Entscheidungsstichwort (Thema)

Zurückverlegung des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit. Vertrauensschutz. kein Vorverfahren für Verfahrensgegenstand nach SGG § 96

 

Leitsatz (amtlich)

Durfte der Versicherte im Zeitpunkt der Bereiterklärung zur Beitragsnachentrichtung und auch zur Zeit der tatsächlichen Nachentrichtung aufgrund eines vom Versicherungsträger erteilten Bescheides davon ausgehen, daß lediglich der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit eingetreten ist, so kann der Versicherungsträger nach erfolgter Nachentrichtung der Beiträge deren Berücksichtigung bei der sodann beantragten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht mit der Begründung ablehnen, die Bereiterklärung zur Beitragsnachentrichtung sei nicht vor Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit abgegeben worden.

 

Orientierungssatz

1. Wird ein Verwaltungsakt kraft Gesetzes (SGG § 96) Gegenstand eines anhängigen Verfahrens, so bedarf es insoweit für die Zulässigkeit der Klage nicht eines Vorverfahrens (vgl BSG 1978-03-21 7/12/7 RAr 58/76 = SozR 4600 § 143d Nr 3).

2. Der erst nach der Beitragsentrichtung erfolgte rückwirkende "Austausch" des Eintritts des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit durch denjenigen der Erwerbsunfähigkeit ist als ein rechtswidriges "venire contra factum proprium" zu beurteilen. Der Versicherungsträger kann nach dem auch im gesamten öffentlichen Recht geltenden allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben die Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge (hier nach WGSVG § 10) bei der nunmehr gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente nicht verweigern.

 

Normenkette

RVO § 1419 Abs 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1419 Abs 2 Fassung: 1957-02-23; WGSVG § 10 Fassung: 1970-12-22; SGG § 96 Abs 1 Fassung: 1953-09-03; BGB § 242

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 11.01.1980; Aktenzeichen L 8 J 133/79)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 31.05.1979; Aktenzeichen S 10 J 175/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der verstorbenen Ehefrau des Klägers zu ihren Lebzeiten eine höhere als die von der Beklagten festgestellte Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zustand, die der Kläger als ihr Rechtsnachfolger geltend machen kann.

Die am 25. Dezember 1921 geborene und am 22. Dezember 1977 verstorbene Ehefrau des Klägers, die bis 1938 in Deutschland gelebt und Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet hatte, mußte 1938 als rassisch Verfolgte nach Argentinien auswandern, wo sie bis zu ihrem Tode lebte. Sie beantragte mit dem am 23. Juli 1974 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben vom 20. Juli 1974 sowohl die Rente wegen "Erwerbsverminderung" als auch die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung. Die Beklagte gewährte ihr aufgrund eines vor dem Sozialgericht (SG) abgegebenen Anerkenntnisses mit Bescheid vom 12. März 1976 die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. August 1974 an.

Auf die Untätigkeitsklage der Antragstellerin erkannte die Beklagte dem Grunde nach das Recht der Klägerin zur Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit vom 1. Januar 1950 bis zum 31. Januar 1971 an. Nachdem die Versicherte die Spezifizierung am 30. Dezember 1976 vorgenommen und am 3. Dezember 1976 den Betrag von 1.440,-- DM eingezahlt hatte, erteilte die Beklagte am 26. Januar 1977 einen Bescheid über die Beitragsnachentrichtung, der den Zusatz enthielt, die nachentrichteten Beiträge könnten lediglich auf den Versicherungsfall des Alters, nicht aber auf den Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit angerechnet werden, da der Antrag nicht vor Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit gestellt worden sei. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg, führte jedoch im Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 1977 zu einer Berichtigung dahingehend, daß der Bescheid vom 26. Januar 1977 lediglich eine Ablehnung der Anrechnung der nachentrichteten Beiträge auf die bewilligte Rente wegen Berufsunfähigkeit und nicht wegen Erwerbsunfähigkeit beinhalte.

