, vgl. EuM. des RVA. Bd. 26 S. 537 Nr. 61) die Gemeinden mit wenigstens 250.000 Einwohnern zu Versicherungsträgern für Unfälle nach § 553 a RVO erklärt. Da die Beklagte von der durch diesen Erlaß eingeräumten Möglichkeit, einem Gemeindeunfallversicherungsverband beizutreten, offenbar keinen Gebrauch gemacht hat, war sie demnach durch diesen Erlaß zum zuständigen Versicherungsträger für Unfälle nach § 553 a RVO geworden (vgl. auch das vermutlich gegen die Beklagte ergangene Urteil des RVA. vom 24.11.1933 in EuM. Bd. 35 S. 170).

Die Beklagte hat auch ihre Eigenschaft als Versicherungsträger für die Unfälle nach § 553 a RVO nicht dadurch verloren, daß nach § 39 der Fünften Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung vom 21.12.1934 - RGBl. I S. 1274 - nur noch Gemeinden von wenigstens 500.000 Einwohnern Versicherungsträger der Unfallversicherung sein können.

Durch das Fünfte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 17. Februar 1939 (RGBl. I S. 267 - 5. ÄndG) wurde § 553 a RVO durch die Tatbestände der Hilfeleistung für einen Amtsträger des Staates und der Hilfeleistung bei einer Verfolgung oder Festnahme ergänzt (denen jetzt § 537 Nr. 5 Buchst. b und c entsprechen). Dementsprechend wurde damals die Zuständigkeit der Länder und der zu Versicherungsträgern erklärten Gemeinden auf diese neuen Tatbestände erweitert, indem durch das 5. ÄndG in den beiden ersten Absätzen des § 627 RVO die Worte "beim Lebensretten" durch die Worte "nach § 553 a" ersetzt wurden.

Die Beklagte ist also damals auch für diese Tatbestände der zuständige Versicherungsträger geworden. Diese Zuständigkeit ist auch dadurch nicht berührt worden, daß das 6. ÄndG den § 553 a RVO aufgehoben und die Tatbestände des § 553 a mit verschiedenen Änderungen, deren Erörterung in diesem Zusammenhang nicht erforderlich ist, nunmehr in den § 537 Nr. 5 RVO eingefügt hat (vgl. hierzu auch den Bescheid des RVA. vom 20.4.1943 EuM. Bd. 50 S. 250 Nr. 126). Die Beklagte ist also der für die Entschädigung des Unfalls des Ehemannes der Klägerin zuständige Versicherungsträger.

Hiernach ist der von der Klägerin der Beklagten gegenüber geltend gemachte Entschädigungsanspruch offensichtlich berechtigt. Daraus folgt aber andererseits, daß die Berufung der Beklagten auf die Versäumung der Anmeldefrist des § 1548 RVO ein Rechtsmißbrauch ist.

Das LSG. ist zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin die Anmeldefrist versäumt hat und nicht berechtigt ist, sich auf den Ausnahmetatbestand des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO zu berufen. Der erkennende Senat hat im Urteil vom 23. Juni 1959 (BSG. Bd. 10 S. 88) mit näherer Begründung ausgeführt, daß durch die Vorschriften der §§ 1546 ff. RVO die Versicherungsträger dagegen geschützt werden sollen, Ansprüche befriedigen zu müssen, deren Grundlagen infolge des Zeitablaufs nur noch unvollständig aufgeklärt werden können, die sich aber unter Umständen als unberechtigt erwiesen hätten, wenn die erforderlichen Ermittlungen in der ersten Zeit nach dem behaupteten Unfallereignis durchgeführt worden wären. Diese Gesichtspunkte rechtfertigen jedoch eine Berufung auf die Versäumung der Anmeldefrist dann nicht, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Unfallhergang auch vom Versicherungsträger als einwandfrei festgestellt angesehen wird. Wie der Senat in dem angeführten Urteil näher dargelegt hat, dürfen die Vorschriften über die Anmeldefristen nicht dazu benutzt werden, die Geltendmachung offensichtlich berechtigter Ansprüche von vornherein unmöglich zu machen. Die Beklagte verkennt die Bedeutung ihrer Verpflichtung als Versicherungsträger der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn sie glaubt, sich gegenüber einem offensichtlich berechtigten Anspruch auf rein fiskalische Gesichtspunkte wie die "Verwaltungs- und Finanzierungsklarheit" berufen zu dürfen. Auch der Umstand, daß die Beklagte nach ihrem Vorbringen nur verhältnismäßig wenig Unfallversicherte zu betreuen hat und daß der mit der Durchführung der Aufgaben des Unfallversicherungsträgers beauftragten Stelle infolgedessen nur entsprechend geringe Haushaltsmittel zur Verfügung stehen, ist in diesem Zusammenhang ohne entscheidende Bedeutung. Die Haushaltsmittel der Stellen, welche die Aufgaben des Bundes, der Länder und der Gemeinden in ihrer Eigenschaft als Versicherungsträger der gesetzlichen Unfallversicherung durchführen, können naturgemäß jeweils nur auf Grund von Vorschätzungen im Haushaltsplan festgesetzt werden. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß diese Haushaltsmittel unverzüglich ergänzt werden müssen, falls sie sich als unzureichend erweisen, und es ist dabei nicht wesentlich, ob die Überschreitung der Voranschläge z. B. darauf beruht, daß der Gesetzgeber die Leistungen allgemein erhöht hat, daß ein Massenunfall eine unerwartete erhebliche Belastung gebracht hat oder daß nachträglich bisher unbekannte Unfälle oder Berufskrankheiten entschädigt werden müssen.

Das LSG. hat hiernach zutreffend die Berechtigung des Beklagten, sich auf die Versäumung der Anmeldefrist zu berufen, verneint und ohne Rechtsirrtum die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen.

In der Revisionsinstanz hat die Beklagte "vorsorglich" die Einrede der Verjährung erhoben. Abgesehen davon, daß die Verjährung nach § 29 RVO, was die Beklagte möglicherweise verkennt, nicht den Anspruch als solchen, sondern nur die jeweils fälligen Einzelleistungen erfaßt, ist diese Einrede schon deshalb unbeachtlich, weil sie auch im sozialgerichtlichen Verfahren in der Revisionsinstanz nicht mehr wirksam erhoben werden kann (vgl. hierzu im einzelnen BSG. 6 S. 283 (288)).

Die Revision war deshalb im vollen Umfange als unbegründet zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324590

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