Leitsatz (redaktionell)

Bei Streit über die Pflegezulage eines erwerbsunfähigen Hirnverletzten gemäß BVG § 35 Abs 1 S 4 und über den Berufsschadensausgleich gemäß BVG § 30 Abs 3 handelt es sich nicht um Streitigkeiten, welche die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit iS des SGG § 148 Nr 3 betreffen.

Die Zulässigkeit des Rechtsmittels ist für jeden Anspruch gesondert zu prüfen, wenn in dem Rechtsstreit mehrere selbständige prozessuale Ansprüche geltend gemacht werden. Bei einem Anspruch, für den die Berufung ausgeschlossen ist, ist die Berufung auch dann nicht zulässig, wenn er zusammen mit einem anderen, berufungsfähigen Anspruch geltend gemacht wird.

Eine Verletzung des auch für die Sozialgerichtsbarkeit geltenden Grundsatzes des Verbotes der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers (reformatio in peius) verstößt nicht gegen die das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozeßhandlung betreffenden Vorschriften, sondern gegen das das Verfahren selbst nicht berührende materielle Prozeßrecht.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 S. 4 Fassung: 1964-02-21, § 30 Abs. 3 Fassung: 1964-02-21; SGG § 148 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 1964 insoweit aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen, als die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Januar 1964 wegen der Pflegezulage und des Berufsschadensausgleichs als unzulässig verworfen worden ist.

2. Im übrigen wird die Revision des Klägers als unzulässig verworfen.

3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Der ... 1894 geborene Kläger, der von Beruf Schneider ist, erhielt nach den Vorschriften des früheren Reichsversorgungsgesetzes (RVG) wegen einer im ersten Weltkrieg erlittenen Kopfschußverletzung Rente, und zwar zuletzt nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v. H.. Nachdem er im Mai 1961 nach Westberlin geflohen war, erkannte das Versorgungsamt (VersorgA) auf seinen Antrag mit Bescheid vom 6. Februar 1962 "Psychische Folgen eines durchdringenden Schädelschusses" im Sinne der Entstehung als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) an und gewährte Rente nach einer MdE um 80 v. H. vom 1. Juni 1961 an. In seinem Widerspruch beantragte der Kläger die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen und unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins die Gewährung einer Rente nach einer MdE um 100 v. H. sowie die Zuerkennung der "Pflegezulage nach § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG". Ferner begehrte er eine Schwerstbeschädigtenzulage und einen Berufsschadensausgleich. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 7. Januar 1963).

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) ein Gutachten von Dr. W eingeholt, der die durch die Schädigungsfolge bedingte MdE mit 80 v. H. bewertet und ausgeführt hat, daß Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG nicht bestehe. Auf Grund dieses Gutachtens bezeichnete das VersorgA die anzuerkennenden Gesundheitsstörungen im Bescheid vom 20. Februar 1964 mit "Hirnkontusion mit durchdringender Verletzung des linken Scheitelbeines mit zentral-vegetativen Regulationsstörungen sowie erheblicher Hirnleistungsschwäche und Wesensänderung".

In der letzten mündlichen Verhandlung vor dem SG hat der Kläger den Antrag gestellt, ihm unter Abänderung der Verwaltungsentscheidungen Rente nach einer MdE um 100 v. H. sowie eine Pflegezulage für Hirnverletzte und einen Berufsschadensausgleich zu gewähren. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 28. Januar 1964 abgewiesen und ausgeführt, es habe auf Grund des Gutachtens von Dr. W die Überzeugung gewonnen, daß der Kläger allein durch die Folgen der traumatischen Hirnverletzung gemäß § 30 Abs. 1 BVG in seiner Erwerbsfähigkeit um 80 v. H. gemindert sei. Die Rente eines Erwerbsunfähigen stehe ihm jedoch nicht zu, weil bei ihm schädigungsunabhängig noch eine altersbedingte Arteriosklerose bestehe, die zu der Erwerbsunfähigkeit führe. Eine besondere Berücksichtigung des Knochendefektes am Schädel bei der Bemessung der Höhe der MdE sei nicht möglich, weil der Knochendefekt bereits in der Bewertung der Höhe der MdE mit 80 v. H. mitenthalten sei. Der Kläger sei auch nicht besonders beruflich betroffen. Die Hirnverletzung schränke den Kläger in seinem Beruf als Schneider nicht mehr ein, als dies in einem anderen Beruf des allgemeinen Erwerbslebens der Fall wäre. Das SG hat die Berufung nur für den Fall als zulässig bezeichnet, daß ein wesentlicher Verfahrensmangel gemäß § 150 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gerügt werde.

