Entscheidungsstichwort (Thema)

Berechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage beim Zusammentreffen von Beitrags- und Ausfallzeiten. Fortbestand der Ausfallzeit

 

Orientierungssatz

1. § 1255 Abs 7 S 2 RVO gilt auch für Beitragszeiten aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigung (vgl BSG vom 7.10.1982 - 4 RJ 85/81 = SozR 2200 § 1255 Nr 16 und BSG vom 3.10.1984 - 5b RJ 96/83 = BSGE 57, 163 = SozR 2200 § 1255 Nr 21).

2. Der Fortbestand einer einmal begründeten Ausfallzeit wird durch das spätere Hinzutreten einer Beitragszeit nicht beseitigt (vgl BSG vom 7.10.1982 - 4 RJ 85/81 = SozR 2200 § 1255 Nr 16).

 

Normenkette

RVO § 1255 Abs 7 S 2 Buchst a, § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1 Buchst a

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 11.03.1988; Aktenzeichen L 3 J 252/87)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 05.10.1987; Aktenzeichen S 14 J 40/87)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt, bei der ihm gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente die Monate Dezember 1972 und Januar 1973 als Ausfallzeit und nicht als Beitragszeit zu berücksichtigen.

Der 1932 geborene Kläger war während seines Versicherungslebens ua vom 10. Oktober 1972 bis zum 2. November 1973 arbeitsunfähig erkrankt. Für die Zeit vom 25. Dezember 1972 bis 1. Januar 1973 wurde ihm ein Lohnausgleich nach der Tarifvereinbarung für das Baugewerbe gezahlt.

Der Kläger erhielt von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bis zum 30. April 1987 (Bescheid vom 17. September 1986). Die Beklagte berücksichtigte die Monate Dezember 1972 und Januar 1973 als Beitragszeit, während der Kläger sie als Ausfallzeit angesehen wissen wollte. Die Beklagte errechnete, daß die Rente des Klägers um 6,00 DM monatlich höher wäre, wenn die strittigen Monate als Ausfallzeit angesehen würden.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Oktober 1987). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 11. März 1988). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) habe bereits in seinem Beschluß vom 9. Dezember 1975 (SozR 2200 § 1259 Nr 13) entschieden, der nach dem Lohnausgleichs-Tarifvertrag gezahlte Lohnausgleich sei beitragspflichtiges Entgelt und bewirke eine Beitragszeit, die begrifflich das Bestehen einer Ausfallzeit ausschließe. Bei den nach dem Lohnausgleichs-Tarifvertrag entrichteten Pflichtbeiträgen handele es sich nicht um Beiträge iS des § 1255 Abs 7 Reichsversicherungsordnung (RVO). Für den Anwendungsbereich des § 1255 Abs 7 RVO kämen nur bestimmte Beiträge in Betracht, zB freiwillig entrichtete Beiträge oder Beiträge, die lediglich formal als Pflichtbeiträge entrichtet worden seien, obwohl eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nicht vorgelegen habe.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts vom 5. Oktober 1987 und die Bescheide der Beklagten vom 17. September 1986 und 2. April 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Monate Dezember 1972 und Januar 1973 als Ausfallzeit bei der Rentenberechnung des Klägers zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Dem Kläger sind die Monate Dezember 1972 und Januar 1973 als Ausfallzeit bei der Berechnung seiner Rente zu berücksichtigen.

Diese Rechtsfolge ergibt sich aus § 1255 Abs 7 Satz 2 Buchst a RVO. Nach dieser Vorschrift sind -ua- die während einer anzurechnenden Ausfallzeit entrichteten Beiträge bei Anwendung der Abs 1 und 3, dh bei der Errechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage außer Ansatz zu lassen, wenn dies eine höhere Rente ergibt.

§ 1255 Abs 7 Satz 2 RVO ist in seiner ursprünglichen Fassung durch das 1. Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (1. RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) in die RVO eingefügt worden. Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. Februar 1983 (SozR 2200 § 1255 Nr 17) Rechnung tragend (vgl BR-Drucks 523/84 S 12), wurde diese gesetzliche Bestimmung durch das Rentenanpassungsgesetz 1985 vom 5. Juni 1985 (BGBl I 913) in die heutige Fassung gebracht. Durch die Änderung von 1985 wurde im Gesetzestext klargestellt, was schon vorher rechtens gewesen war, nämlich daß bei Zusammentreffen von Beitrags- und Ausfallzeiten die günstigere Zeit berücksichtigt werden solle. § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO dient der Beseitigung von Härten bei der Bewertung beitragsloser Zeiten. Die Vorschrift soll ein Absinken des für die Berechnung der persönlichen Bemessungsgrundlage maßgebenden Vomhundertsatzes vermeiden (vgl BT-Drucks IV 3233 S 4, 5) und die Rentenberechtigten so vor den wirtschaftlichen Nachteilen bewahren, die ihnen aus einer Rentenberechnung unter ausnahmsloser Berücksichtigung der geleisteten Beiträge entstehen würden (vgl BT-Drucks IV 2572). Primär war dabei an die zahlreichen Arbeitslosen der frühen dreißiger Jahre mit den zur Erhaltung ihrer Rentenanwartschaft erforderlichen niedrigsten Beiträge gedacht, ebenso an die Pflichtbeiträge der Berliner Studenten. Doch ist der Anwendungsbereich des § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO nicht auf diese Personengruppen beschränkt. Die aus § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO hervorgehende gesetzgeberische Absicht entspricht der auch sonst erkennbaren Systematik der Rentenversicherung, die regelmäßig vorrangigen Beitragszeiten (vgl § 1258 Abs 1 RVO) unter bestimmten - von den Versicherten nicht zu vertretenden - Voraussetzungen durch Anrechnung zusätzlicher - beitragsloser - Zeiten zu ergänzen und die Versicherten auf diese Weise dort zu begünstigen, wo sie schicksalhaft an der Beitragsleistung gehindert waren. Versicherte mit niedrigen Beiträgen während einer Ausfallzeit sollen nicht schlechter gestellt werden als Versicherte ohne Beitragsleistungen während der Ausfallzeit. Das BSG hat deshalb bereits wiederholt entschieden, daß § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO auch für Beitragszeiten aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigung zu gelten hat (vgl Urteil des 4. Senats vom 7. Oktober 1982 in SozR 2200 § 1255 Nr 16 und Urteil des erkennenden Senats vom 3. Oktober 1984 in BSGE 57, 163 = SozR 2200 § 1255 Nr 21).

