Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 1; HwVG § 1 Abs. 5

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Februar 1977 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Streitig ist, ob der Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) beanspruchen kann.

Der 1944 geborene Kläger ist Meister des Kraftfahrzeugmechanikerhandwerks. Seit 1968 führt er einen selbständigen Betrieb mit mehreren Gesellen.

Im September 1972 verletzte sich der Kläger schwer an der rechten Hand und am Unterarm; drei Finger der Hand wurden amputierte Berufsfördernde Maßnahmen der Beklagten lehnte er mit der Begründung ab, daß er sein Geschäft weiterführen möchte.

Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 26. Oktober 1973 den Rentenantrag des Klägers ab, er sei noch nicht berufsunfähig (bu), weil er sein Geschäft ohne Einschränkung noch weiterführen könne.

Die vom Kläger hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg. Mit der angefochtenen Entscheidung vom 21. Februar 1977 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung gegen das klage abweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) zurückgewiesen und ausgeführt, der Kläger sei schon deshalb nicht bu, weil er auf eine abhängige Tätigkeit verwiesen werden könne. Während seiner abhängigen Beschäftigung bis 1968 habe er nur Arbeitsentgelte erzielt, die unter der Leistungsgruppe nach Anlage 5 zu § 22 des Fremdrentengesetzes (FRG) lägen. Daß er gelernter Mechaniker sei, gestatte allein, ihn der mittleren Leistungsgruppe zuzuordnen. Daran ändere auch die Tatsache nichts, daß der Kläger selbständiger Handwerksmeister sei. Auch hierbei müsse die Höhe der Beitragsleistung berücksichtigt werden. Als selbständiger Handwerker habe der Kläger nur Versicherungsbeiträge entrichtet, die unterhalb des Durchschnitts der unteren Versichertengruppe der Arbeiter gelegen haben. Der Kläger, der nach allem zur mittleren Gruppe der Beschäftigten gehöre, könne auf alle abhängigen untergeordneten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden. Dort könne er bei ausreichenden Arbeitsplätzen noch ganztägig arbeiten. Selbst wenn man ihn der obersten Gruppe zuordnen wollte, könnte er zB in der Annahme eines größeren Kraftfahrzeug-Reparaturbetriebs noch tätig sein.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Klägers. Er trägt vor, die Entscheidung des LSG sei bereits im Ansatz unrichtig. Die Ausübung der Tätigkeit eines selbständigen Handwerksmeisters könne nur der obersten Gruppe der Lehrberufe zugeordnet werden. Auf früher verrichtete Tätigkeiten komme es nicht an. Unzulässig sei es ferner, auf die Beitragshöhe abzustellen. Die dem Handwerker eingeräumte Möglichkeit, durch hohe Beiträge höheren Versicherungsschutz zu erreichen, habe nichts mit der Frage zu tun, ob der für Handwerker als Grundsicherung vorgesehene Versicherungsfall eingetreten sei. Auf eine Tätigkeit, bei der der Handwerker die erlernten manuellen Fertigkeiten nicht einsetzen könne, könne er nicht verwiesen werden. Mach der BSG-Rechtsprechung sei ein Handwerker berufsunfähig, wenn er die für das Handwerk wesentlichen körperlichen Fertigkeiten nicht mehr besitze. Auf die Arbeit im eigenen Betrieb dürfe er nicht verwiesen werden; dessen Aufrechterhaltung sei nur dem vermehrten Kapitaleinsatz und den zusätzlich eingestellten Arbeitnehmern zuzuschreiben.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. April 1975 und des Urteils des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Februar 1977 sowie unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 26. Oktober 1973 diese zu verurteilen, ihm ab Antragstellung Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II.

