Entscheidungsstichwort (Thema)

Entschädigung des Kehlkopfkrebses eines Teerwerkers nach RVO § 551 Abs 2 wie eine Berufskrankheit

 

Orientierungssatz

1. Die Erkenntnis, daß Straßenbauarbeiter, die mit Teerstoffen umgehen, in bezug auf das Risiko an einem Krebs der Atemwege zu erkranken, in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung gefährdet sind, ist als wissenschaftlich gefestigt anzusehen.

2. Diese medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse sind auch neu iS des RVO § 551 Abs 2. Der Forschungsbericht Nr 151 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung, in dem die Erkenntnisse erstmals veröffentlicht wurden, ist erst Anfang 1977 erschienen, nachdem die BKVO7ÄndV vom 1976-12-08 bereits verkündet war; er konnte daher vom Verordnungsgeber nicht mehr berücksichtigt werden (vgl BSG 1977-06-23 2 RU 53/76 = BSGE 44, 90). Zwar wurde der Zusammenhang zwischen Teerexposition und Krebs bereits seit Jahren diskutiert, aber erst 1977 haben sich die Erkenntnisse darüber zur Berufskrankheitenreife verdichtet.

3. Zur Frage der Bedeutung der Rauchgewohnheiten des Versicherten für die Entstehung oder die Verschlimmerung des Kehlkopfkrebsleidens.

 

Normenkette

RVO § 551 Abs 2 Fassung: 1963-04-30; BKVO7ÄndV Fassung: 1976-12-08

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 21.06.1978; Aktenzeichen L 3 U 170/76)

SG Speyer (Entscheidung vom 03.11.1976; Aktenzeichen S 6 U 205/75)

 

Tatbestand

I.

Der 1922 geborene Kläger war von 1956 an mehrere Jahre in Straßenbauunternehmen tätig und hatte während dieser Zeit Umgang mit Teer. Wegen einer im Jahre 1970 festgestellten Kehlkopfkrebserkrankung, die eine Entfernung des Kehlkopfes erforderlich machte, begehrt er von der Beklagten Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Durch Bescheid vom 25. Juli 1975 lehnte die Beklagte einen Entschädigungsanspruch des Klägers ab, weil die Erkrankung nicht unter die Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) falle; sie sei auch nicht gemäß § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wie eine Berufskrankheit zu entschädigen. Denn seit dem Erlaß der Siebenten BKVO seien keinerlei neue Erkenntnisse dafür gewonnen worden, daß ein Kehlkopfkrebs bei Straßenarbeitern durch Einwirkung von Teerdämpfen entstehen könne. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 26. März 1976 zurück.

Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Speyer abgewiesen (Urteil vom 3. November 1976). Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Erkrankung des Klägers und seiner beruflichen Tätigkeit sei nicht wahrscheinlich. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger wegen eines beruflich bedingten Kehlkopfkrebsleidens Entschädigungsleistungen nach § 551 Abs 2 RVO zu gewähren (Urteil vom 21. Juni 1978). Zwar liege beim Kläger keine Berufskrankheit iS des § 551 Abs 1 RVO iVm der zur Zeit der Feststellung der Krebserkrankung Ende 1970 geltenden 7. BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) und der ab 1. Januar 1977 geltenden Verordnung zur Änderung der 7. BKVO vom 8. Dezember 1976 (BGBl I 3329) vor. Jedoch sei die Krankheit des Klägers nach § 551 Abs 2 RVO wie eine Berufskrankheit zu entschädigen. Der Kläger sei als Teerwerker im Straßenbau von 1956 bis 1959 einer sehr erheblichen Teerexposition ausgesetzt gewesen. Auch nachdem in seinem Beschäftigungsunternehmen die im Straßenbau verwendeten Materialien auf Bitumenbasis umgestellt worden seien, habe die Teerexposition nicht aufgehört. Vor allem durch die beim Aufbrechen alter Straßendecken, beim Abkarren des Materials und bei ähnlichen Arbeiten entstehenden teerhaltigen Feinstäube sei der Kläger bei zum Teil schwerer Körperlicher Arbeit und hierdurch verursachter vertiefter Atmung weiterhin einer schädigenden Beeinträchtigung ausgesetzt gewesen. Die medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. S /Dr. H (Gutachten vom 19. Juli 1976) und Prof. Dr. M (Gutachten vom 6. Februar 1978) hätten darauf hingewiesen, daß die berufsbedingten Teerexpositionen das Entstehungsrisiko für Tumore der Atemwege im Vergleich zur Umweltbelastung der Normalbevölkerung erheblich gesteigert hätten. Insbesondere Prof. Dr. M habe dargelegt, daß die Exposition gegenüber krebserzeugenden Verbindungen bei Straßenbauarbeitern in etwa den beruflichen Schadenseinwirkungen entsprächen, denen Koksarbeiter ausgesetzt seien. Dementsprechend könnten die Forschungsergebnisse über die Arbeit dieses Berufszweiges für die mit Teer hantierenden Straßenbauarbeiter mit herangezogen werden. Hierbei zeige sich, daß eine gegenüber der allgemeinen Bevölkerung erhöhte Krebsquote festzustellen sei. Angesichts der vergleichbaren Arbeitsbedingungen sei folglich auch der Kläger während seiner langjährigen Tätigkeit im Straßenbau einem erhöhten Krebsrisiko ausgesetzt gewesen. Für den berufsbedingten Zusammenhang zwischen Arbeitstätigkeit und Kehlkopfkrebsleiden spräche nach den Ausführungen von Prof. Dr. M auch das Alter des Klägers von erst 47 Jahren beim Auftreten der ersten Krankheitserscheinungen. Auch die Gutachten von Prof. Dr. P /Dr. H vom 2. Mai 1973, von Prof. Dr. V /Dr. S vom 29. Januar 1974 und die Stellungnahme des Staatl. Gewerbearztes Dr. Z vom 5. September 1973 hätten ergeben, daß das Kehlkopfkrebsleiden des Klägers wahrscheinlich durch seine langjährige Beschäftigung als Teerwerker im Straßenbau verursacht worden sei. Den Gutachten von Dr. S vom 12. November 1974 und 24. Juni 1975 sowie von Prof. Dr. S vom 30. August 1976, die einen Ursachenzusammenhang verneinten, könne nicht gefolgt werden. In ihnen sei nicht hinreichend berücksichtigt, daß die Teerexposition des Klägers nicht schon 1960 beendet, sondern der Kläger auch weiterhin beim Aufbrechen von Straßen teerhaltigen Stäuben ausgesetzt gewesen sei. Zudem hätten Dr. S und Prof. Dr. S wesentliche Literaturunterlagen und Forschungsunterlagen außer acht gelassen. Die Tatsache, daß der Kläger seit seinem 21. Lebensjahr Pfeifenraucher war, habe für die Krebserkrankung weder eine auslösende noch eine begünstigende Rolle gespielt. Denn der Kläger habe den Tabakkonsum (vier bis sechs Pfeifen-Portionen je Tag) bereits 1966 eingestellt. Das Risiko, an einem Tumor der Luftwege zu erkranken, nehme bei Exrauchern ab und sei sieben bis neun Jahre nach Beendigung des Tabakkonsums nur noch geringfügig höher als bei Nichtrauchern. Eine Quantifizierung des Risikos durch Rauchen und Teerexposition sei daher im vorliegenden Fall entbehrlich. Daß das Krebsleiden des Klägers aufgrund neuer Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft durch die besonderen beruflichen Schadenseinwirkungen verursacht worden sei, ergebe sich daraus, daß die wissenschaftlichen Untersuchungen von Prof. Dr. M erst Anfang 1977 im Forschungsbericht Nr. 151 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung veröffentlicht worden seien und nach Auskunft des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 19. April 1978 bei der Erstellung der Berufskrankheiten-Liste der geänderten 7. BKVO noch nicht zur Verfügung gestanden haben. Seitdem hätten sich die früheren Annahmen zu wirklichen Erkenntnissen über den ursächlichen Zusammenhang zwischen beruflicher Tätigkeit und Kehlkopfkrebs bei Teerarbeitern verdichtet und in der medizinischen Wissenschaft im wesentlichen durchgesetzt. