Leitsatz (amtlich)

In einem Verfahren auf Gewährung von Hinterbliebenenrente sind andere Hinterbliebene desselben Versicherten, die bereits Hinterbliebenenrente beziehen, dann notwendig beizuladen, wenn durch die weitere Rentengewährung die für die Hinterbliebenenrente festgelegte Höchstgrenze überschritten würde (Weiterführung von BSG 1963-10-25 1 RA 181/62 = SozR Nr 3 zu § 1268 RVO; BSG 1964-06-23 11/1 RA 90/62 = SozR Nr 5 zu § 1268 RVO).

 

Normenkette

RVO § 1270 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; SGG § 75 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Oktober 1966 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Klägerin ist die geschiedene Ehefrau des im März 1962 verstorbenen Versicherten. Nach dessen Tod wurde den gemeinsamen sechs Kindern aus dieser Ehe Waisenrente gewährt. Den Antrag der Klägerin auf Bewilligung der Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Zeit vom 1. April 1962 an lehnte die Beklagte ab, weil die Klägerin im Hinblick auf das von ihr erzielte Einkommen in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten (Bescheid vom 28. Februar 1963).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte antragsgemäß zur Gewährung der Rente verurteilt (Urteil vom 5. Mai 1965), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Es hat ausgeführt, die Beklagte habe die Berufung zwar zunächst in vollem Umfang eingelegt, später jedoch das Rechtsmittel insoweit eingeschränkt, als sie zur Rentengewährung für die Zeit vom 1. April 1962 bis zum 30. Juni 1965 verurteilt worden sei. Für die Folgezeit habe sie sich im Hinblick auf das - vor Ablauf der Berufungsfrist verkündete - Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG, vgl. § 1265 Satz 2 RVO) zur Rentenzahlung für verpflichtet gehalten. Diese Einstellung ändere jedoch nichts daran, daß die Beklagte das Rechtsmittel nachträglich aus freien Stücken eingeschränkt habe. Deshalb finde § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Anwendung. Die Berufung betreffe eine Rente für bereits abgelaufene Zeiträume; sie sei daher unzulässig. Entgegen der Meinung der Beklagten habe das SG auch nicht die sechs Waisen notwendig beiladen müssen (§ 75 Abs. 2 SGG). Diesen sei Hinterbliebenenrente durch bereits bindend gewordenen Bescheid bewilligt worden. In ihre Rechte könne daher durch die in dem anhängigen Verfahren ergehende Entscheidung nicht mehr eingegriffen werden.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die - zugelassene - Revision der Beklagten. Sie ist der Ansicht, das LSG habe in der Sache selbst entscheiden müssen. Die Beschränkung des Rechtsmittels sei nicht aus freien Stücken erfolgt. Überdies liege ein wesentlicher Mangel im Verfahren vor dem SG vor. Da § 1270 Abs. 1 RVO die Höhe der Hinterbliebenenrenten begrenze, könnten Entscheidungen der hier zu beurteilenden Art nur ergehen, wenn sichergestellt werde, daß sie allen Rentenberechtigten gegenüber wirksam seien. Einer Kürzung der bewilligten Waisenrenten gemäß § 1270 Abs. 1 RVO stehe die Bindungswirkung der bereits erlassenen Rentenbescheide nicht entgegen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin ist im Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.

Die Revision ist begründet; das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen.

