Entscheidungsstichwort (Thema)

Gehbehinderung. Fußweg zum Arbeitsplatz. Erwerbsunfähigkeit

 

Orientierungssatz

1. Die Fähigkeit, einen Arbeitsplatz aufzusuchen, gehört zur Erwerbsfähigkeit eines Versicherten, denn Tätigkeiten zum Zwecke des Gelderwerbs werden normalerweise von Arbeitnehmern außerhalb ihrer Wohnung verrichtet. Ein nur noch zumutbarer Fußweg bis zu einer Entfernung von 500 m ist im allgemeinen nicht für den üblichen Weg zur Erreichung der Arbeitsstätte ausreichend (vgl BSG 6.6.1986 5b RJ 52/85 = SozR 2200 § 1247 Nr 47). Damit ist der Senat nicht zu einer abstrakten Betrachtungsweise der Erwerbsfähigkeit in solchen Fällen übergegangen.

2. Die konkrete, auf den jeweiligen Versicherten bezogene Betrachtung seiner Erwerbsfähigkeit bzw Erwerbsunfähigkeit zwingt nicht dazu, Zufälligkeiten des jeweiligen Wohnortes oder der Wohnlage für die Entscheidung über den Rentenanspruch ausschlaggebend werden zu lassen. Desgleichen kann dieser hier auch nicht von der Zumutbarkeit eines Wohnungswechsels abhängig gemacht werden.

3. Die Erwerbsunfähigkeit läßt sich nur konkret widerlegen, wenn der Versicherte einen Arbeitsplatz mit den Wegbedingungen inne hat, die ihm zugemutet werden können, oder wenn ihm ein solcher tatsächlich angeboten wird.

 

Normenkette

RVO § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.01.1986; Aktenzeichen L 14 J 178/84)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 04.05.1984; Aktenzeichen S 14 (12) J 320/79)

 

Tatbestand

In diesem Rechtsstreit geht es darum, ob dem Kläger Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Der im Jahre 1926 geborene Kläger war zunächst als Metall- und als Holzarbeiter beschäftigt. Von 1949 bis 1951 erlernte er den Beruf des Putzers und Stukkateurs, in dem er bis 1962 versicherungspflichtig tätig war und den er sodann bis 1967 selbständig ausübte. 1966 erlitt er einen Arbeitsunfall, bei dem er sich beiderseitige Fersenbeinbrüche zuzog. Von 1967 bis Februar 1978 arbeitete er als Pförtner. Den Rentenantrag des Klägers vom 8. Januar 1979 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Oktober 1979 ab.

Das Sozialgericht (SG) hat diesen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Februar 1979 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 4. Mai 1984). Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 10. Januar 1986). Das LSG hat ausgeführt, der Kläger leide unter einem Zustand nach Fersenbeintrümmerfraktur beiderseits mit traumatischer Plattfußbildung und erheblicher Arthrose im unteren Sprunggelenk mit Gangbehinderung, die es erforderlich mache, orthopädische Schuhe zu tragen und einen Gehstock zu benutzen. Außerdem seien bei ihm ein chronisches Lumbalsyndrom, ein Halswirbelsäulensyndrom, ein leichter Bluthochdruck, eine Übererregbarkeit des vegetativen Nervensystems und eine Bewegungseinschränkung im rechten Ellenbogengelenk bei beginnender Arthrose festgestellt worden. Er sei nicht mehr in der Lage, körperlich schwere und mittelschwere Arbeiten zu verrichten. Unzumutbar seien Tätigkeiten, die ständig mit körperlichen Zwangshaltungen, mit schwerem Heben und Tragen sowie gehäuftem Bücken verbunden seien. Auf Gerüsten und Leitern könne er ebensowenig arbeiten wie im Akkord, am Fließband oder in industriellen Maschinenanlagen. Wegen der erheblichen Gehbehinderung dürfe der Arbeitsweg eine Entfernung von 500 m nicht übersteigen. Das Bundessozialgericht (BSG) sei in mehreren Entscheidungen davon ausgegangen, daß die Fähigkeit eines Versicherten, Fußwege bis zu 500 m zurückzulegen, nicht ausreiche, um einen Arbeitsplatz oder ein öffentliches Verkehrsmittel zu erreichen. Das LSG ist der Auffassung, wegen des grundsätzlich zumutbaren Wohnsitzwechsels komme es nicht auf die konkrete Entfernung zwischen der Wohnung des Klägers und der Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels an. Damit sei noch nichts über die außerdem zu berücksichtigende Entfernung zwischen Haltestelle und Arbeitsplatz gesagt. Entscheidend seien abstrakte Erfahrungswerte, die eine zumutbare Wegstrecke von mehr als 500 m erforderten. Da der Kläger dazu nicht mehr in der Lage sei, sei ihm der Arbeitsmarkt verschlossen; denn er sei auch nicht in der Lage, einen Personenkraftwagen zu fahren oder ein Fahrrad zu benutzen. Ein Umzug könne ihm nicht zugemutet werden, solange er keinen Arbeitsplatz innehabe.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung der §§ 1246, 1247 RVO und des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Der Kläger wohne in einem Ballungsgebiet. Deshalb sei davon auszugehen, daß die Gehstrecke zu einem möglichen Arbeitsplatz unter Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht mehr als 500 m betrage. Das LSG hätte aufklären müssen, wie weit üblicherweise - im Durchschnitt - ein Versicherter im Wohnort des Klägers gehen müsse, um eine Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen. Ferner hätte Beweis darüber erhoben werden müssen, in welcher Entfernung - von der Haltestelle an gerechnet - in deren Einzugsbereich im Durchschnitt Arbeitsplätze gelegen seien.