Der Kläger hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt und in seiner Berufungsbegründung vom 14. Juli 1964 die Auffassung vertreten, daß die Berufung wegen des geltend gemachten Anspruchs auf Pflegezulage in jedem Falle zulässig sei. Darüber hinaus sei die Berufung auch deshalb zulässig, weil wesentliche Mängel im Verfahren des SG im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG vorlägen. Mit näheren Ausführungen hat der Kläger gerügt, daß sich das SG mit der Frage der Gewährung einer Pflegezulage in dem angefochtenen Urteil überhaupt nicht auseinandergesetzt habe. Im übrigen hätte das SG die Berufung zulassen müssen, weil es von der Rechtsprechung des Landessozialgerichts (LSG) hinsichtlich der besonderen Bewertung des Knochendefektes bei der Beurteilung des Grades der MdE abgewichen sei. Ferner habe das SG nicht berücksichtigt, daß die Versorgungsverwaltung im Widerspruchsbescheid ein besonderes berufliches Betroffensein des Klägers anerkannt habe, so daß das Gericht ebenfalls von einem solchen Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG hätte ausgehen müssen.

Das LSG hat mit Urteil vom 23. Oktober 1964 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 28. Januar 1964 als unzulässig verworfen. Es hat ausgeführt, daß die Berufung nach § 148 Nr. 3 SGG unzulässig sei. Entgegen der Auffassung des Klägers sei das SG nicht verpflichtet gewesen, die Berufung gemäß § 150 Nr. 1 SGG zuzulassen. Zutreffend sei das SG davon ausgegangen, daß im vorliegenden Fall der Knochendefekt am Schädel des Klägers keine besondere Bewertung in der Höhe der MdE nach sich ziehe. Im übrigen sei das LSG, selbst wenn das SG die Berufung zu Unrecht nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen habe, an diese Entscheidung gebunden.

Ein wesentlicher Mangel im Verfahren des SG im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG liege nicht vor. Das SG habe die Gewährung der akzessorischen Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG und des akzessorischen Berufsschadensausgleichs gemäß § 30 Abs. 3 BVG abgelehnt, weil es die Bemessung des Grades der MdE mit 80 v. H. als zutreffend und damit den Kläger nicht als erwerbsunfähigen Hirnverletzten angesehen habe. Damit habe es die gesetzlichen Voraussetzungen dieser beiden Ansprüche verneint. Insoweit handle es sich um eine sachlich-rechtliche Auffassung, in der ein Verfahrensmangel nicht zu erkennen sei. Das SG habe auch nicht, wie der Kläger meine, über die Gewährung einer Pflegezulage wegen Hilflosigkeit nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG zu entscheiden brauchen. Der Kläger habe im Verfahren vor den Versorgungsbehörden und vor dem SG insbesondere in seinem Schriftsatz vom 14. Mai 1963 nur die obligatorische Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG begehrt. Dies ergebe sich auch aus seinem zuletzt vor dem SG gestellten Antrag auf Gewährung einer Pflegezulage für "Hirnverletzte". Insoweit liege ein Verfahrensmangel durch das SG nicht vor. Das gleiche gelte hinsichtlich der Beurteilung des beruflichen Betroffenseins durch das SG. Insoweit würde es sich hierbei höchstens um einen materiell-rechtlichen Fehler des angefochtenen Urteils handeln, nicht aber um einen Verfahrensmangel. Es liege auch insbesondere keine fehlerhafte Beweiswürdigung durch das SG vor, wenn es zu der Entscheidung komme, daß mit der festgesetzten MdE auch die beruflichen Folgen hinreichend berücksichtigt seien.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Gegen dieses ihm am 26. November 1964 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 15. Dezember, beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen am 21. Dezember 1964, Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 26. Februar 1965 mit einem am 24. Februar 1965 beim BSG eingegangenen Schriftsatz vom 22. Februar 1965 begründet. Er beantragt,