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Das Urteil des LSG verstoße gegen § 551 Abs 2 iVm Abs 1 RVO. Denn es sei nicht wahrscheinlich gemacht, daß Teerarbeiter im Straßenbau den beruflich bedingten Gefahren einer Kehlkopfkrebserkrankung in erheblich höherem Grade ausgesetzt seien als die übrige Bevölkerung. Insoweit gelte immer noch die vom BMA im Schreiben vom 19. April 1978 zitierte Schlußfolgerung des Ausschusses "Berufskrankheiten" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats, wonach es noch an gesicherten statistischen Erkenntnissen dafür fehle, daß Krebserkrankungen des Kehlkopfes durch besondere berufliche Schadenseinwirkungen verursacht werden. Es sei unerfindlich, wie das LSG zu der Auffassung habe gelangen können, die Meinung von Prof. Dr. M habe sich in der medizinischen Wissenschaft insoweit durchgesetzt, als nunmehr die überwiegende Mehrheit der medizinischen Sachverständigen seiner Auffassung über die berufliche Bedingtheit des Kehlkopfkrebses folge. Dagegen spreche schon die im Berufungsverfahren vorgelegte Äußerung des Vorsitzenden der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 3. April 1978. Die Revision wendet sich ferner gegen die rechtliche Wertung der Tätigkeit des Klägers im Straßenbau als wesentliche Bedingung einer berufsbedingten Kehlkopfkrebserkrankung iS des § 551 Abs 2 RVO. Das LSG habe die im Gutachten von Prof. Dr. M dargelegten Forschungsergebnisse unzulässigerweise auf den vorliegenden Fall übertragen und ihre - der Beklagten - Argumente nicht ausreichend gewürdigt. Insbesondere sei das LSG nicht der Problematik des Zusammenhanges zwischen Rauchgewohnheiten und Kehlkopfkrebs nachgegangen. Es stütze sich ausschließlich auf die nicht überzeugende Feststellung von Prof. Dr. M, daß die Rauchgewohnheiten des Klägers im Vergleich zu seiner Teerexposition nur eine untergeordnete Bedeutung hätten und weder als auslösender noch als begünstigender Faktor bei der Krebsentstehung eine Rolle spielten. Das LSG habe also ohne nähere Prüfung der Teerexposition des Klägers die Bedeutung einer wesentlichen Ursache für den Kehlkopfkrebs beigemessen, ohne den anderen von der Wissenschaft anerkannten möglichen Ursachen nachzugehen. In diesem Zusammenhang werde vor allem auf das vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg zusammengetragene Material verwiesen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 21. Juni 1978 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Speyer vom 3. November 1976 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er trägt vor, das LSG sei zu Recht zu der Erkenntnis gelangt, daß die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO erfüllt seien. Die wissenschaftlichen Untersuchungen von Prof. Dr. M seien erst nach dem Inkrafttreten der Änderungs-Fassung der 7. BKVO bekannt geworden und hätten daher bei deren Abfassung nicht mehr berücksichtigt werden können. Bei der Arbeit von Prof. Dr. M habe es sich um die Erledigung eines Forschungsauftrages der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung gehandelt. Gegen die Untersuchungsergebnisse sei keine wissenschaftlich fundierte Kritik laut geworden. Damit dürfte als wissenschaftliche Erkenntnis feststehen, daß die berufsbedingte Teerexposition das Entstehungsrisiko für Tumore der Atemwege im Vergleich zur Umweltbelastung der Normalbevölkerung erheblich steigere. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft habe in der Liste der Maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen 1978 unter den Stoffen, die bei Menschen erfahrungsgemäß bösartige Geschwülste zu verursachen vermögen, teerhaltige,teerölhaltige oder pechhaltige Bitumen aufgenommen. Das sei offensichtlich eine Konsequenz aus den Forschungsergebnissen von Prof. Dr. M. Es sei deshalb zu erwarten, daß der Verordnungsgeber bei Erlaß einer neugefaßten BKVO den berufsbedingten Kehlkopfkrebs bei Teerarbeitern in die Liste der Berufskrankheiten aufnehmen werde. Das LSG habe auch verfahrensfehlerfrei festgestellt, daß der Kehlkopfkrebs des Klägers berufsbedingt sei. Die Beklagte habe keinen Verfahrensverstoß formgerecht aufgezeigt; sie beurteile lediglich die Tatsachen anders. Die Rauchgewohnheiten des Klägers seien vom LSG gleichfalls hinreichend gewürdigt worden.

