Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Betreuungspflicht des Rentenversicherungsträgers, wenn der Versicherte die Berücksichtigung der im Rentenantrag geltend gemachten Ersatzzeiten gemäß ArVNG Art 2 § 9a Abs 2 (Aufgabe der selbständigen Tätigkeit vor Eintritt des Versicherungsfalles) nur durch die Bestimmung eines späteren Zeitpunktes iS von RVO § 1248 Abs 6 erreichen kann (Weiterführung von BSG 1978-04-25 5 RJ 18/77 = SozR 2200 § 1290 Nr 11 und BSG 1979-06-20 5 RKn 16/78).

 

Normenkette

RVO § 1248 Abs. 6 Fassung: 1972-10-16, §§ 1251, 1300; ArVNG Art. 2 § 9a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; SGB 1 § 13 Fassung: 1975-12-11, § 14 Fassung: 1975-12-11, § 15 Abs. 2 Fassung: 1975-12-11

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 08.11.1977; Aktenzeichen L 16 Ar 53/77)

SG Landshut (Entscheidung vom 03.08.1976; Aktenzeichen S 4 Ar 278/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. November 1977 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 3. August 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Altersruhegeldes, insbesondere darüber, ob die Zeiten des Wehr- und Kriegsdienstes als Ersatzzeiten anrechenbar sind.

Die Beklagte gewährte dem am 17. Januar 1900 geborenen Kläger, der ein selbständiges Handelsgewerbe betrieben und ausschließlich freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter für die Zeit vom 1. Januar 1956 bis zum 31. Dezember 1972 nachentrichtet hat, auf seinen Antrag vom 19. November 1973 mit Bescheid vom 10. Juni 1974 das Altersruhegeld für die Zeit vom 1. Dezember 1973 an. In diesem Bescheid kündigte die Beklagte über die Anrechnung der Kriegsdienstzeit einen gesonderten Bescheid an. Mit Schreiben vom 11. November 1974 teilte die Beklagte dem Kläger mit, die Voraussetzungen des Art 2 § 9a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) und des § 1251 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Anrechnung der Wehr- und Kriegsdienstzeiten seien nicht erfüllt, da der Kläger nach wie vor eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübe. Diese Zeiten könnten deshalb "vorerst" nicht berücksichtigt werden. Die Beklagte empfahl dem Kläger, nach Aufgabe der selbständigen Tätigkeit eine nochmalige Überprüfung zu beantragen. Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 9. Dezember 1974 die Aufgabe seines selbständigen Gewerbes zum 1. Dezember 1974 mitgeteilt hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Februar 1975 die Neufeststellung des Altersruhegeldes ab, weil der Kläger die selbständige Erwerbstätigkeit erst nach dem am 15. November 1973 eingetretenen Versicherungsfall aufgegeben habe. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 3. August 1976 den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1975 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Altersruhegeld des Klägers vom 1. Januar 1975 an unter Berücksichtigung der vom Kläger zurückgelegten Ersatzzeiten neu zu berechnen. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die im Rahmen des § 1300 RVO ergangene Entscheidung der Beklagten sei nicht zu beanstanden, denn die Beklagte habe die ihr eingeräumten Grenzen des Ermessens nicht verlassen und daher nicht rechtswidrig gehandelt. Da keine Pflichtversicherungsbeiträge vorlägen, könnten die Ersatzzeiten nicht nach § 1251 RVO angerechnet werden. Auch Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG rechtfertige den Anspruch des Klägers nicht. Es beständen zwar gewisse Bedenken, ob diese Vorschrift verfassungsgemäß zustandegekommen sei. Diese Frage könne aber dahingestellt bleiben, denn sowohl im Falle der Ungültigkeit als auch im Falle der Gültigkeit habe der Kläger keinen Anspruch auf Anrechnung von Ersatzzeiten. Im Falle der Ungültigkeit fehle es an jeder Anspruchsgrundlage. Im Falle der Gültigkeit seien die Voraussetzungen der Vorschrift nicht erfüllt. Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG sei eine ausgesprochene Übergangsregelung zu § 1251 RVO mit einem rentenversicherungsrechtlichen Ausnahmecharakter. Diese rentenversicherungsrechtliche Verknüpfung der Bestimmung zeige, daß sie nur solche Selbständige begünstigen wolle, die ihre Selbständigkeit bereits vor Eintritt des Versicherungsfalles aufgegeben hätten. Da der Kläger den selbständigen Gewerbebetrieb erst nach Eintritt des Versicherungsfalles aufgegeben habe, könnten die Wehr- und Kriegsdienstzeiten nicht als Ersatzzeiten angerechnet werden.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, es handele sich nicht um eine Neufeststellung nach § 1300 RVO; denn die Beklagte habe in ihrem Rentenfeststellungsbescheid vom 10. Juni 1974 eine gesonderte Entscheidung über die Ersatzzeiten angekündigt. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 1975 sei daher voll nachprüfbar. Die zurückgelegten Wehr- und Kriegsdienstzeiten seien nach Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG anrechenbar. Diese Vorschrift verlange nicht, daß die selbständige Erwerbstätigkeit bereits vor Eintritt des Versicherungsfalles aufgegeben worden sei. Das Gesetz bestimme im allgemeinen ausdrücklich, wann ein nach Eintritt des Versicherungsfalles eingetretener Tatbestand nicht berücksichtigt werden könne. Enthalte das Gesetz eine solche Sperrvorschrift nicht, so müsse - wie auch im Falle des § 1262 RVO - der nach Eintritt des Versicherungsfalles eingetretene Tatbestand für die Rentenhöhe berücksichtigt werden.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. Februar 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. April 1975 zu verurteilen, die vom Kläger zurückgelegten Ersatzzeiten mit Wirkung vom 1. Januar 1975 gemäß Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG iVm § 1290 Abs 2 RVO rentensteigernd zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers hat auch Erfolg. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht das der Klage stattgebende erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Kläger hat - wie das SG im Ergebnis zutreffend entschieden hat - jedenfalls für die Zeit vom 1. Januar 1975 an einen Anspruch auf ein höheres als das festgestellte Altersruhegeld unter Berücksichtigung der zurückgelegten Ersatzzeiten.