Die Revision des Klägers ist mit ihrem Hilfsantrag auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Das Handwerkerversicherungsgesetz (HwVG) enthält im wesentlichen nur Vorschriften über den Umfang der Versicherungs- und Leistungspflicht. Nach der Generalklausel des § 1 Abs. 5 HwVG gelten demgemäß für das Leistungsrecht die Vorschriften der Rentenversicherung der Arbeiter. Zu ihnen zählt § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), wenngleich es sich - wegen der Besonderheiten, die bei einer Zwangsversicherung Selbständiger im Vergleich zu der von abhängig beschäftigten Personen naturgemäß auftreten - nur um eine entsprechende Anwendung auch gerade dieser Vorschrift handeln kann (Jorks, HwVG, § 1 RdNr. 76; Schlageter, HwVG, 2. Aufl, § 1 Anm. 8; vgl auch den erkennenden Senat in BSGE 2, 91, 92).

Nach § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO ist bu ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit und anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines gesunden Versicherten herabgesunken ist. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß nicht bu sein kann, wer die Tätigkeit, die er vor Eintritt der angeblich BU bedingenden Umstände ausgeübt hat - sein "bisheriger Beruf" (= "bisherige Berufstätigkeit" ) im Sinne des Satzes 2 a.a.O. -, auch nachher noch ohne wesentliche Einschränkung auszuüben vermag. Von einem "Herabsinken" in der auf den bisherigen Beruf bezogenen Erwerbsfähigkeit, wie dies das Gesetz verlangt, läßt sich in diesem Fall nicht sprechen, für eine "Verweisung" auf andere Tätigkeiten nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 a.a.O. ist dann kein Raum.

Für den vorliegenden Fall verlangt dieser rechtliche Gesichtspunkt aus folgenden Gründen Beachtung:

Versichert nach dem HwVG sind Handwerker, die in der Handwerksrolle eingetragen sind (§ 1 Abs. 1 Satz 1 a.a.O.). Damit ist indessen noch nicht festgelegt, was bisheriger Beruf des Handwerkers im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO ist. Auf eine gesetzliche Definition, was unter Handwerk/Handwerksbetrieb zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber mit Rücksicht auf die stetige Fortentwicklung dieser Wirtschaftsform sowohl im HwVG wie in der Handwerks Ordnung (HwO) bewußt verzichtet (vgl Siegert/Musielak, Das Recht des Handwerks, § 1 HwO, RdNr. 11 und 18). Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Frage der BU von Handwerkern unterscheidet den Inhaber des "Ein-Mann-Betriebs" (so der erkennende Senat in BSGE 2, 91, 92), den des mittelgroßen (mittleren) Betriebs (der erkennende Senat in SozR Nr. 3 zu § 27 AVG aF; der 5. Senat in SozR 2200 § 1246 Nr. 14 und in der Entscheidung vom 29. März 1978 - 5 RJ 8/77) und schließlich des Großbetriebs (5. Senat des BSG in Nr. 14 a.a.O., vgl über die Schwierigkeiten, den Handwerksbetrieb vom Industriebetrieb abzugrenzen BVerwG, GewArch 1964, 249, 252, 279). Als mittleren Betrieb definiert diese Rechtsprechung einen Handwerksbetrieb, in dem - was beim Ein-Mann-Betrieb selbstverständlich ist - der Inhaber und Meister noch körperlich mitarbeitet, unter Großbetrieb scheint das BSG einen Handwerksbetrieb zu verstehen, in dem der Inhaber dies nicht mehr tut.