 

Entscheidungsgründe

II.

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 SGG).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Nach § 551 Abs 2 RVO sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der gemäß § 551 Abs 1 RVO von der Bundesregierung zu erlassenden BKVO bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs 1 RVO vorliegen. Eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO erfordert danach zum einen, daß die Erkrankung nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht wird, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; zum anderen muß im Einzelfall die Krankheit mit der gefährdenden Tätigkeit des Versicherten in einem ursächlichen Zusammenhang stehen (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 492 v). Beide Voraussetzungen hat das LSG zutreffend bejaht.

In tatsächlicher Hinsicht hat das LSG festgestellt, daß die Erkrankung an Kehlkopfkrebs bei Straßenbauarbeitern, die mit Teerstoffen umgehen, nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft auf der besonderen Einwirkung durch die Teerstoffe beruht, wodurch diese Arbeiter in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung gefährdet sind. An diese Feststellung ist der Senat gemäß § 163 SGG gebunden, da die Beklagte in bezug auf diese Feststellung keine begründete Revisionsrüge vorgebracht hat. Ihre aus § 128 Abs 1 SGG hergeleitete Rüge, es gelte immer noch die vom BMA in seinem Schreiben vom 19. April 1978 zitierte Schlußfolgerung des Ausschusses "Berufskrankheiten" des Ärztlichen Sachverständigenbeirats, daß es heute noch an ausreichend statistisch gesicherten medizinischen Erkenntnissen fehle, der Kehlkopfkrebs bei Teerarbeitern im Straßenbau beruhe auf besonderen beruflich bedingten Schadenseinwirkungen, greift nicht durch. Gemäß § 128 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis gewonnenen Überzeugung. Es hat in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung maßgebend gewesen sind. Eine unrichtige oder nicht erschöpfende Beweiswürdigung betrifft daher grundsätzlich nicht den Gang des Verfahrens, sondern den Inhalt der getroffenen Entscheidung. Sie ist daher grundsätzlich kein Verfahrensmangel, sondern ein Mangel in der Urteilsfindung. Ein Mangel des Verfahrens liegt nur vor, wenn das Berufungsgericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten, zB gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen Denkgesetze verstoßen hat (BSGE 2, 236, 237). Insoweit ist ein Mangel des angefochtenen Urteils nicht erkennbar. Das LSG hat sich bei seiner Feststellung, daß Straßenbauarbeiter, die mit Teerstoffen umgehen, in bezug auf das Risiko an einem Krebs der Atemwege zu erkranken, in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung gefährdet sind, auf die Gutachten von Prof. Dr. S /Dr. H und von Prof. Dr. M gestützt. In beiden Gutachten ist ausführlich zur Frage der Gefährdung von Straßenbauarbeitern (Teerwerkern), an Kehlkopfkrebs zu erkranken, Stellung genommen worden. Insbesondere Prof. Dr. M hat aufgrund eigener Untersuchungen der Todesursachen von aktiven Arbeitern und Pensionären der Hamburger Gaswerke (Ofenblock, Kokerei) und der Wasserwerke eine statistisch signifikante erhöhte Sterblichkeit an Krebs festgestellt. Ferner hat er im einzelnen dargelegt, daß und inwieweit die dabei gewonnenen Erkenntnisse auch für die Verhältnisse beim Umgang mit Teer im Straßenbau gültig sind. Es bedeutet unter diesen Umständen keine Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung, daß das LSG Prof. Dr. M und nicht den im Schreiben des BMA vom 19. April 1978 zitierten Auffassungen gefolgt ist, zudem diese teilweise aus dem Jahre 1972 stammen, somit nicht mehr den neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse wiedergeben.

Die Erkenntnisse von Prof. Dr. M sind auch als wissenschaftlich gefestigt anzusehen. Sie sind seit Anfang 1977 im Forschungsbericht Nr 151 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung veröffentlicht, ohne daß bisher dagegen eine wissenschaftlich begründete Kritik laut geworden ist. Auch die Beklagte hat in dieser Hinsicht nichts Wesentliches vorgetragen. Prof. Dr. H, Vorsitzender der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hat in seinem Schreiben vom 3. April 1978 zum Gutachten von Prof. Dr. M ua ausgeführt, daß man zwar die Verhältnisse in Kokereibetrieben und anderen Anstalten nicht direkt mit Straßenteerarbeiten vergleichen dürfe, jedoch der Unterschied nur graduell sei. