Leitsatz (redaktionell)

Unterbricht ein Beschäftigter den Heimweg von der Arbeitsstätte, um am Straßenrand eine private Unterhaltung zu führen, und wird er dort nach mindestens 10-minütigen Verweilen durch ein vorbeifahrendes Kraftfahrzeug verletzt, so genießt er nicht den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Orientierungssatz

Der Zusammenhang mit der versicherten Beschäftigung ist nicht nur dann unterbrochen, wenn der Versicherte von seinem üblichen Heimweg abweicht; eine versicherungsrechtlich bedeutsame Unterbrechung liegt vielmehr auch vor, wenn für eine gewisse Zeitspanne jener Zusammenhang nicht gegeben ist; ohne daß der Versicherte seinen Weg verläßt. Die Unterbrechung kann nach den gesamten Umständen des Einzelfalles, selbst bei einer nur 10-minütigen Gesprächsdauer, nicht als unbedeutend angesehen werden; der Versicherungsschutz bleibt nur bei ganz kurzen und belanglosen Unterbrechungen erhalten.

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Januar 1963 aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 16. Juni 1963 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die 1942 geborene Klägerin war im Jahre 1960 als Verkäuferin-Lehrling in einem Lebensmittelgeschäft in Heilbronn beschäftigt. Den Weg vom Geschäft zur elterlichen Wohnung in Gellmersbach pflegte sie von Heilbronn bis Weinsberg mit dem Omnibus, die übrige Strecke zu Fuß zurückzulegen. Am Abend des 9. September 1960, einem Freitag, wurde die Klägerin an der Omnibus-Haltestelle in Weinsberg von ihrem Freund abgeholt; dieser fuhr sie mit seinem Leichtmotorrad nach Hause. Am Ortseingang von Gellmersbach kamen ihnen auf der linken Straßenseite - in Richtung Gellmersbach gesehen - eine Freundin der Klägerin und deren Begleiter verabredungsgemäß entgegen. Die Klägerin und ihr Freund begaben sich auf die andere Straßenseite und unterhielten sich mit ihnen über private Dinge. Alsbald gesellte te sich ein weiterer Bekannter hinzu. Schließlich hielt ein Lastkraftwagen, dessen Fahrer der sich unterhaltenden Gruppe bekannt war, bei dieser an. Als dieser soeben weitergefahren war, wurde die Klägerin von einem aus Gellmersbach kommenden Personenkraftwagen angefahren und schwer verletzt.

Die Beklagte verneinte mit Bescheid vom 10. Februar 1961 ihre Entschädigungspflicht, weil die Klägerin die Heimfahrt aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen und sich in einen selbst geschaffenen betriebsfremden Gefahrenbereich begeben habe.

Die von der Klägerin hierauf erhobene Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts - SG - Heilbronn vom 16. Juni 1961).

