Orientierungssatz

Arbeitsloser Arbeitnehmer iS des § 101 Abs 1 S 1 AFG - Anspruch eines selbständigen Rechtsanwalts auf Arbeitslosenhilfe:

1. Arbeitsloser Arbeitnehmer iS des § 101 Abs 1 S 1 AFG ist, wer im Zeitpunkt der Antragstellung und während der Zeit der anschließenden faktischen Beschäftigungslosigkeit zu den Personen zählt, die andernfalls in dieser Zeit eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange ausüben würden; es ist nicht erforderlich, daß der Antragsteller berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt (vgl BSG 1977-07-21 7 RAr 132/75 = SozR 4100 § 134 Nr 3).

2. Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft schließt die Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung und damit Arbeitslosigkeit iS des § 101 Abs 1 S 1 nicht aus.

3. Auch der Rechtsanwalt, der letztlich nur selbständig tätig werden will, kann arbeitslos sein, solange er ua zur Absicherung seiner Existenz für eine Übergangszeit eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange anstrebt (vgl BSG 1981-08-25 7 RAr 68/80).

4. Bei der Beurteilung, ob eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit geringfügig ist, ist ein objektiver Maßstab anzulegen, dh darauf abzustellen, welche Zeit normalerweise benötigt wird. Generalisiert wird dabei nicht die Tätigkeit als solche, sondern die Fähigkeit des Ausführenden. Das bedeutet einerseits, daß es nicht auf die individuellen Fähigkeiten des Antragstellers ankommt, sondern auf durchschnittliche, daß aber andererseits nicht von einer abstrakten, generalisierten Tätigkeit auszugehen ist, sondern von den konkreten Verrichtungen, die der Antragsteller voraussichtlich vornehmen muß bzw vorzunehmen hat (vgl BSG 1981-03-17 7 RAr 19/80).

5. Von Gesetzes wegen ist kein Rechtsanwalt gehindert, seine anwaltliche Tätigkeit derart zu gestalten, daß sie iS des § 102 AFG der Natur der Sache nach auf weniger als 20 Stunden in der Woche beschränkt ist.

 

Normenkette

AFG § 101 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1969-06-25, § 102 Abs. 1 S. 1, § 134 Abs. 1 S. 1; BRAO

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 21.02.1980; Aktenzeichen L 1 Ar 487/78)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 03.03.1978; Aktenzeichen S 15 Ar 868/76)

 

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung einer Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) und gegen die Verpflichtung zur Rückzahlung.

Der am 5. Dezember 1948 geborene Kläger schloß am 27. November 1975 den juristischen Vorbereitungsdienst mit der Zweiten juristischen Staatsprüfung ab. Am 1. Dezember 1975 meldete er sich arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alhi. Am 5. Januar 1976 wurde der Kläger aufgrund eines bereits vor dem 1. Dezember 1975 gestellten Antrages als Rechtsanwalt zugelassen. Er übt seitdem den Beruf eines selbständigen Rechtsanwaltes aus.

Nachdem die Beklagte mit Bescheid vom 26. Januar 1976 Alhi bewilligt hatte, erfuhr sie von der Tätigkeit des Klägers als Rechtsanwalt und stellte nach einem Beratungsgespräch am 3. März 1976 die Gewährung der Alhi ab 4. März 1976 ein. Mit weiterem Bescheid vom 21. September 1976 hob die Beklagte den Bescheid über die Bewilligung von Alhi für die Zeit ab 5. Januar 1976 mit der Begründung auf, daß der Kläger nicht als Arbeitnehmer anzusehen sei, weil er überwiegend selbständig tätig sei und beabsichtige, diese Tätigkeit auch weiterhin auszuüben. Gleichzeitig forderte sie vom Kläger die für die Zeit vom 5. Januar bis 3. März 1976 in Höhe von 1.359,66 DM gezahlte Alhi zurück.