in Abänderung des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 1964 das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Januar 1964 und den Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Berlin vom 7. Januar 1963 aufzuheben sowie den Bescheid des Versorgungsamtes ... B vom 6. Februar 1962 dahingehend abzuändern, daß der Beklagte verurteilt wird, dem Kläger vom 1. Juli 1961 an Rente eines Erwerbsunfähigen sowie die Pflegezulage der Stufe I und einen Berufsschadenausgleich zu gewähren,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 1964 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Zur Begründung trägt er insbesondere vor, das LSG habe zu Unrecht die Berufung gegen das Urteil erster Instanz als unzulässig verworfen; vielmehr hätte das LSG in der Sache selbst entscheiden müssen, weil die Berufung zulässig gewesen sei. Bereits vor dem LSG habe der Kläger darauf hingewiesen, daß das SG noch ein fachärztliches Gutachten darüber hätte einholen müssen, inwieweit durch den erheblichen Knochendefekt des Schädels mit Verlust von Knochensubstanz die Schädigungsfolgen mit einer MdE um 80 v. H. ausreichend bewertet worden seien. Im übrigen sei die Berufung gegen das Urteil des SG deshalb zulässig gewesen, weil sie die erstmalige Feststellung des Anspruchs auf Pflegezulage betraf. Hierzu hätte das LSG weiteren Beweis erheben müssen. Es treffe nicht zu, daß der Kläger im Verfahren erster Instanz zu erkennen gegeben habe, eine Pflegezulage wegen Hilflosigkeit nicht zu begehren. Schließlich handele es sich bei der Frage, ob Hilflosigkeit vorliege, um eine reine Tatfrage. Es hätte durch Anhörung des Klägers und der ihn betreuenden Personen geklärt werden müssen, ob tatsächlich Hilflosigkeit bestehe oder nicht.

Im übrigen wird auf die Revisionsbegründung verwiesen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zu verwerfen.

Er ist der Auffassung, daß ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG nicht vorliege.

Da das LSG die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat und der Kläger eine Gesetzesverletzung bei der Anwendung der in der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht gerügt hat, findet die Revision nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird (BSG 1, 150).