Schon nach dieser Rechtsprechung ist das Berufsbild des selbständigen handwerklichen Unternehmers vielgestaltig. Sein Spektrum reicht vom allein arbeitenden Handwerker bis in die Nähe des Industriebetriebs. Besonderes Interesse beansprucht der mittlere Handwerksbetrieb. Das Handwerk hat sich in den letzten Jahrzehnten dem Fortschritt der Technik angepaßt (Leiss in Automation, Risiko und Chance, Bd. II, 791, Graf Lambsdorff, Bulletin 1979, 305, 306). Hochtechnisierung und, in bestimmten Bereichen, Automation von Arbeitsabläufen (zB die digitale Steuerung von Maschinen) haben zumindest in den vorwiegend technisch ausgerichteten Handwerkszweigen (vgl die Gruppen II und VII der Anlage A zur HwO) die rein manuellen Fertigkeiten zugunsten des technischen Wissens und Verständnisses zurückgedrängt (so zB bei der Wartung komplizierter Maschinen, vgl hierzu auch den Bericht VI der Internationalen Arbeitskonferenz, 57. Tagung 1972 und BVerwG GewArch 1964, 249, 251). Nach allem wird von einem pflichtversicherten Handwerker, der keinen Ein-Mann-Betrieb führt, sondern - im Durchschnitt acht (Lambsdorff, a.a.O., 306) - Arbeitnehmer beschäftigt, nicht ohne weiteres gesagt werden können, ob sein bisheriger Beruf im Sinne des § 1246 Abs. 2 RVO körperliche Mitarbeit erforderte oder nicht. Dies bedarf vielmehr der Untersuchung im einzelnen. Auch bei äußerlich bescheidener Größe kann die Ausstattung des Betriebs etwa mit mechanisch und elektronisch arbeitenden Maschinen die körperliche Mitarbeit des Meisters entbehrlich machen.

In solchen Betrieben übernimmt der Inhaber und Meister Im eigentlichen handwerklichen Bereich häufig nur die planenden, anleitenden und beaufsichtigenden Funktionen sowie die theoretische Unterweisung der Auszubildenden, während er die körperlich-manuellen Tätigkeiten seinen Beschäftigten überläßt. Solche Unternehmer besorgen häufig - ganz oder teilweise, allein oder mit Hilfskräften - die organisatorischen und kaufmännischen Aufgaben des Betriebs. Es liegt auf der Hand, daß diese Handwerker ihren bisherigen Beruf unverändert weiter ausüben können, wenn sich krankheitsbedingt ihre Fähigkeit vermindert oder gar entfällt, die in ihrem Handwerk anfallenden körperlichen Arbeiten auszuführen. Die früher schematisch vertretene Auffassung, im Beruf des Handwerks vereinige sich unternehmerisches Geschick und handwerklich-manuelles Können in besonderer Weise (vgl Bayer. Landesversicherungsamt in Breithaupt 1950, 558 und 1951, 196), trifft nur insoweit zu, als der Meister und Betriebsinhaber grundsätzlich über beide Fähigkeiten verfügt. Es bleibt indessen festzuhalten, daß der Handwerker seinen Beruf auch dann vollwertig ausübt, wenn ihn Art und Ausstattung seines Betriebs der Notwendigkeit entheben, in ihm körperlich mitzuarbeiten. Die umfassende Befähigung des Handwerkers gewinnt jedoch Bedeutung, wenn sich - etwa durch konjunkturelle Einflüsse - die Ertragslage und/oder der Beschäftigtenstand des Betriebs wesentlich verschlechtern. Der Betrieb kann dann wieder auf die manuell-handwerklichen Fähigkeiten des Meisters angewiesen sein mit der Folge, daß dieser jetzt wegen einer gesundheitlichen Schädigung nicht mehr in der Lage ist, den Betrieb weiterzuführen.

Der selbständige Handwerker zahlt mithin zu den Versicherten, bei denen die BU oder gar die Erwerbsunfähigkeit (EU) nicht ausschließlich auf dem Gesundheitszustand beruhen muß (vgl dazu auch § 1276 Abs. 1 RVO), sondern von betrieblichen Bedingungen abhängen kann.

Nicht zu den Handwerkern, die ihren bisherigen Beruf ohne körperlichen Einsatz ausgeführt haben, ist jedoch der Versicherte zu zählen, der die körperliche Mitarbeit in seinem Betrieb nur aus gesundheitlichen Gründen aufzugeben genötigt war und den Ausfall seiner körperlichen Arbeitskraft durch Einstellung eines sonst nicht benötigten Arbeitnehmers ausgeglichen hat. Denn für die Folgen der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) durch Krankheit, andere Gebrechen oder Schwäche der körperlichen und geistigen Kräfte hat der Rentenversicherungsträger für den versicherten Handwerker nach § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO gerade einzustehen. Ein solcher Handwerker ist bei der Prüfung der BU mithin so zu behandeln, als habe er bisher im Betrieb körperlich mitgearbeitet.