Dem Kläger ist darin zuzustimmen, daß es sich bei dem angefochtenen Bescheid vom 10. Februar 1975 - im Gegensatz zu der Ansicht des LSG - nicht um einen Neufeststellungsbescheid handelt, der nur in den Grenzen des § 1300 RVO nachprüfbar ist. Da die Beklagte in ihrem Rentenfeststellungsbescheid vom 10. Juni 1974 über die Anrechenbarkeit der Wehr- und Kriegsdienstzeiten nicht entschieden, sondern darüber einen gesonderten Bescheid angekündigt hat, ist der Bescheid vom 10. Juni 1974 hinsichtlich der Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten und damit insoweit auch hinsichtlich der Rentenhöhe nicht bindend geworden. Die Beklagte hat erstmalig mit Bescheid vom 10. Februar 1975 über die Anrechnung von Ersatzzeiten entschieden, so daß dieser Bescheid in vollem Umfang nachprüfbar ist, ohne daß es auf die Überzeugung der Beklagten ankommt.

Das LSG ist an sich zutreffend davon ausgegangen, daß die geltend gemachten Wehr- und Kriegsdienstzeiten weder nach § 1251 RVO noch nach Art 2 § 9a ArVNG anrechenbar sind. Zwar handelt es sich dabei um Ersatzzeiten im Sinne des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO. Da jedoch die Voraussetzungen des § 1251 Abs 2 RVO nicht vorliegen, worüber kein Streit besteht, können sie nach dieser Vorschrift nicht als Versicherungszeiten angerechnet werden. Die Voraussetzungen des § 1251 Abs 2 RVO gelten auch nicht nach Art 2 § 9a Abs 1 ArVNG als erfüllt, denn auch die Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift sind unbestritten nicht gegeben. Schließlich sind die Ersatzzeiten - bei bloßer Berücksichtigung des Zeitpunkts der Aufgabe des selbständigen Gewerbes - auch nicht nach Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG anrechenbar.

Die streitige Frage, ob eine Ersatzzeit nach dieser Vorschrift angerechnet werden kann, wenn der Versicherte die selbständige Erwerbstätigkeit erst nach Eintritt des Versicherungsfalles aufgegeben hat, ist inzwischen durch den Gesetzgeber geklärt worden. Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG ist durch Art 2 § 4 Nr 1 des 21. Rentenanpassungsgesetzes (RAG) neu gefaßt worden. Danach ist - im Einklang mit der von der Beklagten im angefochtenen Bescheid und vom LSG vertretenen Auffassung - Voraussetzung für die Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten die Aufgabe der selbständigen Erwerbstätigkeit vor Eintritt des Versicherungsfalles. Nach Art 4 § 3 des 21. RAG ist die Neufassung des Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG mit Wirkung vom 19. Oktober 1972 in Kraft getreten und erfaßt daher auch den vorliegenden Fall. Gegen das rückwirkende Inkrafttreten dieser Regelung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl Urteil des BSG vom 14. Dezember 1978 - 1 RA 7/78 -). Damit sind auch die Bedenken gegen das verfassungsmäßige Zustandekommen des Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG in seiner ursprünglichen, durch das Rentenreformgesetz (RRG) eingeführten Fassung gegenstandslos. Da der Kläger keinen anderen Zeitpunkt für den Eintritt des Versicherungsfalles bestimmt hat, wozu er nach § 1248 Abs 6 RVO berechtigt gewesen wäre, ist die Beklagte in ihrem Rentenfeststellungsbescheid vom 10. Juni 1974 von dem Eintritt des Versicherungsfalles am 15. November 1973 ausgegangen. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger die selbständige Erwerbstätigkeit noch nicht aufgegeben, so daß die Tatbestandsmerkmale des Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG nicht erfüllt sind.