Der Kläger rügt zutreffend, daß das LSG die Berufung nicht als unzulässig hatte verwerfen dürfen, soweit sie den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Pflegezulage und Berufsschadensausgleich betraf. Das LSG hat ausgeführt, der Kläger habe sowohl im Verwaltungsverfahren als auch vor dem SG nur die sogenannte obligatorische Pflegezulage gemäß § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG, also die Gewährung einer Pflegezulage als erwerbsunfähiger Hirnverletzter begehrt. Das SG habe den Anspruch auf Pflegezulage und auf Gewährung des Berufsschadensausgleichs deshalb verneint, weil es bei der dem Kläger wegen der anerkannten Schädigungsfolgen zustehenden MdE um 80 v. H. ihn nicht als erwerbsunfähigen Hirnverletzten angesehen habe. Das Berufungsgericht ist offenbar der Auffassung, daß es sich bei dem Streit über die Pflegezulage eines erwerbsunfähigen Hirnverletzten gemäß § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG und über den Berufsschadensausgleich gemäß § 30 Abs. 3 BVG um Streitigkeiten handelt, welche die Höhe der MdE im Sinne des § 148 Abs. 3 SGG betreffen. Diese Auffassung geht jedoch fehl. Der Kläger hat in der Berufungsinstanz - ebenso wie vor der Versorgungsbehörde und dem SG - die Erhöhung des Grades der MdE von 80 auf 100 v. H., die Gewährung einer Pflegezulage und des Berufsschadensausgleichs begehrt. Hinsichtlich der Pflegezulage handelt es sich um ihre erstmalige Bewilligung, denn vor der Erteilung der angefochtenen Bescheide vom 6. Februar 1962 und 20. Februar 1964 war dem Kläger eine Pflegezulage noch nicht bewilligt worden. Die Berufung betraf daher insoweit keine Neufeststellung der Pflegezulage wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG (§ 148 Nr. 3 SGG), sondern die erstmalige Bewilligung der Pflegezulage. In einem solchen Fall ist aber die Berufung nach § 148 Nr. 3 SGG nicht ausgeschlossen (BSG 3, 271, 274; 8, 97; BSG in SozR SGG § 148 Nr. 13 und Nr. 17). Aus dem Umstand, daß der Kläger sowohl im Verwaltungsverfahren wie auch vor dem SG mit unterschiedlichen Formulierungen die "Pflegezulage eines Hirnverletzten" begehrt hat, folgt noch nicht, daß dieser Anspruch an der Berufungsausschließung nach § 148 Nr. 3 SGG teilnehmen muß, weil in demselben Verfahren auch die Höhe der MdE streitig ist. Der Anspruch auf Pflegezulage ist ein selbständiger, von anderen Versorgungsleistungen unabhängiger Anspruch des Beschädigten. Seine Voraussetzungen sind in § 35 BVG besonders geregelt. Nach § 35 BVG steht einem Beschädigten dann die Pflegezulage zu, wenn er hilflos (§ 35 Abs. 1 Satz 1 BVG) ist oder erblindet oder erwerbsunfähiger Hirnverletzter ist. Insoweit handelt es sich um verschiedene, die Pflegezulage begründete Tatbestände. Wenn der Kläger im gesamten Verfahren die Pflegezulage begehrt und dazu ausgeführt hat, er beziehe sich insoweit auf die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 4 BVG, so hat er damit nur eine Begründung seines Anspruchs auf Pflegezulage dargetan. Die Berufung betrifft aber trotzdem immer den Anspruch auf Pflegezulage, der grundsätzlich unter allen in § 35 Abs. 1 BVG genannten Voraussetzungen vom Gericht zu prüfen ist. Der betreffende streitige Anspruch, nicht aber dessen Begründung ist ausschlaggebend für die Zulässigkeit der Berufung. Betraf somit die Berufung den erstmaligen Anspruch des Klägers auf Pflegezulage, so liegen die Ausschließungsgründe gemäß § 148 Nr. 3 SGG nicht vor, so daß das LSG hinsichtlich des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Pflegezulage die Berufung nicht als unzulässig hätte verwerfen dürfen; vielmehr wäre es verpflichtet gewesen, in der Sache selbst zu entscheiden.