Die Beklagte beantragt sinngemäß, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das Berufungsgericht hat den Kläger als erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 RVO angesehen und ist dabei davon ausgegangen, daß die Folgen der im Jahre 1966 erlittenen Kompressionsfrakturen der Fersenbeine beiderseits es bedingen, daß der Kläger in der Regel nur eine Wegstrecke bis zu 500 m zurücklegen kann und daß er auch nicht in der Lage ist, einen Personenkraftwagen zu fahren oder ein Fahrrad zu benutzen. Unter Berücksichtigung dieser, von der Beklagten nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und deshalb für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Tatsachenfeststellungen ist die Entscheidung des Berufungsgerichts revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Seit der Entscheidung vom 27. Mai 1977 ist es ständige Rechtsprechung des BSG, "daß es grundsätzlich für jede Tätigkeit in hinreichender Zahl Arbeitsplätze - seien sie offen oder besetzt - jedenfalls dann gibt, wenn sie von Tarifverträgen erfaßt sind" (so BSGE 44, 39 f). Schon damals hat das BSG jedoch eine Ausnahme von diesem Grundsatz für Fälle herausgestellt, in denen Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage sind, Arbeitsplätze von ihrer Wohnung aus aufzusuchen (ständige Rechtsprechung seitdem, vgl BSG in SozR 2200 § 1247 Nr 33 und § 1246 Nr 90 mwN).

Inzwischen hat der 4a Senat des BSG im Urteil vom 25. Juni 1986 (SozR aaO § 1246 Nr 137 mwN) und ihm folgend der erkennende Senat am 9. September 1986 (aaO Nr 139) die Untergruppen von Tätigkeiten zusammengefaßt, bei denen die erhebliche Gefahr einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes besteht. Neben Arbeitsplätzen, die der Versicherte nicht von seiner Wohnung aus aufsuchen kann, handelt es sich um Tätigkeiten unter nicht betriebsüblichen Bedingungen, solche in Teilbereichen des Tätigkeitsfeldes, typische "Schonarbeitsplätze", Tätigkeiten, die als "Einstiegsstellen" für Berufsfremde praktisch nicht in Betracht kommen oder bewährten Mitarbeitern als Aufstiegspositionen vorbehalten sind sowie um besonders gelagerte Fälle tariflich erfaßter Arbeitsplätze geringer Zahl. Während es bei den anderen Untergruppen darauf ankommt, ob überhaupt eine hinreichende Zahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist, geht es bei eingeschränkter Fähigkeit, Wege zurückzulegen, um die erreichbaren Arbeitsplätze.