Die Auffassung des LSG, die Berufung betreffe nur Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum (§ 146 SGG), hält der erkennende Senat für zutreffend. Jedoch hätte das LSG deshalb ein Sachurteil erlassen müssen, weil das Verfahren vor dem SG an dem von der Beklagten ordnungsgemäß gerügten wesentlichen Mangel leidet (§ 150 Nr. 2 SGG). Das SG hätte die sechs Kinder aus der Ehe der Klägerin und des Versicherten beiladen müssen (§ 75 Abs. 2 SGG). Bejaht man den Anspruch der Klägerin, so greift die Entscheidung über ihren Rentenantrag unmittelbar in die Rechtsbeziehungen zwischen der Beklagten und den Kindern ein. Dies folgt aus § 1270 Abs. 1 Satz 1 RVO. Hiernach dürfen die Hinterbliebenenrenten zusammen nicht höher sein als die nach § 1253 Abs. 2 RVO berechnete Rente des Versicherten einschließlich des Kinderzuschusses. Wird diese Grenze - wie es nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hier der Fall sein kann - überschritten, so werden die einzelnen Renten im Verhältnis ihrer Höhe gekürzt. Der Grenzwert, welcher der Summe der Hinterbliebenenrenten gesetzt ist, kann nur dann voll beachtet werden, wenn die Entscheidungen, die in diesem Zusammenhang zu treffen sind, allen Anspruchsberechtigten gegenüber einheitlich ergehen und insoweit unmittelbare Wirkungen entfalten. Dem LSG ist allerdings zuzugestehen, daß eine solche Auslegung aus dem Wortlaut des § 1270 Abs. 1 Satz 1 RVO allein nicht zwingend hergeleitet werden kann. Der Gesetzestext schließt andererseits die hier befolgte Lösung auch nicht aus; dies wird vor allem deutlich, wenn man § 1270 Abs. 1 Satz 1 im Zusammenhang mit anderen verwandten Vorschriften liest. Dabei hat sich die Interpretation des § 1270 Abs. 1 Satz 1 RVO namentlich an § 1268 Abs. 4 RVO auszurichten. Dort ist eine Regelung für den Fall getroffen, daß neben der Witwe eine frühere - geschiedene - Ehefrau des Versicherten rentenberechtigt ist. Dafür wird eine - dem § 1270 Abs. 1 Satz 1 RVO entsprechende - Kürzung angeordnet; die Hinterbliebenenrenten werden nur anteilsmäßig gewährt. Darüber hinaus wird in § 1268 Abs. 4 Satz 2 RVO - was hier besonders interessiert - die Neufeststellung der Renten in dem vorbezeichneten Sinne auch für den Fall vorgeschrieben, daß nach Feststellung der Renten ein weiterer Berechtigter zu berücksichtigen ist. Ein zuvor erlassener Rentenbescheid steht also der Neufeststellung in der Regel nicht entgegen. Gründe, die erkennen lassen könnten, daß der Gesetzgeber die vorbezeichneten Kürzungsvorschriften (§§ 1268 Abs. 4, 1270 Abs. 1 ... RVO), die sich beide auf Hinterbliebenenrenten beziehen, verschieden gestalten wollte, vermag der Senat nicht zu erkennen. Der Umstand, daß es sich in den Fällen des § 1268 Abs. 4 RVO nur um Witwen- bzw. Witwerrenten handelt, während von § 1270 Abs. 1 RVO die Hinterbliebenenrenten in ihrer Gesamtheit erfaßt werden, rechtfertigt insoweit keine unterschiedliche Regelung. Beide Vorschriften begrenzen die Hinterbliebenenrenten der Höhe nach und dienen dem gleichen Zweck. Dies weist darauf hin, daß die Kürzungsvorschrift des § 1270 Abs. 1 RVO zwar in ihrem Wortlaut gestrafft ist, ihrem wesentlichen Inhalt nach jedoch mit der des § 1268 Abs. 4 RVO übereinstimmt. Wenn die Hinterbliebenenrenten zusammen im Rahmen des Grenzwertes bleiben müssen (§ 1270 Abs. 1 Satz 1 RVO), so bedeutet dies, daß beim Hinzutreten eines weiteren Berechtigten eine Abänderung bereits ergangener Bescheide möglich sein muß (vgl. § 1268 Abs. 4 RVO). Dafür, daß diese Auslegung gewollt ist, gibt auch § 1270 Abs. 1 Satz 2 RVO einen Anhalt. Hiernach erhöht sich der Höchstbetrag für jedes nachgeborene Kind um einen Kinderzuschuß. Diese Regelung setzt die Befugnis zu einer nachträglich - nach Erlaß von Rentenbescheiden den übrigen Berechtigten gegenüber - vorzunehmenden Kürzung voraus. Schließlich ist in diesem Zusammenhang § 598 RVO von Bedeutung. Diese Vorschrift enthält für das Gebiet der Unfallversicherung sinngemäß die gleiche Regelung, wie sie in § 1270 Abs. 1 RVO für das Gebiet der Rentenversicherung getroffen ist. Sie bringt zweifelsfrei zum Ausdruck, daß der dort angeordneten Rentenkürzung der vorher einem anderen Berechtigten zugestellte Rentenbescheid nicht entgegensteht.

Hiernach ist es geboten, in Fällen der zu entscheidenden Art von der vergleichbaren Vorschrift des § 1268 Abs. 4 RVO auszugehen und dabei die zu dieser Vorschrift ergangene Rechtsprechung des BSG zu beachten. Zu § 1268 Abs. 4 RVO hat das BSG entschieden, daß der neue Bescheid, der die Rentenberechtigung einer weiteren Hinterbliebenen feststelle, unmittelbar in die zuerst anerkannten Rechte eingreife. Im Prozeß des Versicherungsträgers mit der weiteren Berechtigten sei die erste Berechtigte Beteiligte; sie müsse notwendig beigeladen werden (BSG in SozR Nrn. 3 und 5 zu § 1268 RVO). Etwas anderes kann nicht gelten, wenn es sich - wie hier - zunächst um einen ablehnenden Bescheid des Versicherungsträgers handelt, gegen den Klage erhoben wird. Wenn der Bescheid eines Versicherungsträgers unmittelbar die Rechtssphäre eines Dritten berührt, so muß diese Wirkung auch einem in derselben Sache ergehenden Urteil zukommen.

Die waisenrentenberechtigten Kinder des Versicherten hätten daher vom SG beigeladen werden müssen.

Die unterlassene Beiladung kann nicht etwa mit der Begründung als unbeachtlich bezeichnet werden, daß sich der Verfahrensmangel nur noch auf Rente für eine in der Vergangenheit liegende Zeitspanne beziehe und daß diese nicht mehr Gegenstand des Verfahrens sei. Die Beiladung liegt auch im Interesse des Beizuladenden. Er kann, wenn er nach § 75 Abs. 2 SGG beizuladen war, sogar Sachanträge stellen, die von denen der anderen Beteiligten abweichen. Ebenso, wie er selbständig ein Rechtsmittel einlegen kann, steht es ihm frei, dieses auch dann in vollem Umfang aufrecht zu erhalten, wenn es vom Rechtsmittelkläger beschränkt worden ist. Dies könnte im vorliegenden Falle erheblich werden. Den Kindern der Klägerin steht das Recht zu, zur Wahrung ihrer eigenen Interessen eine Entscheidung über den Rentenanspruch der Klägerin auch für die Zeit nach dem 1. Juli 1965 zu erwirken. - Die Unterlassung der notwendigen Beiladung stellt einen wesentlichen Mangel im Verfahren dar (vgl. BSG 1, 158), entgegen der Auffassung des LSG war die Berufung zulässig, es hätte ein Sachurteil ergehen müssen (§ 150 Nr. 2 SGG).

Die Frage, wie zu verfahren ist, wenn die Höchstgrenze des § 1270 Abs. 1 Satz 1 RVO nicht überschritten wird, kann hier offen bleiben. Der Senat hat darüber nicht zu befinden.

Die Beiladung kann in der Revisionsinstanz nicht nachgeholt werden (§ 168 SGG). Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben, der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284861

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