Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 04.10.1989)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. Oktober 1989 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Der 1935 geborene Kläger war nach dem Hauptschulabschluß zunächst in der Landwirtschaft tätig. Im Juni 1951 begann er eine Lehre als Schlosser, die er im September 1952 abbrach. Vom 2. Januar 1962 bis 30. Juni 1962 hat der Kläger an einem Lehrgang für Metallverarbeitung, der 1196 Unterrichtsstunden umfaßte, teilgenommen. Im Anschluß daran war der Kläger als Schlosser beschäftigt, machte sich in den Jahren 1974 und 1975 vorübergehend mit einem eigenen LKW-Betrieb selbständig und war danach – unterbrochen durch eine kurzfristige selbständige Tätigkeit mit einem Zwischenhandel mit gebrauchten Maschinen und Werkzeugen im Jahre 1982 – bis zum 7. März 1983 wieder als Schlosser beschäftigt. Seitdem ist er durchgehend arbeitsunfähig. Seinen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen BU vom 6. Februar 1984 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 13. Juni 1984 und Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 1984).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage des Klägers mit Urteil vom 6. Januar 1987 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 4. Oktober 1989 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, ab 1. März 1984 Rente wegen BU zu gewähren. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Aufgrund seines eingeschränkten Leistungsvermögens könne der Kläger die Tätigkeit eines Maschinenschlossers/Schlossers nicht mehr ausüben, da ihm nur noch leichte körperliche Arbeiten zugemutet werden könnten. Er könne nicht auf die Tätigkeiten eines Anlagenüberwachers oder eines Kontrolleurs verwiesen werden. Die Tätigkeit eines Qualitätskontrolleurs setze eine Einarbeitungszeit von mehr als einem Jahr bei Betriebsfremden voraus, da diese entsprechende Kenntnisse des Betriebsablaufs, der Fertigungsmöglichkeiten und des verwendeten Materials benötigten. Dasselbe gelte auch für die Verweisungstätigkeit des Anlagenüberwachers. Darüber hinaus sei beim Kläger zu berücksichtigen, daß er seit 1983 nicht im Metallbereich gearbeitet habe. Die Tätigkeit eines Werkzeugausgebers oder Magaziners scheide aus gesundheitlichen Gründen aus, da diese Tätigkeiten auch mit Bücken, Heben und Tragen verbunden seien und nicht überwiegend im Sitzen ausgeübt würden. Außerdem sei eine solche Arbeit auch mit Besteigen von Leitern oder Gerüsten verbunden, um an die Regale mit den Materialien zu gelangen. Dasselbe gelte für Tätigkeiten eines Hausmeisters oder Hausverwalters. Für die Tätigkeit im Bereich von Informationsständen in Kaufhäusern, Betrieben oder Behörden könne vielleicht eine Einarbeitungszeit von drei Monaten ausreichend sein. Hierbei handele es sich aber um ungelernte Tätigkeiten, auf die der Kläger nicht zumutbar verwiesen werden könne.

Gegen dieses Urteil richtet sich die – vom LSG zugelassene – Revision der Beklagten. Sie rügt Verfahrensfehler sowie eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits nicht zu.

Ein Verstoß gegen § 1246 Abs 2 RVO liegt aber nicht vor, soweit das LSG den Bereich der in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten abstrakt bestimmt hat.

Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum bisherigen Beruf. Von diesem aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen.

Hierzu hat die Rechtsprechung ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in verschiedene Leitberufe untergliedert, nämlich diejenigen des „Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion” bzw des „besonders hoch qualifizierten Facharbeiters”, des „Facharbeiters” (anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Ausbildungszeit von mindestens zwei Jahren), des „angelernten Arbeiters” (sonstige Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von weniger als zwei Jahren) und des „ungelernten Arbeiters” (zum sogenannten Mehrstufenschema vergleiche die Urteile des erkennenden Senats vom 9. September 1986 – 5b RJ 82/85 – SozR 2200 Nr 140 sowie zuletzt vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 82/89 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Grundsätzlich darf der Versicherte lediglich auf Tätigkeiten der jeweils niedrigeren Gruppe verwiesen werden, soweit sie ihn weder nach seinem beruflichen Können und Wissen noch hinsichtlich seiner gesundheitlichen Kräfte überfordern (vgl Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 24. März 1983 – 1 RA 15/82BSGE 55, 45, 46f = SozR 2200 § 1246 RVO Nr 107; Urteil vom 2. Dezember 1987 – 1 RA 11/86 –).

