Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 08.05.1991; Aktenzeichen L 2 J 148/89)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Mai 1991 aufgehoben.

Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenrente nach § 1265 Abs 1 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die im Dezember 1930 geborene Klägerin heiratete 1972 den Versicherten W. … K.. Die Ehe wurde 1976 aus dem alleinigen Verschulden des Versicherten geschieden. Aus der Ehe, in die die Klägerin fünf Kinder ihrer ersten Ehe eingebracht hatte, ist eine weitere Tochter hervorgegangen. Während des Scheidungsverfahrens hatte die Klägerin eine einstweilige Anordnung gegen den Versicherten erwirkt, durch die diesem unter Androhung von Ordnungsgeld verboten wurde, die eheliche Wohnung zu betreten. Die Klägerin hatte den Antrag hierauf mit einer eidesstattlichen Versicherung begründet, nach der der Versicherte seit längerer Zeit dem Alkohol verfallen und gegen sie und die Kinder wiederholt gewalttätig geworden war. Unmittelbar vor der Scheidung hatten die Eheleute für den Fall der Scheidung der Ehe aus alleinigem Verschulden des Versicherten in einem Vergleich vereinbart, daß die Klägerin für die eigene Person auf Unterhalt, auch für den Notbedarf, verzichtet. Weder die Klägerin noch der Versicherte sind eine neue Ehe eingegangen. Der Versicherte bezog zur Zeit der Scheidung Leistungen vom Arbeitsamt wegen Arbeitslosigkeit. Anschließend war er nicht mehr dauerhaft unterhaltsfähig. Er verfiel völlig dem Alkohol und starb schließlich an einer Alkoholvergiftung. Im Jahre 1979 war er einmal durchgehend für fünf Monate versicherungspflichtig beschäftigt. Die Klägerin hatte nach ihren Angaben zur Zeit der Scheidung Einnahmen in Höhe von 9.000,00 DM jährlich aus Verpachtung und 5.000,00 DM jährlich aus dem Betrieb eines Gästehauses.

Im Mai 1983 stellte die Klägerin erstmals einen Antrag auf Hinterbliebenenrente. Sie trug ua vor, ihr Mann sei starker Trinker gewesen; es habe daher keinen Zweck gehabt, bei der Scheidung auf Unterhalt zu bestehen. Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin ab. Der Bescheid wurde bindend. Am 10. April 1987 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung von Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag wiederum ab (Bescheid vom 15. Mai 1987; Widerspruchsbescheid vom 28. August 1987).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. März 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Für die Klägerin sei bei Abschluß des Vergleichs nicht die Tatsache ausschlaggebend gewesen, daß der Versicherte ihr ohnehin keinen Unterhalt werde gewähren können, sondern daß sie wegen seiner Gewalttätigkeit möglichst schnell die Scheidung erreichen wollte. Daß der Versicherte im Zeitpunkt der Scheidung arbeitslos und damit möglicherweise unterhaltsunfähig gewesen sei, daß er nicht einmal für das aus der Ehe der Klägerin mit dem Versicherten hervorgegangenen Kind Unterhalt gezahlt habe, möge zwar auch ein Grund für den Verzicht der Klägerin gewesen sein. Dominierender Grund für den Unterhaltsverzicht sei indessen die Gewalttätigkeit des Versicherten gewesen. Nach der Rechtsansicht des erkennenden Senats sei zudem weitere Voraussetzung für die Unbeachtlichkeit des Unterhaltsverzichtes, daß die Klägerin bei Ausspruch des Unterhaltsverzichts es vernünftigerweise für ausgeschlossen habe ansehen dürfen, daß die Unterhaltsfähigkeit des Versicherten bis zu seinem Tode jemals wieder eintreten werde. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung habe damals jedoch noch mit einer nicht nur entfernten Möglichkeit gerechnet werden müssen, daß der Versicherte – ggf mit Hilfe von Rehabilitationsmaßnahmen – seine Sucht zumindest soweit werde überwinden oder in Grenzen halten können, daß er wieder erwerbstätig werden könne. Daß der Versicherte nicht mehr unterhaltsfähig werden, sondern völlig dem Alkohol verfallen und am Alkohol sterben werde, sei damals nicht voraussehbar gewesen (Urteil vom 8. Mai 1991).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1265 Abs 1 RVO.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 16. März 1989 sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus. Die Frage, ob der frühere bindend gewordene Bescheid der Beklagten, mit dem der Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente abgelehnt worden war, schon bei Erlaß unrichtig war (§ 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches ≪SGB X≫), läßt sich bei Zugrundelegen der vom LSG festgestellten Tatsachen nicht beantworten. Die Klägerin kann gegen die Beklagte einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente haben.

Trotz Inkrafttretens des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) am 1. Januar 1992 (Art 85 Abs 1 Rentenreformgesetz 1992 ≪RRG≫) gilt für den vorliegenden Fall noch das Recht der RVO (§ 300 Abs 2 SGB VI).

Nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden wurde, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn Witwenrente nicht zu gewähren ist, wenn eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat, wenn die frühere Ehefrau im Zeitpunkt der Scheidung mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen hat und solange sie berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist oder wenn sie das 60. Lebensjahr vollendet hat. Die Gründe, aus denen das LSG den Anspruch der Klägerin verneint hat, reichen nicht aus, der Klägerin die beantragten Leistungen zu versagen.