Die Ehefrau des Klägers ist während des Verfahrens vor dem SG gestorben. Ihr Ehemann hat dieses Verfahren als ihr Rechtsnachfolger fortgesetzt. Während des Verfahrens vor dem SG gewährte die Beklagte mit dem an den Kläger gerichteten Bescheid vom 30. Oktober 1978 unter Änderung des Bescheides vom 12. März 1976 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. August 1974 an. Bei der Rentenberechnung blieben die nachentrichteten Beiträge unberücksichtigt. Die übliche Rechtsmittelbelehrung enthält den Zusatz, der Bescheid werde gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des schwebenden Klageverfahrens. Das SG hat die Beklagte am 31. Mai 1979 unter Abänderung des Bescheides vom 26. Januar 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 1977 sowie unter Änderung des Bescheides vom 30. Oktober 1978 verurteilt, die am 3. Dezember 1976 nachentrichteten Beiträge - wie im Schriftsatz des Bevollmächtigten vom 30. Dezember 1976 spezifiziert - bei der Berechnung der ab 1. August 1974 gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente zu berücksichtigen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 11. Januar 1980 auf die - vom SG zugelassene - Berufung der Beklagten das Urteil des SG geändert und die Klagen abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Klage gegen den Bescheid vom 30. Oktober 1978 sei wegen Fehlens des vorgeschriebenen Vorverfahrens unzulässig. Es handele sich um einen Zugunstenbescheid nach § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Dieser Bescheid sei nicht nach § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens geworden, denn er habe den angefochtenen Bescheid vom 26. Januar 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Juli 1977 weder abgeändert noch ersetzt. Er sei vielmehr an die Stelle des Bescheides über die Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit getreten und treffe über die Anrechenbarkeit der nachentrichteten Beiträge keine Feststellung. Es sei auch kein Anlaß vorhanden, das Verfahren zur Nachholung des Vorverfahrens auszusetzen, denn die Beklagte habe bei einem für den Kläger günstigen Ausgang dieses Rechtsstreits die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit neu festzustellen. Das SG habe die Beklagte zu Unrecht zur Anrechnung der nachentrichteten Beiträge auf die Erwerbsunfähigkeitsrente verurteilt. Nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) stehe der Eintritt des Versicherungsfalles nur vor Ablauf der ersten 12 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes (1. Februar 1971) der Nachentrichtung nicht entgegen. Die Ehefrau des Klägers habe die Beiträge nach der am 23. Juli 1974 eingetretenen Erwerbsunfähigkeit nachentrichtet. Zwar hätten die Beiträge nach § 10 WGSVG leistungsrechtlich die gleiche Wirkung wie rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Die Anrechenbarkeit auf bereits eingetretene Versicherungsfälle sei aber mit dem in § 10 WGSVG festgesetzten Stichtag abschließend geregelt. Im übrigen folge aus dem entsprechend anwendbaren § 1419 Abs 1 RVO, daß die nach Eintritt des Versicherungsfalles der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nachentrichteten Beiträge nicht auf diese Versicherungsfälle anrechenbar seien. Auch aus § 1419 Abs 2 RVO könne die Anrechenbarkeit nicht hergeleitet werden, denn die Ehefrau des Klägers habe sich nicht vor Eintritt des Versicherungsfalles, sondern gleichzeitig damit zur Nachentrichtung der Beiträge bereit erklärt. Eine eindeutige Bereiterklärung liege auch erst in der späteren Spezifizierung. Entgegen der Ansicht des SG führe auch der Grundsatz des Vertrauensschutzes zu keinem anderen Ergebnis, denn die Beklagte habe ihre frühere - gegenteilige - Verwaltungsübung bereits im Jahre 1973 durch ein entsprechendes Hinweisblatt geändert.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, der Bescheid der Beklagten vom 30. Oktober 1978 über die Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Die nachentrichteten Beiträge müßten auf die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit angerechnet werden.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts

die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des

Sozialgerichts zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers hat auch Erfolg. Das LSG hat zu Unrecht die Klagen abgewiesen.

Das LSG ist unzutreffend davon ausgegangen, die Klage gegen den Bescheid vom 30. Oktober 1978 sei wegen des insoweit fehlenden Vorverfahrens unzulässig. Gegenstand des Verfahrens vor dem SG war zunächst der Bescheid vom 26. Januar 1977, der neben dem Verfügungssatz über die Beitragsnachentrichtung noch einen weiteren Verfügungssatz über die Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge enthielt. Angefochten war nur dieser zweite Verfügungssatz, mit dem die Beklagte faktisch eine Änderung des Bescheides vom 12. März 1976 insoweit ablehnte, als es sich um die Rentenhöhe und die Anrechnung der nachentrichteten Beiträge handelte. Dieser Bescheid enthielt insoweit keinen negativen "Zugunstenbescheid" iS des § 1300 RVO, sondern war ein selbständiger Zweitbescheid, mit dem ein neu eingetretener Tatbestand geregelt wurde. Angefochten war also die in diesem Bescheid enthaltene Feststellung der Höhe der Berufsunfähigkeitsrente. Da der Bescheid der Beklagten vom 30. Oktober 1978 den Bescheid über die Gewährung der Berufsunfähigkeitsrente aufhob und ersetzte, trat er zwangsläufig auch an die Stelle des zweiten Verfügungssatzes in dem bereits angefochtenen Bescheid vom 26. Januar 1977. Die darin enthaltene Regelung über die Höhe der Berufsunfähigkeitsrente wurde hinfällig, auch wenn der Bescheid vom 30. Oktober 1978 keine ausdrückliche Feststellung über die Nichtanrechenbarkeit der nachentrichteten Beiträge enthält. Wird ein Verwaltungsakt kraft Gesetzes (§ 96 SGG) Gegenstand eines anhängigen Verfahrens, so bedarf es insoweit für die Zulässigkeit der Klage nicht eines Vorverfahrens (vgl Bundessozialgericht (BSG) in SozR Nr 16 zu § 96 und SozR 4600 § 143d Nr 3; BSGE 4, 24, 26). Die Klage ist also auch insoweit zulässig, als sie sich gegen die im Bescheid vom 30. Oktober 1978 festgestellte Rentenhöhe richtet.