Die berufliche Qualifikation des Klägers ist nach den Feststellungen des LSG als Maschinenschlosser/Schlosser die eines Facharbeiters. Als Facharbeiter ist der Kläger nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ua nicht auf Tätigkeiten verweisbar, die eine Ausbildung oder betriebliche Einweisung und Einarbeitung von mehr als drei Monaten erfordern, solange die Einweisung und Einarbeitung noch nicht abgeschlossen ist (vgl BSG, Urteil vom 28. November 1978 – 5 RKn 10/77 – SozR 2200 § 1246 RVO Nr 36; Urteile des erkennenden Senats vom 30. September 1987 – 5b RJ 20/86 – SozR aaO Nr 147 und Urteil vom 17. November 1987 – 5b RJ 10/87 – SozR aaO Nr 152).

Von diesem in ständiger Rechtsprechung aller für Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiete der Arbeiterrentenversicherung zuständigen Senate des BSG entwickelten Grundsatz abzugehen, sieht der Senat im vorliegenden Fall keinen Anlaß. Die Revision spricht sich für eine „Fortführung” dieser Rechtsprechung dahingehend aus, daß das Vorliegen von Berufsunfähigkeit bei einem Facharbeiter, der seinen erlernten und bisher ausgeübten Beruf nicht mehr verrichten könne, nur dann bejaht werden dürfe, wenn der Versicherte auch auf keine Tätigkeit mit einer Einarbeitungszeit von mehr als drei Monaten verwiesen werden könne. Die Gründe, aus denen die Beklagte eine Fortführung der bisherigen Rechtsprechung für erforderlich hält, sind ihrer Meinung nach folgende: Einarbeitungszeiten von bis zu drei Monaten würden den Anforderungen an die heutige technische Arbeitswelt nicht mehr gerecht werden. Eine Einarbeitungszeit von drei Monaten entspreche angesichts der veränderten Arbeitsqualifikationen in den hier in Frage stehenden Bereichen (in der metallbearbeitenden und -verarbeitenden Industrie die Bereiche Kontrolle, Güteprüfung und Anlagenüberwachung) nicht mehr der Wirklichkeit, so daß die Rechtsprechung, die im Rahmen der Verweisung eine zeitliche Einarbeitungszeitgrenze von bis zu drei Monaten für ausreichend und zumutbar erachte, von der Realität der technischen Arbeitswelt überholt sei. Die geforderte Einarbeitungszeit von höchstens drei Monaten gebe es in der Praxis nicht.

Diese Argumente vermögen die Gründe nicht zu widerlegen, aus denen für einen bisherigen Facharbeiter die berufliche Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit auf solche begrenzt worden ist, bei denen die für ihn – unter Beachtung seiner (beruflichen) Kenntnisse und Fähigkeiten – erforderliche Einarbeitungszeit höchstens drei Monate beträgt. Die zeitliche Begrenzung der Einarbeitung auf drei Monate für Verweisungstätigkeiten soll sicherstellen, daß der Versicherte nur auf solche Tätigkeiten verwiesen wird, die mit seinem erlernten und ausgeübten Beruf der Sache nach verwandt sind und in einem Näheverhältnis dazu stehen. Eine Verweisung ist dem Versicherten nur dann beruflich zumutbar, wenn er sich in verhältnismäßig kurzer Zeit (drei Monate) für die neue Tätigkeit qualifizieren kann. Längere Einarbeitungszeiten können kein „Anlernen” mehr bedeuten, sondern kommen einer neuen Ausbildung gleich. Diese zu absolvieren, ist der Versicherte nach § 1246 Abs 2 RVO aber gerade nicht verpflichtet. Letztlich bedeutet eine Verlängerung der dreimonatigen Einarbeitungszeit auch eine Aufgabe des Mehrstufenschemas, da andernfalls die gebotene Unterscheidung innerhalb des Verweisungsrahmens für Versicherte mit dem bisherigen Beruf des Facharbeiters und des angelernten Arbeiters nicht mehr gewährleistet ist.

Das LSG ist ebenfalls rechtlich zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger bei seiner gegebenen gesundheitlichen Leistungseinschränkung nicht auf die Tätigkeit eines Werkzeugausgebers oder Magaziners verwiesen werden kann. Unzutreffend ist die Ansicht der Beklagten, diese Entscheidung beruhe auf Tatsachenfeststellungen, die, unter Verstoß gegen § 128 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zustandegekommen sind. Insoweit bedarf es keiner Begründung (§ 170 Abs 3 Satz 1 SGG).