Nach der Rechtsauffassung des erkennenden Senats schließt ein umfassender und endgültiger Verzicht auf Unterhalt einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO nicht aus, wenn einer der in Nr 1 dieser Vorschrift genannten Hinderungsgründe einer Unterhaltspflicht des Versicherten die wesentliche Ursache für die – deklaratorische – Verzichtserklärung gewesen ist, wenn diesem Grund also neben etwaigen sonstigen Gründen eine gleichwertige Bedeutung beizumessen ist (vgl Urteil vom 23. November 1988 in BSGE 64, 167 = SozR 2200 § 1265 Nr 90 und Urteil vom 28. Juni 1989 in SozR aaO Nr 98). Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung, an welcher der Senat festhält, steht der von der Klägerin erklärte Unterhaltsverzicht dem geltend gemachten Anspruch nicht entgegen.

Die gegenteilige Entscheidung des LSG beruht auf einer Verkennung des hier maßgeblichen rechtlichen Kausalitätsbegriffs. An diese gegenteilige Rechtsauffassung einer „dominierenden” Kausalität ist das Revisionsgericht nicht gebunden (vgl BSGE 47, 113, 116). Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 23. November 1988 aaO ausgeführt hat, ist der nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in der gesetzlichen Rentenversicherung geltende rechtliche Kausalitätsbegriff der wesentlichen Bedingung auch bei der Prüfung, ob der Verzicht auf den in § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO aufgeführten Gründen beruht, anzuwenden. Wie in der genannten Entscheidung weiter dargelegt, folgt daraus, daß der Unterhaltsverzicht dem Anspruch dann nicht entgegensteht, wenn er ohne einen der in § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO aufgeführten Gründe nicht erklärt worden wäre, was nur dann angenommen werden kann, wenn der Unterhaltsverzicht eine Umkehr der Verschuldenslast iS der §§ 58 Abs 1, 59 Abs 1 Satz 1 des Ehegesetzes in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung (EheG aF) bezweckte, also ohne den Verzicht der Ehefrau eine Scheidung aus deren alleinigem oder überwiegendem Verschulden erfolgt wäre. Davon kann indes im Falle der Klägerin keine Rede sein.

Das LSG geht vielmehr selbst davon aus, daß der Schuldausspruch im Scheidungsurteil den tatsächlichen Verhältnissen entsprochen hat und daß die sich aus der Alkoholkrankheit ergebende Unterhaltsunfähigkeit des Versicherten Mitursache für den Unterhaltsverzicht der Klägerin gewesen ist. Es räumt deshalb auch ein, daß seine Entscheidung unter Zugrundelegung der vom erkennenden Senat für maßgeblich gehaltenen sozialrechtlichen Kausalitätstheorie keinen Bestand haben kann.

Entgegen der Ansicht des LSG ist hier die vom 4. Senat des BSG für die Rechtsunerheblichkeit des Verzichts geforderte „Vorausschau” anzunehmen, wonach die spätere Hinterbliebene schon bei Abgabe ihrer Verzichtserklärung es „vernünftigerweise” als ausgeschlossen ansehen durfte, die in § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO genannten Gründe könnten bis zum Tode des Versicherten infolge einer in Rechnung zu stellenden Änderung der Verhältnisse wieder entfallen. Denn der 4. Senat hat diese Voraussetzung in seinem Urteil vom 19. Januar 1989 (SozR 2200 § 1265 Nr 94) für einen mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbaren Fall – Unterhaltsunfähigkeit des Versicherten infolge Trunksucht und eigenes Erwerbseinkommen der Frau zur Zeit der Scheidung – selbst ausdrücklich bejaht.

Der erkennende Senat kann deshalb hier – ebenso wie bereits in seiner Entscheidung vom 28. Juni 1989 aaO – offen lassen, ob er derartigen subjektiven Vorstellungen der geschiedenen Ehefrau bei Erklärung des Unterhaltsverzichts ebenfalls Bedeutung beimißt. Bedenken bestehen insoweit schon deswegen, weil anderenfalls das Fehlen einer – falschen – Vorstellung von der Zukunft zu Rechtsnachteilen führen würde. Der Senat hat in diesem Zusammenhang bereits im genannten Urteil vom 28. Juni 1989 darauf hingewiesen, daß die vom 4. Senat beschriebene „Vorausschau” zwangsläufig erst nach der Stellung des Hinterbliebenenrentenantrags und damit in einer rückschauenden Betrachtungsweise überprüft werden kann. Dann ist aber eine Prüfung nach objektiven Kriterien schon aus Gründen der Rechtssicherheit geboten.

Hat nach alledem das LSG den Unterhaltsverzicht der Klägerin bei der Prüfung des § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO außer Betracht zu lassen, so kann gleichwohl noch nicht abschließend entschieden werden, ob die Klägerin einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach dieser Vorschrift hat. Es sind hierfür noch zusätzliche Feststellungen erforderlich bezüglich der sonst dort genannten Voraussetzungen. Der Rechtsstreit war daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174131

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