Der Kläger hatte mit einem Sozius in seiner Wohnung in S-/T eine Anwaltskanzlei eingerichtet; das am Hauseingang angebrachte Kanzleischild wies Bürostunden von montags bis freitags von jeweils 8.30 Uhr bis 12.30 Uhr und von 14.00 Uhr bis 18.00 Uhr, ferner Sprechstunden von montags bis freitags, jeweils von 16.00 Uhr bis 18.00 Uhr sowie nach Vereinbarung auf. Im ersten Quartal des Jahres 1976 hatten der Kläger und sein Sozius Einnahmen in Höhe von 7.452,14 DM und Ausgaben in Höhe von 8.629,23 DM. In der Zeit von Januar bis Ende Juni 1976 sind nach Angaben des Klägers 128 Akten angelegt worden, wovon die Hälfte auf ihn entfallen ist; dies ergebe bei einem Arbeitsanfall von 10 bis 11 Akten im Monat eine Bearbeitungsdauer von etwa 20 Stunden im Monat. Zu seinen Berufszielen gab der Kläger an, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes sei zwar das Endziel seiner beruflichen Ausbildung gewesen; er habe jedoch wegen der mangelnden Auslastung in der Anfangszeit beabsichtigt, eine unselbständige Tätigkeit, zB in der Rechtsabteilung einer Bank oder Versicherungsgesellschaft, auszuüben und nebenbei versuchen zu wollen, sich als Rechtsanwalt eine Existenzgrundlage für später zu schaffen.

Widerspruch und Klage, mit der der Kläger die Gewährung von Alhi auf die Zeit bis zum 30. Juni 1976 beschränkt hatte, sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 22. November 1976; Urteil des Sozialgerichts -SG- Frankfurt vom 3. März 1978). Die Berufung des Klägers ist vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen worden (Urteil vom 21. Februar 1980). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Beklagte habe gem § 151 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) die Bewilligung aufheben können, da dem Kläger vom Zeitpunkt seiner Niederlassung als Anwalt am 5. Januar 1976 bis zum 30. Juni 1976 ein Anspruch auf Alhi nicht mehr zustehe. Der Kläger sei in dieser Zeit nicht arbeitslos gewesen, wie dies § 134 Abs 1 Nr 1 AFG ua voraussetze. Der Kläger übe nämlich als Selbständiger eine Tätigkeit aus, die die Grenze der Geringfügigkeit (§ 102 AFG) überschreite. Dabei sei ein objektiver Maßstab anzulegen, dh zu fragen, ob bei normalem Ablauf ein durchschnittlich Begabter weniger als 20 Stunden für die Arbeiten benötige. Hierbei komme es nicht darauf an, wie lange der Kläger tätig geworden sei; entscheidend sei vielmehr, daß die Tätigkeit eines selbständigen Rechtsanwalts ihrer Art und ihrem Wesen nach nicht auf weniger als 20 Stunden wöchentlich beschränkt zu sein pflege. Dies könne nur der Fall sein, wenn die Anwaltstätigkeit durch bestimmte äußere Vorkehrungen von vornherein in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt werde. Aus den vom Kläger öffentlich bekannt gemachten Sprechzeiten könne nicht auf eine derartige zeitliche Begrenzung geschlossen werden, da die für Vor- und Nacharbeiten erforderliche Zeit weder objektiv faßbar noch in irgendeiner Weise von vornherein zeitlich beschränkt sei. Dies hänge von dem sich aus dem Abhalten von Sprechstunden ergebenden Arbeitsanfall ab, dem von der Natur der Sache her keine zeitliche Beschränkung immanent sei. Auch die von vornherein zeitlich kaum einschränkbare Tätigkeit bei Gericht entziehe sich der objektiven Einschätzung. Sei die vom Kläger ausgeübte Anwaltstätigkeit weder durch selbstgesetzte interne Beschränkungen noch von dem äußeren Anbieten dieser Tätigkeit her zeitlich auf weniger als 20 Stunden wöchentlich begrenzt, so sei sie der Natur der Sache nach nicht geringfügig bzw kurzzeitig.