Gleichwohl hat der Kläger gegen die Beklagte - jedenfalls für die beantragte Zeit vom 1. Januar 1975 an - einen Anspruch auf ein höheres als das festgestellte Altersruhegeld unter Berücksichtigung der Ersatzzeiten. Der erkennende Senat hat - in Übereinstimmung mit den übrigen Senaten des BSG - bereits mehrfach entschieden, daß der Versicherungsträger aus konkretem Anlaß - insbesondere bei bereits laufendem Rentenfeststellungsverfahren - verpflichtet ist, den Versicherten auf Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die klar zutage getreten, also für den Versicherungsträger erkennbar geworden sind und zweckmäßigerweise von jedem vernünftigen Versicherten genutzt werden (vgl BSG SozR 2200 § 1290 Nr 11 mit weiteren Nachweisen und Urteil vom 20. Juni 1979 - 5 RKn 16/78 -). Für die Beklagte war bereits aufgrund des im November 1973 gestellten Rentenantrags erkennbar, daß der Kläger Wert auf die Anrechnung der Ersatzzeiten legte und daß er auch die Möglichkeit hatte, das durch entsprechendes Verhalten zu erreichen. Der Kläger hätte - bei entsprechendem Hinweis durch die Beklagte - den Versicherungsfall gemäß § 1248 Abs 6 RVO auf einen späteren Zeitpunkt verlegen und vorher die selbständige Erwerbstätigkeit aufgeben können. In diesem Falle hätte er die Voraussetzungen des Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG erfüllt, so daß die Ersatzzeiten anrechenbar gewesen wären. Auf diese klar zutage tretende und erkennbare Gestaltungsmöglichkeit hätte die Beklagte den Kläger vor Erteilung des Rentenfeststellungsbescheides hinweisen müssen. Daß der Kläger die Möglichkeit zur Erlangung der Ersatzzeiten genutzt hätte, geht daraus hervor, daß er die selbständige Erwerbstätigkeit unverzüglich aufgegeben hat, nachdem die Beklagte ihn erstmals mit Schreiben vom 11. November 1974 auf diese Notwendigkeit hingewiesen hatte. Die Beklagte hat deshalb den Zustand herzustellen, der bestanden hätte, wenn sie ihrer Verpflichtung nachgekommen wäre, den Kläger auf die bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen. Zwar ist davon auszugehen, daß bis zu dem gebotenen Hinweis auf die bestehenden rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten und darüber hinaus bis zur Nutzung durch den Kläger eine gewisse Zeit verstrichen wäre. Der Kläger hätte jedoch die Möglichkeit gehabt, die Voraussetzungen für die Anrechnung der Ersatzzeiten jedenfalls zum 1. Januar 1975 zu schaffen, so daß die Anrechnung der Ersatzzeiten spätestens zu dem beantragten Zeitpunkt gerechtfertigt ist.

An diesem Ergebnis ändert sich auch dadurch nichts, daß im Zeitpunkt der Rentenantragstellung durch den Kläger aufgrund der ursprünglichen Fassung des Art 2 § 9a Abs 2 ArVNG noch nicht höchstrichterlich geklärt war, ob die Aufgabe der selbständigen Tätigkeit erst nach Eintritt des Versicherungsfalles der Anrechnung von Ersatzzeiten nach dieser Vorschrift entgegensteht. Ganz abgesehen davon, daß diese Frage im Schrifttum von Anfang an bejaht worden ist (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S 674 b; Koch/Hartmann/v.Altrock/Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, Kommentar, S V 257/172), wäre die Beklagte damals gerade im Hinblick auf das Fehlen einer diese Auffassung bestätigenden höchstrichterlichen Rechtsprechung verpflichtet gewesen, den Kläger - zumindest vorsorglich - auf die Gestaltungsmöglichkeit durch Verlegung des Versicherungsfalles im Sinne des § 1248 Abs 6 RVO hinzuweisen (vgl hierzu auch Urteil des erkennenden Senats vom 20. Juni 1979 aaO).

Der Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers das Berufungsurteil aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des SG zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654910

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