Für den vorliegenden Fall folgt aus alledem:

Der Kläger führt als Handwerker keinen Ein-Mann-Betrieb, sondern beschäftigt mehrere Arbeitnehmer. Er hat den Betrieb auch nach der schweren Verletzung der rechten Hand und des rechten Unterarms im September 1972 bis jetzt weitergeführt. Das Angebot der Beklagten, ihn beruflich umzuschulen, hat er mit der Begründung abgelehnt, daß er sein Geschäft weiterführen möchte. Bei diesen Gegebenheiten spricht vieles dafür, daß der Kläger seinen bisherigen Beruf schon vor der schweren Verletzung ohne körperliche Mitarbeit ausführen konnte und auch ausgeführt hat. Die Fähigkeit, den bisherigen Beruf weiter auszuüben, schlösse dann BU aus. Sollte es sich anders verhalten, so könnte dies nach Maßgabe der obigen Darlegungen ein anderes rechtliches Ergebnis zeitigen. Freilich hat der Kläger erst in der Revisionsinstanz behauptet, daß er seinen Betrieb nur unter vermehrtem Kapitaleinsatz und mit zusätzlich eingestellten Arbeitskräften habe weiterführen können. Das LSG wird dies alles zu prüfen und die entsprechenden Feststellungen zu treffen, haben.

Zu diesem Zweck war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Sollte sich ergeben, daß der Kläger seinen bisherigen Beruf - Handwerksbetrieb - nicht weiterführen kann, wird das LSG die Frage der "Verweisung" des Klägers auf andere Tätigkeiten zu prüfen haben. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, an der der Senat festhält, kann ein selbständiger Handwerker auch auf abhängige Beschäftigungen verwiesen werden (BSG SozR Nr. 69 und 70 zu § 1246 RVO, Entscheidung vom 29. Juni 1976 - 4/12 RJ 74/75; Entscheidung vom 26. April 1977 - 4 RJ 73/76). Dies wird im wesentlichen mit der Überlegung begründet, daß die gesetzliche Rentenversicherung keinen "Gruppenschutz" kenne. Nach § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO umfaßt der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Die Frage, ob der selbständige Handwerker in Anwendung dieser Vorschrift auf Arbeitertätigkeiten verwiesen und inwieweit das hierzu von der Rechtsprechung des BSG entwickelte Mehrstufenschema auf ihn angewendet werden kann, hat im vorliegenden Fall kaum praktische Bedeutung. Der Kläger, der nach den Feststellungen des LSG seit langen Jahren einen Betrieb mit mehreren Arbeitskräften selbständig führt, könnte die besonderen Anforderungen seines bisherigen Berufs am ehesten in einer planenden, aufsichtsführenden, anleitenden kaufmännisch-organisatorischen Tätigkeit einsetzen. Als Kraftfahrzeugmeister mit langjähriger Erfahrung in der Leitung eines Betriebes wird er daher vorzugsweise als Meister im Angestelltenverhältnis verwendbar sein, zumal er durch seine Hand Verletzung ohnehin erheblich gehindert ist, körperliche Tätigkeiten zu verrichten (vgl dazu zB den Rahmentarifvertrag für die Angestellten des Kraftfahrzeuggewerbes in der Bundesrepublik Deutschland vom 1. Januar 1975, abgeschlossen zwischen der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft und dem Zentral verband des Kraftfahrzeughandels und Kraftfahrzeughandwerks, Gruppe Technische Angestellte M II und M III, Meister mit bestandener Meisterprüfung im Kraftfahrzeughandwerk gegebenenfalls mit zusätzlichen weiteren Kenntnissen). Es wird gegebenenfalls Aufgabe des LSG sein, festzustellen, inwieweit der Kläger nach seinem Wissen und Können und nach seinem Gesundheitszustand solche Tätigkeiten ausführen kann.

Bei seiner abschließenden Entscheidung wird das LSG auch über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu befinden haben (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

BSGE, 65

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