Die Rückzahlungspflicht ergebe sich aus § 152 AFG. Der Kläger, der bei der Antragstellung am 1. Dezember 1975 die Frage nach einer selbständigen Tätigkeit verneint habe, habe fahrlässig gehandelt, indem er nicht auf die beantragte Zulassung zur Anwaltschaft bzw den bevorstehenden Beginn seiner selbständigen Tätigkeit als Anwalt hingewiesen habe. Eine entsprechende Mitteilungspflicht habe sich aus dem mit der Antragstellung begründeten Sozialrechtsverhältnis ergeben. Darüber hinaus habe es der Kläger jedenfalls grob fahrlässig unterlassen, der Beklagten von seiner erfolgten Zulassung als Rechtsanwalt Mitteilung zu machen; hierzu sei er gem § 60 Abs 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) verpflichtet gewesen.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 101 AFG und des § 60 Abs 1 SGB I. Die Auffassung des LSG, daß er nicht arbeitslos gewesen sei, sei unzutreffend. Es sei insoweit ausreichend, daß er trotz seiner Zulassung zur Rechtsanwaltschaft die feste Absicht gehabt habe, für mindestens vier Jahre als Unselbständiger tätig zu sein und sich bis in das Jahr 1980 hinein um eine Angestelltentätigkeit bemüht habe. Seine Arbeit in der Anwaltskanzlei sei der Versuch gewesen, eine Alternative für den Fall zu schaffen, daß er binnen drei Jahren seit Arbeitslosmeldung nicht vermittelt werden würde. Er habe auch mindestens bis zum 30. Juni 1976 eine geringfügige Tätigkeit ausgeübt. Das LSG habe trotz der von ihm angebotenen Beweise nicht aufgeklärt, ob die Grenze der Kurzzeitigkeit bzw Geringfügigkeit überschritten worden sei, weil es von einem unzutreffenden Begriff der "Natur der Sache" ausgegangen sei.

Hinsichtlich der Rückforderung habe das LSG § 60 Abs 1 SGB I verletzt. Bereits bei der Arbeitslosmeldung habe er angegeben, daß er Rechtsanwalt sei; dies sei unstreitig, aber unzutreffend gewürdigt worden. Die Voraussetzungen des § 60 Abs 1 Nr 2 SGB I seien nicht erfüllt, weil er bereits vor seiner Arbeitslosmeldung Praxisräume angemietet habe, um den Voraussetzungen der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) hinsichtlich der Zulassung zu genügen, so daß eine Änderung der Verhältnisse seit der Arbeitslosmeldung nicht eingetreten sei.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil des Hessischen Landessozialgerichts

aufzuheben und unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger unter Aufhebung der ihm

erteilten Bescheide Arbeitslosenhilfe bis einschließlich

30. Juni 1976 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie nimmt auf das Urteil des LSG Bezug.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist iS der Zurückweisung der Sache an das LSG begründet.

Der Kläger begehrt in der Sache Wiederherstellung des Bescheides vom 26. Januar 1976, soweit ihm mit diesem Alhi für die Zeit vom 5. Januar bis 30. Juni 1976 bewilligt worden ist. An die dem entgegenstehende Fassung seines Antrages, mit dem er neben der Anfechtung der die Bewilligung aufhebenden Bescheide die Verurteilung der Beklagten zur Leistung von Alhi bis 30. Juni 1976 begehrt, ist der Senat nicht gebunden (§ 123 Sozialgerichtsgesetz -SGG-)? vielmehr ist sein Begehren dahin umzudeuten, daß er die Aufhebungsbescheide - teilweise - in dem Umfange anficht, in dem mit ihnen die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 5. Januar bis 30. Juni 1976 aufgehoben worden ist.

Rechtsgrundlage der Aufhebung der Bewilligung der Alhi ist § 151 Abs 1 AFG idF vom 25. Juni 1969 (BGBl I 582). Diese Vorschrift ist zwar durch Art II § 2 Nr 1 Buchst a des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) gestrichen worden. Das SGB X ist jedoch gem Art II § 40 Abs 1 SGB X erst am 1. Januar 1981 in Kraft getreten. Die Rechtmäßigkeit der vor dem 1. Januar 1981 erfolgten Aufhebungen von Bewilligungen im Arbeitsförderungsrecht ist daher weiterhin nach § 151 Abs 1 AFG zu beurteilen. Danach sind Entscheidungen, durch die Leistungen bewilligt worden sind, insoweit aufzuheben, als die Voraussetzungen für die Leistungen nicht vorgelegen haben oder weggefallen sind. Ob, wie das LSG angenommen hat, die Alhi-Voraussetzungen für die Zeit vom 5. Januar bis 30. Juni 1976 beim Kläger weggefallen waren, läßt sich aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden.