Zur Erleichterung und einheitlichen Handhabung der Prognose, ob der Versicherte bei vernünftiger Betrachtung eine Chance hat, einen Arbeitsplatz zu bekommen (vgl BSGE 56, 64, 69), hat der Senat für Fälle mit erheblicher Gehbehinderung einen Grenzwert von 500 m zum Maßstab genommen. Dazu hat der Senat im Urteil vom 6. Juni 1986 (SozR aaO § 1247 Nr 47 mwN) ausgeführt, die Fähigkeit, einen Arbeitsplatz aufzusuchen, gehöre zur Erwerbsfähigkeit; denn Tätigkeiten zum Zwecke des Gelderwerbs würden normalerweise von Arbeitnehmern außerhalb ihrer Wohnung verrichtet. Dabei hat der Senat nicht auf den konkreten Weg von der Wohnung des Versicherten zu einer Arbeitsstelle abgestellt. Entscheidend ist danach vielmehr, welche Wegstrecke zur Arbeitsstelle als üblich angesehen werden kann. Dazu reicht - wie der Senat unter Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung ausgeführt hat - ein Fußweg von 500 m im allgemeinen nicht aus.

Mit diesem Grenzwert orientiert sich die Rechtsprechung des Senats somit nicht an den konkreten Verhältnissen im Falle des Versicherten, der Rente begehrt. Vielmehr werden zum Maßstab aufgrund allgemeiner Erfahrungen die üblichen Bedingungen gemacht. Damit ist der Senat jedoch nicht zu einer abstrakten Betrachtungsweise der Erwerbsfähigkeit in solchen Fällen übergegangen. Vielmehr sieht die Wirklichkeit des Arbeitslebens so aus, daß grundsätzlich die Fähigkeit zu fordern ist, eine Arbeitsstelle aufsuchen zu können, wozu generell nur zumutbare Wegstrecken bis zu 500 m nicht ausreichen. Die konkrete, auf den jeweiligen Versicherten bezogene Betrachtung seiner Erwerbsfähigkeit bzw Erwerbsunfähigkeit zwingt nicht dazu, Zufälligkeiten des jeweiligen Wohnortes oder der Wohnlage für die Entscheidung über den Rentenanspruch ausschlaggebend werden zu lassen. Desgleichen kann dieser hier auch nicht von der Zumutbarkeit eines Wohnungswechsels abhängig gemacht werden.

Der Zweck des Grenzwertes von 500 m besteht darin, im Spannungsfeld zwischen Rehabilitation und Rentengewährung eine dem Sinn der gesetzlichen Regelungen entsprechende Aufgaben- und Lastenverteilung zu erreichen. Ist das Gehvermögen so erheblich eingeschränkt, dann sind die Chancen des Versicherten, einen Arbeitsplatz zu bekommen, in einem Maße geschrumpft, daß der Versicherungsträger sich zur Hilfestellung entschließen muß, wenn er den Rentenantrag ablehnen will. Nur so lassen sich Rehabilitation und Rente zu einem vernünftigen Zusammenwirken und zu einer sinnvollen Abgrenzung führen. Wie der Senat schon im Urteil vom 6. Juni 1986 (aaO, unter Hinweis auf BSG in SozR Nr 101 zu § 1246 RVO) ausgeführt hat, läßt sich in solchen Fällen die Erwerbsunfähigkeit nur konkret widerlegen, wenn der Versicherte einen Arbeitsplatz mit den Wegbedingungen inne hat, die ihm zugemutet werden können, oder wenn ihm ein solcher tatsächlich angeboten wird. Nach § 1236 Abs 1 Satz 1 RVO kann der Träger der Rentenversicherung Leistungen zur Rehabilitation erbringen, um dadurch die Erwerbsunfähigkeit abzuwenden. Zu den berufsfördernden Leistungen des § 1237a Abs 1 Nr 1 RVO gehören Hilfen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes (vgl auch BSGE 43, 75, 80 f). Hier liegt es folglich bei der Beklagten, die Erwerbsunfähigkeit durch berufsfördernde Maßnahmen zu vermeiden. Solange sie das - wie hier - nicht tut, ist der Kläger erwerbsunfähig (so schon Urteil vom 6. Juni 1986 aaO).

Auf der Basis dieser rechtlichen Erwägungen ist dem LSG die von der Beklagten gerügte Verletzung der Amtsermittlungspflicht des § 103 SGG nicht anzulasten. Bei der gegebenen Sach- und Rechtslage brauchte es sich zu der von der Beklagten für notwendig gehaltenen Beweiserhebung nicht gedrängt zu fühlen. Es hat vielmehr zutreffend den Kläger als erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 RVO angesehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662985

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