Der Kläger hatte im Dezember 1972 und im Januar 1973 sowohl Beitragszeiten wie auch Ausfallzeiten zurückgelegt.

Er war nach den Feststellungen des LSG im Dezember 1972 und im Januar 1973 arbeitsunfähig krank. Die Erkrankung dauerte vom 10. Oktober 1972 bis zum 2. November 1973. Nach § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1a RVO lag damit eine Ausfallzeit vor. Die Beteiligten und die Vorgerichte gehen in tatsächlicher Hinsicht davon aus, daß der Anrechenbarkeit dieser Ausfallzeiten nichts entgegensteht (§ 1259 Abs 3 RVO). Daneben sind die Monate Dezember 1972 und Januar 1973 für den Kläger auch Beitragszeiten. In beiden Monaten erhielt er einen Lohnausgleich nach der Tarifvereinbarung für das Baugewerbe. Die Entrichtung von Pflichtbeiträgen aufgrund eines nach einem Tarifvertrag zur Aufrechterhaltung der Beschäftigungsverhältnisse im Baugewerbe während der Wintermonate gezahlten Lohnausgleichs bewirkt die Entstehung einer Beitragszeit (BSGE 41, 41 = SozR 2200 § 1259 Nr 13). Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 3. Oktober 1984 aaO bereits dargelegt hat, bedeutet das aber nicht, daß deshalb keine anrechenbare Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1a RVO entstanden sein kann. Wie gezeigt können Beitragszeiten und Ausfallzeiten nebeneinander bestehen, wovon die in § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO getroffene Regelung gerade ausgeht. Der Fortbestand einer einmal begründeten Ausfallzeit wird durch das spätere Hinzutreten einer Beitragszeit nicht beseitigt (so bereits BSG-Urteil vom 7. Oktober 1982 aaO).

Von dem Sachverhalt, den der Große Senat 1975 (BSGE 41, 41 = SozR 2200 § 1259 Nr 13) zu beurteilen hatte, unterscheidet sich der vorliegende schon deshalb, weil es dort nicht zu einer Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung um mindestens einen Kalendermonat gekommen ist, was die Berücksichtigung einer Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1 RVO in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung ohnehin ausschloß. Hier war indes der Kläger bereits seit 10. Oktober 1972 und damit mehr als einen Monat arbeitsunfähig erkrankt, als er für die Zeit vom 25. Dezember 1972 bis 1. Januar 1973 beitragspflichtig wurde. Auf diesen entscheidenden Unterschied hat der Senat bereits im Urteil vom 3. Oktober 1984 aaO hingewiesen. Der Beschluß des Großen Senats des BSG vom 9. Dezember 1975 (BSGE 41, 41 = SozR 2200 § 1259 Nr 13), auf den das LSG seine Entscheidung gestützt hat, ist auch angesichts des Beschlusses des BVerfG vom 8. Februar 1983 (SozR 2200 § 1255 Nr 17) überholt. Der Große Senat des BSG hatte in seiner Begründung wesentlich darauf abgestellt, es sei undenkbar, daß § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO zu einer Geltung des Günstigkeitsprinzips führe (SozR 2200 § 1259 Nr 13 S 51, 52), wohingegen das BVerfG gerade die Berücksichtigung der für den Versicherten günstigsten Zeit für allein mit Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) vereinbar gehalten hat. Das hat zu der heutigen Fassung des § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO geführt, die eine Vergleichsberechnung verlangt, welche der Große Senat des BSG noch für ausgeschlossen gehalten hat. Die Vergleichsberechnung zeigt aber gerade, daß beide Zeitarten (Beitragszeiten und Ausfallzeiten) nebeneinander bestehen.

Durch die Neufassung des § 1259 Abs 1 RVO mit Wirkung ab 1. Januar 1984 aufgrund des Art 1 Nr 38 des Haushaltbegleitgesetzes 1984 (HBegleitG 1984) vom 22. Dezember 1983 (BGBl I 1532) ist insoweit allerdings - anders als die Revision meint - keine Änderung eingetreten. Jedenfalls für den hier anzuwendenden § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 1a RVO ist die fehlende Absicht des Gesetzgebers, sachliche Änderungen für die Zeit vor 1984 einzuführen aus der Begründung des Entwurfs des HBegleitG 1984 zu entnehmen (vgl BSG-Urteil vom 27.2.90 - 5 RJ 67/88 -). Dort heißt es (BT-Drucks 10/335 S 73 zu Nr 34): "Von Buchst a) werden grundsätzlich die Zeiten bis Ende 1983 erfaßt, wobei die Voraussetzungen dem bisher geltenden Recht entsprechen."

Da nach den Feststellungen des LSG für den Kläger die Berücksichtigung der Monate Dezember 1972 und Januar 1973 als Ausfallzeit günstiger ist, sind dem Kläger gemäß § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO diese Zeiten als Ausfallzeiten gutzubringen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650917

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