Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung der Verhältnisse. Neufeststellung der Gesamt-MdE

 

Orientierungssatz

1. Ob in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung wesentlich gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muß durch einen Vergleich des gegenwärtigen mit dem ursprünglichen Schadenszustand festgestellt werden. Dabei kommt es nicht darauf an, von welchen Gegebenheiten und rechtlichen Ansichten die Versorgungsbehörde sich hat leiten lassen, sondern welcher Sachverhalt zum Zeitpunkt der früheren Feststellung objektiv bestanden hat (vgl ua BSG vom 1977-11-23 9 RV 30/77 = SozR 3100 § 62 Nr 15, BSG vom 1978-07-27 9 RV 32/77 = SozR 3100 § 62 Nr 16 und BSG vom 1980-01-30 9 RV 62/78 = Praxis 1980, 334).

2. Haben sich die entscheidungserheblichen Gegebenheiten in der einen oder anderen Richtung weiterentwickelt, so darf nur in derjenigen Richtung und in dem Ausmaße, in dem sich die dem früheren Bescheid zugrunde liegende Sachlage gewandelt hat, die vorangegangene Entscheidung geändert werden. BVG § 62 bietet keine Handhabe zur Korrektur fehlerhafter Vorentscheidungen. Das bringt der Wortlaut des BVG § 62 Abs 1 S 1 dadurch zum Ausdruck, daß die Neufeststellung nur "entsprechend" vorgenommen werden darf (vgl BSG vom 1978-07-27 9 RV 32/77 = SozR 3100 § 62 Nr 16).

3. Eingriffe in die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, die von Anfang an fehlerhaft sind oder infolge Änderung der Verhältnisse nachträglich rechtswidrig werden, dürfen auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung - außer bei Ermessensleistungen - grundsätzlich nur in den durch Gesetz ausdrücklich zugelassenen Fällen vorgenommen werden. Hierzu gehört auch BVG § 62, der die Neufeststellung eines infolge Änderung der Verhältnisse nachträglich rechtswidrig gewordenen Anspruchs regelt. Diese Vorschrift eröffnet nicht die Möglichkeit, den Grad der MdE der Schädigungsfolgen etwa wie bei der ersten Feststellung völlig neu - originär - zu bewerten; denn nur "entsprechend" der eingetretenen Änderungen ist eine Neufeststellung eingeräumt worden.

4. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse liegt nicht vor, wenn zwar Einzelbefunde oder Äußerungsformen des Leidens gewechselt haben, nicht aber das Ausmaß der Beeinträchtigung im ganzen (vgl BSG vom 1960-12-15 11 RV 340/60 = BSGE 13, 230).

5. Das BSG hat zwar in mehreren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, daß bei einer Neufeststellung nach BVG § 62 Abs 1 die Versorgungsverwaltung an die Bewertung der MdE ("Teil-MdE") für das unverändert gebliebene Leiden in dem letzten Bescheid gebunden sei (vgl BSG vom 1963-03-22 11 RV 844/62 = BSGE 19, 15). Daraus ergibt sich jedoch nicht, daß eine ungebundene freie Einschätzung der Gesamt-MdE dann möglich ist, wenn in allen einzelnen bisher bewerteten Schädigungsfolgen Änderungen eingetreten sind. Ein solcher Sachverhalt berechtigt dann zwar zu einer originären Einschätzung der "Teil-MdE" für jede einzelne Schädigungsfolge; sie besagt aber nichts über den Umfang des Gesamt-MdE.

 

Normenkette

BVG § 62 Abs 1 S 1 Fassung: 1966-12-28; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 03.04.1979; Aktenzeichen L 4 V 850/78)

SG Kassel (Entscheidung vom 30.05.1978; Aktenzeichen S 7 V 49/77)

 

Tatbestand

Mit Bescheid vom 19. Januar 1952 wurde dem Kläger wegen erheblicher Bewegungsbehinderungen im rechten Kniegelenk, leichten Bewegungsstörungen im rechten Fußgelenk und Muskelschwäche des rechten Beines eine Versorgungsrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH bewilligt. Im Juli 1975 beantragte der Kläger, wegen Verschlimmerung der Schädigungsfolgen die Rente zu erhöhen. Dr R stellte eine Verbesserung der Kniegelenksfunktion, dagegen eine Verschlechterung der Bewegungseinschränkung in den rechten Sprunggelenken sowie das Hinzukommen von erheblichen Durchblutungsstörungen als Schädigungsfolgen fest. Er meinte, daß funktionell die Verschlimmerung des schädigungsbedingten Befundes sicher schwerer sei als seine Verbesserung. Andererseits könne die MdE nicht auf einen Wert angehoben werden, der dem Zustand nach Unterschenkelamputation entspräche; die MdE belaufe sich weiterhin auf 40 vH. Das Versorgungsamt erließ entsprechend diesen Ausführungen den Bescheid vom 28. September 1976, gegen den der Kläger erfolglos Widerspruch einlegte (Bescheid vom 3. Januar 1977). Während des hiergegen gerichteten Klageverfahrens bezeichnete die Versorgungsverwaltung mit Bescheid vom 11. August 1977 die Schädigungsfolgen neu.

Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten, vom 1. Juli 1975 an Rente nach einer MdE um 50 vH zu zahlen. Es begründete dies mit der Feststellung, daß einer wesentlichen Besserung im ganzen wesentlichere Verschlimmerungen gegenüberstünden, so daß die MdE zu erhöhen und mit 50 vH zu bewerten sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten die Klage abgewiesen. Es hat dazu ausgeführt: Der Beklagte sei an einer Beibehaltung der MdE von 40 vH nicht durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gehindert, wonach eine Schädigungsfolge auch dann bei einer Neufeststellung einschließlich der durch sie verursachten Beeinträchtigung der Funktionstüchtigkeit berücksichtigt werden müsse, wenn sie früher zu Unrecht anerkannt gewesen sei (BSG Urteil vom 4. April 1963 - 8 RV 457/61 - = SozR BVG § 62 Nr 23). Die Auffassung des BSG könne für den Fall zutreffen, daß die MdE eines Leidens, das sich nicht verändert habe, zu hoch festgestellt worden sei, die Besserung aber andere Schädigungsleiden betreffe. Trete aber hinsichtlich eines Leidens, hier der erheblichen Bewegungsbehinderung im rechten Kniegelenk, für das die MdE zu hoch festgestellt worden sei, eine Besserung ein, während sich am gleichen Bein Verschlechterungen einstellten, so könne die Beurteilung der MdE nur nach dem Gesamtbild der jetzt vorhandenen Beeinträchtigungen erfolgen. Maßgebend seien allein die Auswirkungen aller Schädigungsfolgen in ihrer Gesamtheit auf die Erwerbsfähigkeit. Die jetzt tatsächlich bestehenden gesundheitlichen Störungen rechtfertigten aber keine höhere MdE als um 40 vH.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat Revision eingelegt. Er meint, der Sachverhalt sei unvollständig aufgeklärt worden; von einem Nervenfacharzt oder einem Angiologen hätte notwendigerweise ein Zusatzgutachten eingeholt werden müssen, um die genauen Störungen, die auf venöser Grundlage eingetreten seien, festzustellen. Das LSG hätte dabei erkennen müssen, daß der Gesamtzustand des Klägers nicht günstiger sei als der eines Unterschenkelamputierten.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache

zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das

Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er meint, das LSG habe kein weiteres Gutachten einholen müssen. Außerdem sei das BSG an die tatsächlichen Feststellungen des LSG gebunden, die MdE betrage 40 vH. Im übrigen sei es nicht zweifelhaft, daß wesentliche Besserungen und Verschlimmerungen gegeneinander aufgerechnet werden könnten.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zurückzuweisen. Das Urteil des LSG erweist sich im Ergebnis als Zutreffend.

Der von dem Kläger geltend gemachte Aufklärungsmangel liegt nicht vor. Das LSG brauchte sich bei seiner Rechtsauffassung nicht gedrängt zu fühlen, weitere Gutachten einzuholen.

Jedoch ist die vom LSG vertretene Rechtsmeinung nicht zu billigen. Entgegen der Auffassung des LSG war der Beklagte bei der Neufeststellung nicht frei in der Bewertung der MdE wie bei einer Erstfeststellung. Nach § 62 Abs 1 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) idF des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechtes (1. Neuordnungsgesetz) vom 27. Juni 1960 (BGBl I S 453) ist ein Anspruch entsprechend neu festzustellen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Ob dies zutrifft, muß durch einen Vergleich des gegenwärtigen mit dem ursprünglichen Schadenszustand festgestellt werden. Dabei kommt es nicht darauf an, von welchen Gegebenheiten und rechtlichen Ansichten die Versorgungsbehörde sich hat leiten lassen, sondern welcher Sachverhalt zum Zeitpunkt der früheren Feststellung objektiv bestanden hat (BSGE 7, 8, 12; BSG SozR Nr 20 und Nr 24 zu § 62 BVG; SozR 3100 § 62 Nr 15 und 16; BSG Urteil v 1980-01-30 - 9 RV 62/78). Haben sich die entscheidungserheblichen Gegebenheiten in der einen oder anderen Richtung weiterentwickelt, so darf nur in derjenigen Richtung und in dem Ausmaße, in dem sich die dem früheren Bescheid zugrunde liegende Sachlage gewandelt hat, die vorangegangene Entscheidung geändert werden. § 62 BVG bietet keine Handhabe zur Korrektur fehlerhafter Vorentscheidungen. Das bringt der Wortlaut des § 62 Abs 1 Satz 1 BVG dadurch zum Ausdruck, daß die Neufeststellung nur "entsprechend" vorgenommen werden darf (BSG SozR 3100 § 62 Nr 16 mwN). Das LSG hat insoweit aus der Rechtsprechung des BSG einen falschen Schluß gezogen. Es ist richtig, das BSG hat in mehreren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, daß bei einer Neufeststellung nach § 62 Abs 1 BVG die Versorgungsverwaltung an die Bewertung der MdE ("Teil-MdE") für das unverändert gebliebene Leiden in dem letzten Bescheid gebunden sei (BSGE 19, 15). Daraus ergibt sich jedoch nicht die vom LSG gezogene Folge, daß eine ungebundene freie Einschätzung der Gesamt-MdE dann möglich ist, wenn in allen einzelnen bisher bewerteten Schädigungsfolgen Änderungen eingetreten sind. Ein solcher Sachverhalt berechtigt dann zwar zu einer originären Einschätzung der "Teil-MdE" für jede einzelne Schädigungsfolge; sie besagt aber nichts über den Umfang des Gesamt-MdE.