Der Kläger hat auch als Rechtsnachfolger seiner verstorbenen Ehefrau - wie das SG im Ergebnis mit Recht erkannt hat - für die Zeit vom 1. August 1974 an einen Anspruch auf eine höhere als die festgestellte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge. Weder § 10 WGSVG noch der darin für entsprechend anwendbar erklärte § 1419 RVO enthalten eine ausdrückliche Bestimmung darüber, von welchem Zeitpunkt an die nachentrichteten Beiträge bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sind.

Beide Vorschriften regeln nur die Berechtigung zur Nachentrichtung von Beiträgen, sagen also nicht unmittelbar etwas über den Zeitpunkt ihrer Anrechenbarkeit aus. Allerdings hat der 4. Senat des BSG nunmehr mit Urteil vom 11. Juni 1980 (4 RJ 31/79) entschieden, daß bei verfolgten Versicherten, die nach dem 31. Januar 1972 erwerbsunfähig geworden sind und nach Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit gem § 10 WGSVG Beiträge wirksam nachentrichtet haben, diese Beiträge in entsprechender Anwendung des § 1419 Abs 1 RVO der Erwerbsunfähigkeitsrente nicht zugrunde gelegt werden können, weil das in dieser Vorschrift enthaltene Verbot der Entrichtung freiwilliger Beiträge nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit für Zeiten vorher als Sperrwirkung hinsichtlich der Leistungen aus einem bereits eingetretenen Versicherungsfall zu verstehen sei.

Für den vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob dieser Rechtsauffassung zu folgen wäre. Des weiteren bleibt dahingestellt, ob mit der vom SG gegebenen Begründung die nachentrichteten Beiträge bei der ab August 1974 gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente berücksichtigt werden könnten oder ob - wie das LSG meint - eine Bereiterklärung der Versicherten zur Beitragsnachentrichtung iS des § 1419 Abs 2 RVO erst mit dem Schriftsatz vom 30. Dezember 1976 abgegeben worden sei. Denn selbst zu diesem Zeitpunkt und auch zur Zeit der tatsächlichen Nachentrichtung der Beiträge im Dezember 1976 sind die Beteiligten aufgrund des im Vorprozeß von der Beklagten im Oktober 1975 abgegebenen Anerkenntnisses und des hierauf sodann am 12. März 1976 erteilten Rentenbescheides übereinstimmend davon ausgegangen, daß am 23. Juli 1974 lediglich der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit, nicht aber derjenige der Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist. Folgerichtig ist von der Beklagten im Verfahren über die Beitragsnachentrichtung - was vom LSG nicht beachtet worden ist - die Anrechnung der nach § 10 WGSVG nachentrichteten Beiträge lediglich auf die bewilligte Rente wegen Berufsunfähigkeit und nicht für einen Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit abgelehnt worden, wie sich aus der insoweit ausdrücklichen Berichtigung des Bescheides vom 26. Januar 1977 durch den Widerspruchsbescheid vom 28. Juli 1977 ergibt. Schon deswegen kann durch die davon abweichende erstmalige Zurückverlegung auch des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit auf den 23. Juli 1974 im weiteren Rentenbescheid vom 30. Oktober 1978 eine Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge bei der Erwerbsunfähigkeitsrente nicht unter Berufung auf § 1419 Abs 1 und Abs 2 RVO verhindert werden.