Auf die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg durch Urteil vom 30. Januar 1963 die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, die Klägerin für die Folgen des Unfalls vom 9. September 1960 zu entschädigen. Das Berufungsgericht hat u. a. festgestellt, daß die aus privaten Gründen von der Klägerin geführte Unterhaltung im Zeitpunkt des Unfalls noch nicht beendet war und sie in diesem Zeitpunkt mindestens 10 und höchstens 45 Minuten gedauert hatte. Seine Entscheidung hat das LSG im wesentlichen wie folgt begründet: Obwohl sich die Klägerin zur Zeit des Unfalls nicht auf das Ziel ihres Heimwegs hin bewegt habe, sei der Versicherungsschutz nicht unterbrochen worden, falls die Klägerin nur 10 Minuten lang auf der Straße stehen geblieben sei, um sich zu unterhalten. Es bestünden zwar gewisse Bedenken, ob die Unterhaltung nicht länger als 10 Minuten gedauert habe. Die Zeugenaussagen seien insoweit widersprüchlich, und aus dem sonstigen Akteninhalt sei hierüber ebenfalls keine genügende Klarheit zu gewinnen. Selbst wenn man aber davon ausgehe, daß die Unterhaltung sich bereits über eine Zeitspanne von 45 Minuten erstreckt habe, sei dadurch der Zusammenhang mit dem nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (in der bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungsneuregelungsgesetzes - UVNG - geltenden Fassung) - RVO aF - versicherten Weg nicht unterbrochen gewesen. Es müsse berücksichtigt werden, daß die Klägerin die Wegstrecke von Weinsberg nach Gellmersbach in der Regel zu Fuß zurücklege und sie für den gesamten Heimweg von über 10 km normalerweise erheblich mehr als eine Stunde benötige. Sie habe somit einen sehr langen Nachhauseweg; demgegenüber sei die private Unterredung, die längstens 45 Minuten gewährt habe, nicht von so langer Dauer gewesen. Es komme hinzu, daß die Klägerin sich während des Gesprächs auf der versicherten Wegstrecke aufgehalten und eine typische Verkehrsgefahr zum Unfall geführt habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat ihre Revision im wesentlichen wie folgt begründet: Der Umstand, daß die Klägerin möglicherweise von einer typischen Straßenverkehrsgefahr betroffen worden sei, besage nichts dafür, daß sie sich im Zeitpunkt des Unfalls unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung befunden habe. Maßgebend sei, welche Zeit die Klägerin am Tage des Unfalls benötigt habe, um von ihrer Arbeitsstätte zu ihrer Wohnung zu gelangen. Da sie an diesem Tage die restliche von ihr üblicherweise zu Fuß zurückgelegte Wegstrecke von einem jugendlichen Motorradfahrer - vermutlicherweise also besonders schnell - befördert worden sei, stehe die Dauer der 3/4-stündigen Unterhaltung außer Verhältnis zu der Zeit, welche die Klägerin gebraucht habe, um zur Unfallstelle zu gelangen. Es müsse ferner berücksichtigt werden, daß die Klägerin nur noch einen Weg von 1 Minute zu ihrer Wohnung gehabt habe, als sie am Ortseingang von Gellmersbach mit ihrer Freundin zusammengetroffen sei. Unter diesen Umständen sei ihr Weg von der Arbeitsstätte mit Beginn der länger dauernden Unterhaltung praktisch beendet gewesen. Der Versicherungsschutz sei schließlich deshalb nicht gegeben, weil die Klägerin einen betriebsfremden Gefahrenbereich geschaffen habe, indem sie sich mit 4 anderen Personen auf einer Landstraße unterhalten habe.

Der Bevollmächtigte der Klägerin hat sich im wesentlichen die Begründung des angefochtenen Urteils zu eigen gemacht. Er ist der Meinung, daß es auf die Frage des Verhältnisses der Länge des versicherten Weges und der Dauer seiner Unterbrechung nach dem Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 28. Juni 1963 (veröffentlicht in NJW 1963 S. 1998) nicht ankomme. Der Begleiter der Klägerin habe sich an der Unterhaltung nur deshalb beteiligt, weil er die Klägerin noch nach Hause habe bringen wollen. Von einer selbst geschaffenen Gefahr könne keine Rede sein, denn es handele sich um eine verkehrsarme Straße; überdies habe sich die Klägerin mit ihren Bekannten am Straßenrand aufgehalten, einige der Gesprächsteilnehmer hätten sogar außerhalb der Fahrbahn gestanden.

Die Beigeladene hält aus denselben Erwägungen die Revision für unbegründet.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,

hilfsweise das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin und die Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die - durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) - Revision ist begründet.

Das angefochtene Urteil des LSG, das Versicherungsschutz nach § 543 Satz 1 RVO aF bejaht hat, begegnet Bedenken; im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls hat sich die Klägerin nicht auf einem mit ihrer versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg von der Arbeitsstätte befunden. Sie hatte diesen Weg für die Dauer von mindestens 10 und längstens 45 Minuten unterbrochen, um eine private Unterhaltung zu führen. Der Zusammenhang mit der versicherten Beschäftigung ist aber nicht nur unterbrochen, wenn der Versicherte von seinem üblichen Heimweg abweicht; eine versicherungsrechtlich bedeutsame Unterbrechung liegt auch vor, wenn, ohne daß der Versicherte seine Wegstrecke verläßt, eine gewisse Zeit lang jener Zusammenhang nicht gegeben ist, denn der Versicherungsschutz in § 543 Satz 1 RVO aF umfaßt nach der Rechtsprechung (vgl. RVA in EuM 29, 228; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand Juli 1964, Anmerkungen 3 und 17 zu § 550 RVO nF) grundsätzlich das Fortbewegen des Versicherten von und zur Arbeitsstätte. Es ist daher ohne Belang, daß sich die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls auf der Straße aufgehalten hat. Für die Dauer ihrer privaten Zwecke dienenden, im Stehen geführten Unterhaltung war der Zusammenhang mit ihrer versicherten Tätigkeit aufgehoben, damit war versicherungsrechtlich ihr Heimweg zunächst beendet. Dies hat nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (SozR RVO § 543 aF, Nr. 5) zur Folge, daß während dieser Unterbrechung Versicherungsschutz nicht bestanden hat. Dieser wäre erst wieder aufgelebt, wenn der Unterbrechungstatbestand beendet gewesen wäre und die Klägerin ihren Heimweg fortgesetzt hätte (SozR RVO § 543 aF, Nr. 41 = NJW 1963, 1998). Dazu ist es aber nicht mehr gekommen, denn nach den den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des Berufungsgerichts ist die Klägerin von dem Personenkraftwagen angefahren und verletzt worden, als sie sich am Rand der Straße stehend aufgehalten hat.

Nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) (zu vergleichen EuM 22, 303; 23, 271), der sich der erkennende Senat angeschlossen hat (SozR RVO § 543 aF, Nr. 5, Nr. 28), wird der Versicherungsschutz trotz Unterbrechung des Weges allerdings nicht aufgehoben, wenn diese so unbedeutend ist, daß von einer "Unterbrechung" im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden kann (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1964, Band II S. 485; Lauterbach aaO, Anm. 17 d zu § 550 nF). Die Rechtsprechung (vgl. z. B. das Urteil des OVA Hildesheim vom 7. Februar 1951, Breithauptsammlung 1952 S. 269) hat hierunter aber nur ganz kurze und belanglose "Unterbrechungen" verstanden, bei denen der Versicherte gewissermaßen in der Bewegung von oder zur Arbeitsstätte bleibt und nur nebenher andersartig tätig wird. Wie der erkennende Senat im - nicht veröffentlichten - Urteil vom 30. Oktober 1963 (2 RU 220/59) bereits entschieden hat, ist dies aber nur der Fall, wenn die private Besorgung ganz kurzfristig ist. Der nach der Rechtsprechung des Senats in Fällen solcher Art anzuwendende Begriff der Geringfügigkeit kann allerdings nicht nach absoluten Maßstäben beurteilt werden, es sind vielmehr die gesamten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Der Zeitfaktor wird bei dieser Beurteilung zwar als ein besonders wichtiger Umstand anzusehen sein, doch können andere, für den Einzelfall bedeutsame Tatsachen von jener Gesamtwürdigung nicht ganz ausgeschlossen werden. Nach den unangefochten gebliebenen Feststellungen des LSG hat die zu privaten Zwecken im Stehen geführte Unterhaltung mindestens 10 Minuten gedauert. Diese Zeitspanne kann mit Rücksicht darauf, daß die Klägerin sich verabredungsgemäß kurz vor Erreichen ihres Zieles, nämlich ihres häuslichen Bereichs, mit ihrer Freundin getroffen hat und die privaten Zwecken dienende Unterhaltung innerhalb eines größeren Personenkreises stattgefunden hat, nicht als unerheblich, die Unterbrechung sonach nicht als belanglos angesehen werden.

Der Senat setzt sich mit dieser Rechtsauffassung nicht in Widerspruch zu seinen Entscheidungen vom 28. Februar 1964 (2 RU 185/61 - BSG 20, 219 - und 2 RU 225/60) und 30. Oktober 1964 (2 RU 18/64). Entgegen einer im Schrifttum geäußerten Meinung (Lauterbach aaO, Anm. 17 d - am Ende - zu § 550 nF) hat der Senat in diesen Entscheidungen den Begriff der "wesentlichen Unterbrechung" nicht anders als bisher ausgelegt. Er hat hier vielmehr, wie auch sein Urteil vom 30. September 1964 (2 RU 161/60) deutlich macht, in Fortführung der Rechtsprechung des RVA (vgl. Breithauptsammlung 1942 S. 113) klargestellt, daß die infolge einer privaten Besorgung notwendige (räumliche) Unterbrechung des Weges von und zur Arbeitsstätte erst dann beginnt, wenn der Versicherte den "öffentlichen Verkehrsraum" verlassen hat; dabei macht es - entgegen einer in Rechtsprechung und Schrifttum verbreiteten Ansicht (vgl. z. B. Lauterbach aaO, Anm. 17 c zu § 550 nF) - keinen Unterschied, ob er den Weg zu Fuß oder mit Hilfe eines Verkehrsmittels zurücklegt.

Da die Klägerin im Zeitpunkt des Verkehrsunfalls somit dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht unterlegen hat, war zu erkennen, wie geschehen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380206

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