Abschließend läßt sich jedoch nicht beurteilen, ob dem Kläger die Rente wegen BU zusteht. Denn gegen die im wesentlichen auf die Aussagen der berufskundlichen Sachverständigen W. … und M. … gegründeten Feststellungen des LSG, der Kläger könne auch nicht auf Tätigkeiten eines Fertigungs- oder Qualitätskontrolleurs verwiesen werden, sind zulässige und begründete Revisionsrügen vorgebracht worden.

Gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG entscheidet das Tatsachengericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das schließt das Recht auf freie richterliche Beweiswürdigung ein (BSG, Urteil vom 27. Mai 1959 – 9 RV 428/56BSGE 10, 46, 48). Es darf dabei aber einem Gutachten in der Entscheidung nicht folgen, ohne sich mit den Gegengründen eines anderen Gutachtens nachprüfbar auseinanderzusetzen (BSG, Urteil vom 17. Juli 1958 – 11/8 RV 1205/56 – SozR Nr 3 zu § 128 SGG; Urteil vom 10. Dezember 1987 – 9a RV 36/85 – SozR 1500 § 128 SGG Nr 31). Auch darf ein Sachverständigengutachten nicht unberücksichtigt bleiben, sondern muß in die Würdigung des Gerichts einbezogen werden (Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl 1987, RdNr 13 zu § 128 SGG). Diese Pflicht besteht dabei nicht nur, soweit es sich um Gutachten handelt, die vom Gericht eingeholt worden sind. Das Gericht ist auch verpflichtet, solche Sachverständigengutachten in die Beweiswürdigung einzubeziehen, die von einer Partei beigebracht werden (sog Privatgutachten), wie es die Beklagte mit dem Gutachten des Sachverständigen S. … getan hat.

Davon ist das LSG erkennbar auch ausgegangen. Es hat aber gemeint, sich mit den Aussagen des Sachverständigen S. … wegen der besonderen Sozialstrukturen der Firma K. … nicht auseinandersetzen zu müssen. Die besonderen Sozialstrukturen der Firma K. … hat das LSG aufgrund eigener Sachkunde (Gerichtskunde) festgestellt. Dabei hat es den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör (§§ 62, 128 Abs 2 SGG) verletzt, was diese zu Recht rügt. Wenn das Gericht eigene Gerichtskunde bei der Urteilsfindung berücksichtigt, muß für die Beteiligten die Grundlage für die Sachkunde (Gerichtskunde) ersichtlich sein. Das Gericht muß darlegen, worauf seine Sachkunde (Gerichtskunde) beruht, damit die Beteiligten Stellung nehmen können (BSG, Urteil vom 29. November 1985 – 4a RJ 67/85 –; Urteil vom 6. März 1991 – 13/5 RJ 68/89 – sowie Urteile des erkennenden Senats vom 15. Juli 1982 – 5b RJ 86/81 – SozR 1500 § 62 SGG Nr 11; vom 15. Oktober 1986 – 5b RJ 24/86 – SozR aaO Nr 20; vom 16. November 1989 – 5 RJ 58/88 – und zuletzt vom 28. November 1990 – 5 RJ 2/90 –).

Die Beklagte macht zu Recht geltend, daß sie nicht zur angenommenen Gerichtskunde gehört worden sei. Es ist weder aus den Akten noch aus dem Urteil ersichtlich, daß das LSG den Beteiligten seine Gerichtskunde mitgeteilt hat. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß das LSG hinsichtlich der angenommenen Gerichtskunde über die besonderen sozialen Verhältnisse in der Firma K. … und deren Bedeutung für die Ausführungen des Sachverständigen S. … zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, das Gutachten deshalb inhaltlich gewürdigt hätte und dabei zu einem anderen Ergebnis in Bezug auf die Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeit des Prüfers gekommen wäre. Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG auch prüfen müssen, inwiefern besondere soziale Strukturen eines Unternehmens die Bekundungen eines Sachverständigen, der in diesem Unternehmen beschäftigt ist, nicht verallgemeinerungsfähig machen. Weshalb zum Beispiel die Dauer der notwendigen Einarbeitungszeit für eine bestimmte Tätigkeit in einem Unternehmen mit besonderen sozialen Strukturen kürzer sein soll als in anderen Unternehmen, ist nicht ersichtlich.

Da das Revisionsgericht im Hinblick auf die noch erforderlichen Tatsachenfeststellungen nicht selbst entscheiden kann, war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174210

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