Bei mehreren Schädigungsfolgen ist eine Gesamt-MdE festzustellen (§ 30 Abs 1 Satz 2 BVG, der in der Mehrzahl von den anerkannten Gesundheitsstörungen spricht; Verwaltungsvorschriften zu § 30 BVG Nr 3). Bei einer rechtsverbindlichen Entscheidung über die MdE wird grundsätzlich allein der Gesamtbetrag, der im Verfügungssatz des Bescheides festgestellt ist, bindend (Urteil des BSG vom 7. November 1979 - 9 RVs 6/78 -). Die Gewährung der Versorgungsrente durch Bescheid vom 19. Januar 1952, der verbindlich geworden ist und von dessen Inhalt bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit des Neufeststellungsbescheides auszugehen ist, enthielt mehrere Verfügungssätze. Einmal daß die im einzelnen angeführten Gesundheitsstörungen Schädigungsfolgen sind und außerdem die Gewährung einer Grundrente entsprechend einer MdE um 40 vH. Die Bindungswirkung des § 77 SGG erstreckt sich damit nicht nur auf die Schädigungsfolgen, sondern auch auf den Grad der durch sie bedingten MdE, denn dieser ist wesentlich für die Höhe der Grundrente nach § 31 Abs 1 BVG. Eingriffe in die Bindungswirkung von Verwaltungsakten, die von Anfang an fehlerhaft sind oder infolge Änderung der Verhältnisse nachträglich rechtswidrig werden, dürfen auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung - außer bei Ermessensleistungen - grundsätzlich nur in den durch Gesetz ausdrücklich zugelassenen Fällen vorgenommen werden. Hierzu gehört auch § 62 BVG, der die Neufeststellung eines infolge Änderung der Verhältnisse nachträglich rechtswidrig gewordenen Anspruchs regelt. Diese Vorschrift eröffnet nicht die Möglichkeit, den Grad der MdE der Schädigungsfolgen etwa wie bei der ersten Feststellung völlig neu - originär - zu bewerten; denn nur "entsprechend" der eingetretenen Änderungen ist eine Neufeststellung eingeräumt worden. Das BSG ist bereits in seiner Entscheidung vom 15. Dezember 1960 (BSGE 13, 230, 231) von diesen Rechtsgrundsätzen ausgegangen und hat in dem damaligen Rechtsstreit ausgeführt, daß eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse nicht vorliege, wenn zwar Einzelbefunde oder Äußerungsformen des Leidens gewechselt hätten, nicht aber das Ausmaß der Beeinträchtigung im ganzen. Entsprechend dieser Rechtslage ist einer etwa eingetretenen Verschlimmerung im Gesamtzustand des Klägers Rechnung zu tragen.

Von dieser Rechtslage her ist das Ergebnis des angefochtenen Urteils gleichwohl richtig. Aus den vom LSG getroffenen und für das BSG bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) ist zu entnehmen, daß sich der Gesamtzustand der Schädigungsfolgen nicht wesentlich verschlimmert hat. Eine Änderung der MdE ist nur dann wesentlich, wenn sie mehr als 5 % beträgt (BSG SozR 3100 § 62 Nr 14), denn eine nur um 5 vH geänderte MdE wird von den im Gesetz jeweils um 10 vH abgestuften Durchschnittssätzen mitumfaßt (§ 31 Abs 2 BVG). Die früher festgesetzte MdE des Klägers umfaßt daher alle Grade oberhalb 35 bis unter 45. Bei der neuen Einschätzung des Gesamtzustandes ist zwar von einer Verschlimmerung auszugehen; deren Ausmaß ist jedoch nicht erkennbar so groß, daß die jeder MdE-Festsetzung immanente Spannweite übersprungen wird. Die Feststellung des LSG, die sich auf die ärztliche Einschätzung der MdE stützt, trotz einer Verschlimmerung des Gesamtzustandes sei das Maß der bisher mit 40 vH bewerteten MdE nicht zu erhöhen, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Auch der Kläger hat mit der Revision nicht vorgebracht, das LSG habe das Ausmaß der eingetretenen Verschlimmerung nicht richtig erfaßt; seine - nicht durchgreifende - Rüge richtet sich vielmehr gegen die Einschätzung der derzeitigen Gesamt-MdE.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654389

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