Nach § 134 Abs 1 AFG in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113) hat Anspruch auf Alhi, wer arbeitslos ist, der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht, sich beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet hat, keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) hat, bedürftig ist und außerdem innerhalb eines Jahres vor der Arbeitslosmeldung, die dem Antrag auf Alhi vorausgeht, mindestens 10 Wochen in entlohnter Beschäftigung gestanden hat. An die Stelle einer ganz oder teilweise fehlenden entlohnten Beschäftigung tritt nach § 1 Nr 1 der Arbeitslosenhilfe-Verordnung vom 7. August 1974 (BGBl I 1929) ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis? in einem solchen Dienstverhältnis hat sich der Kläger bis zur Ablegung der Zweiten juristischen Staatsprüfung als Referendar befunden.

Nach § 101 Abs 1 Satz 1 AFG (in der bis 1. Juli 1977 geltenden Fassung vom 25. Juni 1969, BGBl I 582), der für die Alhi entsprechend gilt (§ 134 Abs 2 AFG), ist arbeitslos ein Arbeitnehmer, der vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht oder nur eine geringfügige Beschäftigung ausübt. Arbeitsloser Arbeitnehmer ist danach, wer im Zeitpunkt der Antragstellung und während der Zeit der anschließenden faktischen Beschäftigungslosigkeit zu den Personen zählt, die andernfalls in dieser Zeit eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange ausüben würden; es ist nicht erforderlich, daß der Antragsteller berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflegt (BSGE 41, 229 = SozR 4100 § 101 Nr 1; BSGE 42, 76, 77 = SozR 4100 § 101 Nr 2; BSGE 44, 164, 167 = SozR 4100 § 134 Nr 3).

Danach kann auch der Kläger arbeitslos iS des § 101 Abs 1 Satz 1 AFG sein. Trotz seiner Zulassung zur Rechtsanwaltschaft kann der Kläger einer abhängigen Beschäftigung nachgehen. Zwar übt der Rechtsanwalt einen freien Beruf aus (§ 2 Abs 1 BRAO); dieser freie Beruf kann jedoch in abhängiger Beschäftigung, nämlich als Angestellter eines Rechtsanwalts, ausgeübt werden (vgl BSG AnwBl 1970, 52; Isele, Komm zur BRAO 1976, 715). Außerdem darf der Anwalt neben einer abhängigen Beschäftigung selbständig in seiner Eigenschaft als Rechtsanwalt tätig werden, selbst wenn das Beschäftigungsverhältnis die Arbeitszeit und -kraft des Rechtsanwalts überwiegend in Anspruch nimmt; denn § 46 BRAO, der in diesen Fällen dem Rechtsanwalt untersagt, vor Gerichten und Schiedsgerichten für den Arbeitgeber als Anwalt aufzutreten, setzt die Zulässigkeit solcher Beschäftigungsverhältnisse von Rechtsanwälten gerade voraus (BGHZ 33, 266, 267 f; 71, 138, 140). Allerdings ist nicht jede abhängige Beschäftigung neben der Anwaltschaft möglich; die Zulassung wird nicht erteilt bzw kann zurückgenommen werden, wenn der Anwalt eine Tätigkeit ausübt, die mit dem Beruf eines Rechtsanwalts oder mit dem Ansehen der Rechtsanwaltschaft nicht vereinbar ist (§ 7 Nr 8, § 15 Nr 2 BRAO). Grundsätzlich schließt die Zulassung jedoch die Aufnahme einer abhängigen Beschäftigung nicht aus.

Reicht es nach § 101 Abs 1 Satz 1 AFG aus, daß der Antragsteller während der faktischen Beschäftigungslosigkeit zu den Personen zählt, die andernfalls in dieser Zeit eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange ausüben würden, können auch Personen, die nur für eine Übergangszeit eine abhängige Beschäftigung suchen, arbeitslos sein; maßgebend ist, ob der Antragsteller bei Antragstellung und während der Zeit, für die Alg bzw Alhi begehrt wird, eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange anstrebt. Daher kann Arbeitslosigkeit nicht nur bei dem Rechtsanwalt vorliegen, der nach Verlust seines Beschäftigungsverhältnisses die nebenbei betriebene selbständige Tätigkeit geringen Umfangs beibehalten will oder bemüht ist, die Kanzlei, die er nach § 27 Abs 1 BRAO von Amts wegen zu unterhalten hat, nunmehr bis zu einem solchen Umfange auszubauen; auch der Rechtsanwalt, der letztlich - wie der Kläger - nur selbständig tätig werden will, kann arbeitslos sein, solange er ua zur Absicherung seiner Existenz für eine Übergangszeit eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange anstrebt (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 25. August 1981 - 7 RAr 68/80 -, nicht zur Veröffentlichung vorgesehen). Wesen und Zweck der Leistungen wegen Arbeitslosigkeit stehen dem nicht entgegen. Zwar ist es nicht Aufgabe von Alg und Alhi, die Gründung selbständiger Tätigkeiten zu fördern; ebenso wie der Arbeitnehmer jedoch seinen Lohn hierzu verwenden kann, kann ihm bei Arbeitslosigkeit nicht verwehrt werden, Lohnersatzleistungen hierfür einzusetzen, sofern ihm solche zustehen.