Da die Beklagte zur Zeit der Bereiterklärung und der Beitragsnachentrichtung im Dezember 1976 lediglich einen bereits eingetretenen Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit, nicht aber der Erwerbsunfähigkeit angenommen hatte, durfte die Versicherte damals gerade aufgrund dieses Verhaltens der Beklagten darauf vertrauen, daß - im Einklang mit der in § 1419 Abs 1 und Abs 2 RVO getroffenen Regelung - den nachentrichteten Beiträge auf einen von der Beklagten bis dahin verneinten Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit angerechnet werden. Denn die Versicherte mußte jedenfalls im Zeitpunkt der Beitragsnachentrichtung deren Vor- und Nachteile abwägen können (vgl BSG-Urteil vom 1. März 1974 - 12 RJ 200/73 in SozR 2200 § 1419 Nr 1). Diese Möglichkeit würde der Versicherten hier durch den erst nach der Beitragsentrichtung erfolgten rückwirkenden "Austausch" des Eintritts des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit durch denjenigen der Erwerbsunfähigkeit genommen. Da das Verhalten der Beklagten deshalb als ein rechtswidriges "venire contra factum proprium" zu beurteilen ist, kann die Beklagte nach dem auch im gesamten öffentlichen Recht geltenden allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches; vgl Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 37. Aufl, Anm 3b iVm Anm 4 C e zu § 242) die Berücksichtigung der nachentrichteten Beiträge bei der nunmehr gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente nicht verweigern.

Unabhängig davon würde der von der Beklagten im mitangefochtenen Bescheid vom 30. Oktober 1978 ohne nähere Begründung festgesetzte Eintritt der Erwerbsunfähigkeit bereits zum 23. Juli 1974 einer - vom LSG unterlassenen, von seinem Rechtsstandpunkt aus aber gebotenen - Überprüfung nicht standhalten, so daß hier eine - unzulässige - freiwillige Beitragsentrichtung für Zeiten vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit iS des § 1419 Abs 1 und Abs 2 RVO ohnehin nicht gegeben wäre: Die Beklagte hat dem vom Prozeßbevollmächtigten der Versicherten im Schriftsatz vom 16. April 1977 unter Hinweis auf die Beschlüsse des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 und 10. Dezember 1976 (BSGE 30, 167, 192; 43, 75) gestellten Antrag, statt der Berufsunfähigkeitsrente die Erwerbsunfähigkeitsrente zu gewähren, mit Wirkung vom 1. August 1974 entsprochen. Da die Versicherte im Ausland wohnte, hätte bei ihr der Eintritt einer Erwerbsunfähigkeit zum 23. Juli 1974 wegen eines für sie damals praktisch verschlossenen Teilzeitarbeitsmarktes nur bejaht werden dürfen, wenn ihr weder vom Rentenversicherungsträger noch von einem Arbeitsamt im gesamten Bundesgebiet ein für sie geeigneter Arbeitsplatz binnen Jahresfrist seit der - ursprünglichen - Antragstellung hätte angeboten werden können, wenn sie im Bundesgebiet ihren Wohnsitz gehabt hätte (vgl Urteil des 1. Senats des BSG vom 17. Mai 1977 in SozR 2200 § 1246 Nr 18). Eine entsprechende Prüfung ist weder von der Beklagten noch vom LSG durchgeführt worden. Die Beklagte hatte vielmehr im Vorprozeß mit Schriftsatz vom 20. Oktober 1975 bei der Versicherten lediglich im Hinblick auf deren bisherigen Beruf als erlernte Zuschneiderin die Berufsunfähigkeit ab der Antragstellung am 23. Juli 1974 anerkannt, im übrigen aber an ihrer Feststellung im ersten Bescheid vom 30. Mai 1975, daß die Versicherte "auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch unter vollschichtig bis halbschichtig arbeiten" kann und "der entsprechende Teilzeitarbeitsmarkt im Bundesgebiet offen ist", festgehalten. Da diese Feststellung auch mit der damals einschlägigen Rechtsprechung des BSG übereinstimmt (vgl SozR Nr 79 und Nr 99 zu § 1246 RVO), hätte die Beklagte nicht davon abweichend im späteren Bescheid vom 30. Oktober 1978 den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit rückwirkend zum 23. Juli 1974 bejahen dürfen. Ob nach alledem aufgrund des neuen Rentenantrages vom 16. April 1977 überhaupt eine rückwirkende Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente ab 1. August 1974 gerechtfertigt war, hatte der erkennende Senat im Hinblick auf den insoweit vorliegenden, begünstigenden Verwaltungsakt vom 30. Oktober 1978 nicht zu entscheiden.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des SG zurückgewiesen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 213

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