Das gleiche gilt bezüglich des vom Kläger geltend gemachten Berufsschadensausgleichs nach § 30 Abs. 3 BVG. Wie der 9. Senat des BSG in seiner - nicht veröffentlichten - Entscheidung vom 13. Januar 1966 (9 RV 790/65) mit eingehender Begründung ausgeführt hat, ist der Berufsschadensausgleich eine selbständige Versorgungsleistung, bei der im Streitfall die Berufung weder nach § 148 Nr. 3 SGG noch nach § 148 Nr. 4 SGG ausgeschlossen ist. Wenn auch die Zuerkennung des Berufsschadensausgleichs an eine bestimmte Mindesthöhe der MdE geknüpft ist (Erwerbsunfähigkeit nach § 30 Abs. 3 BVG idF des 1. Neuordnungsgesetzes - NOG - und Schwerbeschädigteneigenschaft nach § 30 Abs. 3 BVG idF des 2. NOG, so handelt es sich insoweit nur um eine Voraussetzung, die der Beschädigte nach diesen Vorschriften neben anderen Voraussetzungen erfüllt haben muß, um den Berufsschadensausgleich zu erhalten. Aus dieser von der Festsetzung der Höhe der MdE unabhängigen Gestaltung der Anspruchsvoraussetzungen ergibt sich, daß bei Streit um einen solchen Anspruch die Berufung nicht die Höhe der MdE im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG betrifft. Sie betrifft in solchem Falle auch nicht die Höhe der Ausgleichsrente im Sinne des § 148 Nr. 4 SGG; denn zwischen dieser und dem Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs. 3 BVG besteht weder ein rechtlicher noch sonstwie ein derartiger Zusammenhang, daß ein Streit um den Berufsschadensausgleich einem Streit um die Höhe der Ausgleichsrente gleichkäme. Da das LSG somit die Berufung des Klägers gegen das Urteil der ersten Instanz wegen der Pflegezulage und des Berufsschadensausgleichs nicht als unzulässig hätte verwerfen dürfen, sondern eine Sachentscheidung hätte treffen müssen, liegt ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG vor. Diesen Mangel hat der Kläger gerügt, so daß die Revision insoweit statthaft ist. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben, soweit die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil hinsichtlich der Pflegezulage und des Berufsschadensausgleichs als unzulässig verworfen worden ist. Insoweit war die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG), weil es an Feststellungen zu diesen Ansprüchen fehlt.