Daß der Kläger in der hier streitigen Zeit, wenn er nicht faktisch beschäftigungslos gewesen wäre, eine abhängige Beschäftigung von mehr als geringfügigem Umfange ausgeübt hätte, hat das LSG nicht näher geprüft. Es hat vielmehr die Arbeitslosigkeit des Klägers verneint, weil nach § 101 Abs 1 Satz 2 AFG nicht arbeitslos ist, wer eine Tätigkeit als Selbständiger ausübt, die die Grenze des § 102 AFG überschreitet. Nach § 102 AFG ist geringfügig eine Beschäftigung, die auf weniger als 20 Stunden wöchentlich der Natur der Sache nach beschränkt zu sein pflegt oder im voraus durch einen Arbeitsvertrag beschränkt ist; gelegentliche Abweichungen von geringer Dauer bleiben unberücksichtigt. Ob die selbständige Tätigkeit des Klägers geringfügig war, ist somit nach der Natur der Sache, dh nach der Art und dem Umfange der anfallenden Verrichtungen sowie den zeitlichen Umständen ihrer Erledigung zu beurteilen. Dem § 102 AFG liegt die Erwägung zugrunde, daß ein Arbeitnehmer, der innerhalb der Geringfügigkeitsgrenze tätig oder beschäftigt ist, daneben noch eine mehr als geringfügige Beschäftigung ausüben kann und deshalb wegen der ausgeübten Beschäftigung oder Tätigkeit dem Arbeitsmarkt nicht entzogen ist (vgl BSGE 2, 67, 77; 3, 1, 3). Daher bleibt bei der Beurteilung, ob eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit geringfügig ist, die Mitarbeit Dritter bei der Beschäftigung oder der selbständigen Tätigkeit außer Betracht (vgl BSGE 18, 222, 224; Urteil des Senats vom 17. März 1981 - 7 RAr 19/80 - mwN); andererseits sind die individuellen Besonderheiten der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer ausführen soll oder will, zu berücksichtigen. Maßgebend ist, ob bei normalem Ablauf der Ereignisse ein durchschnittlich begabter Ausführender mit durchschnittlichen Fähigkeiten unter üblichen Bedingungen nicht mehr bzw weniger als 20 Stunden benötigt oder nicht; es ist mithin ein objektiver Maßstab anzulegen, dh darauf abzustellen, welche Zeit normalerweise benötigt wird. Generalisiert wird dabei nicht die Tätigkeit als solche, sondern die Fähigkeit des Ausführenden. Das bedeutet einerseits, daß es nicht auf die individuellen Fähigkeiten des Antragstellers ankommt, sondern auf durchschnittliche, daß aber andererseits nicht von einer abstrakten, generalisierten Tätigkeit auszugehen ist, sondern von den konkreten Verrichtungen, die der Antragsteller voraussichtlich vornehmen muß bzw vorzunehmen hat (vgl BSG SozR 4100 § 102 Nr 4; Urteil des Senats vom 21. Mai 1980 - 7 RAr 31/79 -; Urteil des Senats vom 17. März 1981 - 7 RAr 19/80 -).

