Entscheidungsstichwort (Thema)

Überprüfung der Prozeßfähigkeit. Prozeßunfähigkeit als absoluter Revisionsgrund

 

Orientierungssatz

1. Sind Anhaltspunkte vorhanden, die Zweifel an der Geschäftsfähigkeit und damit an der Prozeßfähigkeit einer Partei aufkommen lassen, so hat das Gericht dies von Amts wegen zu überprüfen.

2. Eine Partei war nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten, wenn sich im Nachhinein Prozeßunfähigkeit herausstellt. Dies gilt auch im sozialgerichtlichen Verfahren als absoluter Revisionsgrund.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, § 71 Abs. 6; ZPO § 56; SGG § 202; ZPO § 551 Nr. 5

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 20.07.1964)

SG Mannheim (Entscheidung vom 08.05.1963)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Juli 1964 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird, soweit nicht die Beklagte im ersten Rechtszug den Anspruch des Klägers auf eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit anerkannt hat, um die Anrechnung einer Haftzeit - vom 26. August 1940 bis 5. Mai 1945 - als rentensteigernder Versicherungszeit (§§ 1253, 1258, 1251 Abs. 1 Nrn. 1, 4 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) geführt. Hinsichtlich des Anspruchs auf eine höhere Rente hat das Sozialgericht (SG) Mannheim die Klage durch Urteil vom 8. Mai 1963 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die - nicht fristgerecht eingelegte - Berufung des Klägers am 20. Juli 1964 als unzulässig verworfen.

Nachdem das LSG zunächst vergeblich versucht hatte, das Urteil dem Kläger persönlich zuzustellen - er war im Berufungsrechtszug nicht durch einen Bevollmächtigten vertreten -, teilte das Psychiatrische Landeskrankenhaus W mit, daß der Kläger dort wegen eines erneuten Schubs einer bei ihm bereits früher aufgetretenen Schizophrenie aufgenommen worden und als geschäftsunfähig im Sinne des § 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) anzusehen sei. Deshalb bestellte der Vorsitzende des Berufungsgerichts auf Grund des § 72 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für den Kläger einen besonderen Vertreter. Zum Zwecke der Zustellung an ihn wurde das Urteil am 14. Oktober 1964 zur Post gegeben (§ 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG -).

Am 23. Februar 1965 hat der Kläger durch seinen ihm im Armenrecht beigeordneten Prozeßbevollmächtigten Revision eingelegt und zugleich um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gebeten. Am 25. Februar 1965 ist die Revision mit folgenden Ausführungen begründet worden: Der Kläger sei während des Verfahrens vor dem LSG nicht geschäftsfähig und somit auch nicht prozeßfähig gewesen. Deutliche Anzeichen hierfür hätten sich dem - vom SG eingeholten - Befundbericht des Psychiatrischen Landeskrankenhauses W vom 30. März 1963 entnehmen lassen. Das LSG hätte sich deshalb schon zu Beginn seines Verfahrens veranlaßt sehen müssen, beim Amtsgericht auf die Bestellung eines Vormundes hinzuwirken, jedenfalls aber einen besonderen Vertreter nach § 72 Abs. 1 SGG zu bestellen. Das LSG habe verfahrensrechtliche Vorschriften auch insofern verletzt, als es die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen habe; es hätte ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen. Schließlich habe das LSG gegen § 96 SGG verstoßen, indem es den während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1963, einen Ausführungsbescheid entsprechend ihrem Anerkenntnis, nicht als Gegenstand des Rechtsstreits angesehen habe.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen und des Bescheides der Beklagten vom 16. Februar 1960 diese zur Berücksichtigung der im Klageantrag bezeichneten Haftzeit als Versicherungszeit zu verpflichten,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Beklagte tritt dem Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und auf Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG nicht entgegen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

Der Kläger hat zwar die am 17. November 1964 abgelaufene Revisionsfrist versäumt, sein Rechtsmittel gilt aber dennoch als fristgerecht eingelegt, weil er ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten und somit Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat (§ 67 SGG). Der Hinderungsgrund bestand in der Armut des Klägers, die es ihm nicht gestattete, auf eigene Kosten einen Prozeßbevollmächtigten mit der Einlegung des Rechtsmittels zu beauftragen. Auf das vor Ablauf der Revisionsfrist angebrachte Armenrechtsgesuch hat der Senat dem Kläger erst durch Beschluß vom 20. Januar 1965 seinen jetzigen Prozeßbevollmächtigten beigeordnet. Dieser hat innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses das Rechtsmittel eingelegt und begründet. Auch der Wiedereinsetzungsantrag ist innerhalb eines Monats (§ 67 Abs. 2 SGG) eingegangen. Dem Kläger wird deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Die Revision ist, obwohl das LSG sie nicht zugelassen hat, statthaft, weil das Berufungsverfahren, wie der Kläger ordnungsmäßig und zutreffend gerügt hat, an wesentlichen Mängeln leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Das LSG hat die ihm nach § 71 Abs. 6 SGG in Verbindung mit § 56 der Zivilprozeßordnung (ZPO) obliegende Pflicht, die Prozeßfähigkeit des Klägers von Amts wegen zu prüfen, verletzt. Besonderer Erhebungen über die Geschäftsfähigkeit und damit über die Prozeßfähigkeit eines Beteiligten bedarf es allerdings im allgemeinen nicht, wenn insoweit keine ernsthaften Zweifel bestehen. Dem LSG war jedoch aus dem Befundbericht des Psychiatrischen Landeskrankenhauses W vom 30. März 1963 bekannt, daß bei dem Kläger schon seit Jahrzehnten eine Schizophrenie vorliegt, die während des erstinstanzlichen Verfahrens - im Frühjahr 1962 - akutere Symptome gezeigt und zur Aufnahme in das vorgenannte Krankenhaus geführt hatte. Unter diesen Umständen hätten sich dem LSG Zweifel an der Prozeßfähigkeit des Klägers aufdrängen und es hätte ihnen durch eine Beweiserhebung nachgehen müssen.

Darüber hinaus ist durch Bescheinigungen des Psychiatrischen Landeskrankenhauses W vom 2. November und 10. Dezember 1964 erwiesen, daß der Kläger tatsächlich während des Berufungsverfahrens geschäftsunfähig im Sinne des § 104 Nr. 2 BGB war, sich deshalb nicht durch Verträge verpflichten konnte (§ 105 Abs. 1 BGB) und somit prozeßunfähig war (§ 71 Abs. 1 SGG). Er war also im Verfahren vor dem Berufungsgericht nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten (§ 551 Nr. 5 ZPO). Dieser unbedingte Revisionsgrund gilt über § 202 SGG auch im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit (BSG 5, 176, 177). Auf dem festgestellten Verfahrensmangel beruht die angefochtene Entscheidung nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung. Die Revision ist hiernach begründet.

Das Urteil des LSG muß aufgehoben und der Rechtsstreit zur Durchführung eines gesetzmäßigen Verfahrens an das LSG zurückverwiesen werden.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG im abschließenden Urteil zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325756

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