Soweit der Kläger jedoch geltend macht, die Berufung gegen das Urteil des SG sei auch hinsichtlich des Streits um die Höhe der MdE statthaft gewesen, trifft seine Auffassung nicht zu. Die Zulässigkeit des Rechtsmittels ist für jeden Anspruch gesondert zu prüfen, wenn in dem Rechtsstreit mehrere selbständige prozessuale Ansprüche geltend gemacht werden. Schon nach früherem Verfahrensrecht (§ 1707 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF) galt der Grundsatz, daß verschiedene selbständige Ansprüche grundsätzlich auch bei der Prüfung der Zulässigkeit des Rechtsmittels zu trennen sind. Allerdings konnte nach § 1707 RVO über einen Anspruch, für den das Rechtsmittel ausgeschlossen war, dann im Rechtsmittelverfahren entschieden werden, wenn sich das Rechtsmittel gleichzeitig auf ein zulässiges Rechtsmittel bezog und den zulässigen Anträgen ganz oder teilweise entsprochen wurde. Wegen des Fehlens einer solchen Vorschrift im SGG ist im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit davon auszugehen, daß bei einem Anspruch, für den die Berufung ausgeschlossen ist, die Berufung auch dann nicht zulässig sein kann, wenn er zusammen mit einem anderen, berufungsfähigen Anspruch geltend gemacht wird (siehe dazu Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 4 zu § 143 SGG und BSG 8, 222, 225). Demgemäß ist hinsichtlich der Statthaftigkeit der Revision - auch wenn es sich insoweit um ein das gesamte Verfahren betreffendes Rechtsmittel handelt - bei mehreren voneinander unabhängigen Ansprüchen für jeden Anspruch gesondert zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG vorliegen. Demnach ist im vorliegenden Fall hinsichtlich des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf die Rente eines erwerbsunfähigen Hirnverletzten besonders zu prüfen, ob insoweit die Revision statthaft ist. Das ist jedoch nicht der Fall. Das SG hat den angefochtenen Bescheid, durch den dem Kläger die Rente nach einer MdE um 80 v. H. bewilligt worden ist, bestätigt. Danach betraf die Berufung, in der der Kläger die Rente eines Erwerbsunfähigen begehrt hat, den Grad der MdE, ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Grundrente davon abhing. Insoweit war die Berufung gemäß § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen. Ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG läge nur dann vor, wenn die Berufung wegen des Vorliegens der vom Kläger gerügten Verfahrensmängel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG zulässig gewesen wäre. Das trifft - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht zu. Der Kläger hat hierzu in der Revisionsbegründung - wie auch vor dem LSG in der Berufungsbegründung - vorgetragen, das SG hätte noch darüber Beweis erheben müssen, ob durch den erheblichen Knochendefekt des Schädels mit Verlust von Knochensubstanz der Grad der MdE um 80 v. H. noch um 30 v. H. zu erhöhen ist. Insoweit hätte es der Einholung eines Fachgutachtens bedurft. Die in diesem Vortrag liegende Rüge einer Verletzung des § 103 SGG durch das SG greift nicht durch. Nach dieser Vorschrift erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen, wobei es an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden ist. Für die Frage, ob das SG seine Pflicht, den Sachverhalt zu erforschen, nicht erfüllt und dadurch § 103 SGG verletzt hat, kommt es darauf an, ob der Sachverhalt, wie er dem SG zur Zeit der Urteilsfällung bekannt gewesen ist, von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte oder ob er das Gericht zu weiteren Ermittlungen hätte drängen müssen (BSG in SozR SGG § 103 Nr. 7 und § 162 Nr. 20). Das SG hat zu der Frage der MdE und ihrer Erhöhung durch den Knochendefekt am Schädel ausgeführt, daß eine besondere Bewertung dieses Defektes nicht erfolgen könne, weil dieser Defekt "die Voraussetzung für die Schädigungsfolge bildet und somit schon in der MdE um 80 v. H. enthalten ist". Unter diesen Umständen brauchte sich das SG nicht mehr gedrängt zu fühlen, ein weiteres Gutachten über die Höhe der MdE für den Knochendefekt zu erheben, dies um so weniger, als der Sachverständige Dr. W, auf dessen Gutachten sich das SG vornehmlich gestützt hat, die MdE für die Schädigungsfolgen einschließlich des Knochendefektes ebenfalls mit 80 v. H. bewertet hatte. Somit lag eine Verletzung des § 103 SGG durch das SG nicht vor, so daß die Berufung insoweit auch nicht durch eine entsprechende Rüge des Klägers gemäß § 150 Nr. 2 SGG statthaft geworden war.

Soweit der Kläger vorbringt, daß das SG entgegen der Auffassung der Versorgungsbehörde ein berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG in seinem Beruf als Schneider verneint habe, will er offenbar geltend machen, das SG habe gegen das Verbot der Schlechterstellung im Rechtsmittelverfahren (reformatio in peius) verstoßen. Mit diesem Vorbringen rügt er aber nicht einen wesentlichen Mangel im Verfahren des SG im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG. Eine Verletzung des auch für die Sozialgerichtsbarkeit geltenden Grundsatzes des Verbots der Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers verstößt nicht gegen die das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozeßhandlung betreffenden Vorschriften, sondern gegen das das Verfahren selbst nicht berührende materielle Prozeßrecht (siehe dazu SGG in SozR SGG § 162 Nr. 91). Da somit die vom Kläger gerügten Mängel im Verfahren des SG im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG hinsichtlich der Entscheidung über die Höhe der MdE nicht vorlagen, hat das LSG insoweit die Berufung zutreffend nach § 148 Nr. 3 SGG als unzulässig verworfen. Insoweit sich daher die Revision des Klägers gegen die Verwerfung der Berufung durch das LSG richtet, als die Verwerfung die Entscheidung des SG über den Anspruch auf Erhöhung der Versorgungsrente nach einer MdE um 100 % betrifft, leidet das Verfahren des LSG nicht an einem Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, so daß die Revision in diesem Umfange als unzulässig zu verwerfen war. Das LSG wird nunmehr nur noch sachlich über den Anspruch des Klägers auf Pflegezulage und Berufsschadensausgleich zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324435

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