Auch wenn es um das Ausmaß der selbständigen Tätigkeit eines Rechtsanwalts geht, sind die individuellen Besonderheiten der Tätigkeit des Antragsteller zu berücksichtigen; der Rechtsanwalt ist nämlich nicht gehalten, in einem zeitlich bestimmten Umfange den Rechtsuchenden zur Verfügung zu stehen. Es gehört vielmehr zum Wesen der freien und unabhängigen Berufsausübung des Rechtsanwalts (§§ 1, 2 Abs 1 BRAO), daß er selbst bestimmen kann, wieviele und welche Aufträge er übernehmen und durchführen will (vgl § 44 BRAO). Nicht nur durch die Zahl, sondern auch durch die Art der zu übernehmenden Aufträge sowie durch den Einsatz von Mitarbeitern und Hilfsmitteln läßt sich der Umfang der Verrichtungen, die der selbständige Rechtsanwalt schließlich selbst ausführen muß, verringern. So kann sich der Rechtsanwalt auf eine reine Rechtsberatung spezialisieren. Abgesehen von den Fällen der §§ 48 und 49 BRAO (Beiordnungen und Pflichtverteidigungen) ist der Anwalt zu forensischer Tätigkeit nicht verpflichtet (BGHZ 53, 103, 105); Beiordnungen und Pflichtverteidigungen lassen sich zudem abwenden (vgl §§ 48 Abs 2, 49 Abs 2 BRAO). In der Gestaltung seiner Mandate unterliegt er keiner Beschränkung (BGH aaO). Deshalb ist die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wegen des Umfangs einer anderen Tätigkeit solange nicht ausgeschlossen, als der Bewerber rechtlich und tatsächlich in der Lage ist, den Anwaltsberuf in einem, wenn auch beschränkten, so doch irgendwie nennenswerten Umfange und jedenfalls mehr als gelegentlich auszuüben; lediglich nur eine geringfügige Möglichkeit, sich als Rechtsanwalt zu betätigen, schließt die Zulassung aus (vgl BGHZ 33, 266, 268; 71, 138, 140 f mwN). Das für eine ordnungsgemäße Ausübung des Anwaltsberufs (noch) zulässige Maß der Beschränkung kann nicht schematisch, etwa in bestimmten Bruchteilen der Arbeitszeit und Arbeitskraft festgelegt werden (BGHZ 71, 138, 140). Von Gesetzes wegen ist mithin kein Rechtsanwalt gehindert, seine anwaltliche Tätigkeit derart zu gestalten, daß sie iS des § 102 AFG der Natur der Sache nach auf weniger als 20 Stunden in der Woche beschränkt ist.

Feststellungen, wie viele Stunden in der Woche ein durchschnittlich begabter Rechtsanwalt benötigt, um die Arbeiten zu verrichten, die für den Kläger in seiner Praxis anfielen, hat das LSG nicht getroffen. Es ist vielmehr davon ausgegangen, die Tätigkeit eines selbständigen Rechtsanwalts pflege ihrer Art und ihrem Wesen nach nicht auf weniger als 20 Stunden wöchentlich beschränkt zu sein, es sei denn, daß das Tätigkeitsfeld des Anwalts durch geeignete äußere Vorkehrungen begrenzt werde. Entsprechend hat das LSG lediglich geprüft, welche äußeren Vorkehrungen der Kläger getroffen hat und ob diese geeignet sind, hinsichtlich der behaupteten Begrenzung seiner Tätigkeit ausreichende Schlußfolgerungen zuzulassen; dies hat das LSG für die angekündigten Sprechzeiten verneint. Dem kann nicht gefolgt werden, mag auch die Feststellung des Umfangs der selbständigen Tätigkeit, besonders der eines Rechtsanwalts, schwierig sein. Einen Rechts- oder Erfahrungssatz, wie ihn das LSG seiner Entscheidung zugrundegelegt hat, gibt es nicht. Selbständige Rechtsanwälte müssen, wie dargestellt, ihren Beruf nicht vollzeitig bzw in einem bestimmten zeitlichen Umfange ausüben; sie können sich vielmehr, wie es vielfach geschieht, auf einen selbst gewählten zeitlichen Rahmen beschränken. Insbesondere trifft es nicht zu, daß die selbständige Tätigkeit eines Rechtsanwalts nur dann geringfügig im Rechtssinne ist, wenn der Anwalt sein Tätigkeitsfeld durch geeignete äußere Vorkehrungen begrenzt hat; allerdings können solche Vorkehrungen den Nachweis erleichtern, daß der Rechtsanwalt, der Alg oder Alhi beantragt hat, trotz seiner Tätigkeit arbeitslos ist, sowie objektiv und subjektiv der Arbeitsvermittlung für eine Tätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zur Verfügung steht, also auch eine hinsichtlich ihrer Dauer übliche Tätigkeit aufnehmen will und kann (vgl BSGE 42, 76, 83 f = SozR 4100 § 101 Nr 2).

Fehlen mithin die erforderlichen Feststellungen über den Umfang der selbständigen Tätigkeit des Klägers, ist die Revision begründet. Die Klageabweisung erweist sich auch nicht aufgrund der bisherigen Feststellungen des LSG aus anderen Gründen, etwa wegen fehlender Arbeitnehmereigenschaft und Verfügbarkeit, als richtig. Insoweit hat das LSG - von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht - ebenfalls noch keine Feststellungen getroffen, die es nachzuholen haben wird. Dem Senat ist deshalb eine Entscheidung in der Sache selbst, auch soweit sie die Rückforderung betrifft, verwehrt. Das Urteil des LSG ist daher gem § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

Bei der erneuten Entscheidung über die Frage, ob eine (selbständige) Tätigkeit geringfügig ist, wird das LSG zu beachten haben, daß zwar grundsätzlich auf die voraussichtliche Entwicklung bei Beginn der (selbständigen) Tätigkeit bzw einer Änderung dieser Tätigkeit abzustellen ist; jedoch kann in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Geringfügigkeit einer selbständigen Tätigkeit nur für einen relativ überschaubaren Zeitraum - hier sechs Monate - zu beurteilen ist und der tatsächliche Verlauf dieser Tätigkeit inzwischen bekannt ist, auch auf das Ende des Zeitraums abgestellt werden, für den Leistungen begehrt werden. Es ist daher zunächst festzustellen, welche Verrichtungen nach der Art und Weise, wie der Kläger seine Praxis aufgebaut hat, auf ihn entfallen sind und wie der Kläger die anfallenden Arbeiten erbracht hat. Falls sich der Kläger in bestimmtem zeitlichen Umfange bzw zu bestimmten Stunden für die Erledigung anwaltlicher Tätigkeiten bereitgehalten hat, ist diese Zeit voll zu berücksichtigen, selbst wenn der Kläger sie nicht mit der Bearbeitung von Aufträgen ausfüllen konnte. Das gleiche gilt für sonstige Zeiten, die der Kläger regelmäßig aufgewendet hat, um auf andere Weise Mandate zu erhalten. Ebenso wird zu berücksichtigen sein, daß der Kläger seine anwaltliche Praxis mit einem Sozius betrieben hat, so daß er mit diesem Absprachen hinsichtlich der Wahrnehmung der Sprechzeiten sowie der Ausübung der sonstigen Tätigkeiten getroffen haben kann. Je nach den Umständen können auch Einrichtungen und Ausstattung des Büros den behaupteten Umfang der Tätigkeit bestätigen; denn im allgemeinen werden Einrichtung und Ausstattung der jeweiligen Inanspruchnahme angepaßt.

Für die Beurteilung, welchen zeitlichen Aufwand die Verrichtungen erfordert haben, die der Kläger zu erbringen hatte, ist, wie das LSG nicht verkannt hat, nicht entscheidend, wie lange der Kläger persönlich für die Bearbeitung gebraucht hat; allerdings sollte das LSG beachten, daß, je mehr Zeit der Kläger für seine Anwaltstätigkeit benötigt hat, seine Verfügbarkeit eingeschränkt wird (vgl BSGE 42, 76, 83 f = SozR 4100 § 101 Nr 2). Es ist vielmehr auf einen Rechtsanwalt mit durchschnittlichen Fähigkeiten und Kenntnissen abzustellen. Hierbei sollte sich das LSG ggf sachverständiger Hilfe bedienen. Sollte sich nicht klären lassen, ob die Tätigkeit des Klägers geringfügig war oder nicht oder ob sonstige Voraussetzungen des Alhi-Anspruchs mit der Aufnahme der selbständigen Anwaltstätigkeit entfallen sind, wird das LSG zu beachten haben, daß bei der Aufhebung der Bewilligung einer Leistung im allgemeinen die Beklagte den Nachteil der Nichterweislichkeit trägt, daß die Voraussetzungen für die Leistung weggefallen sind.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657014

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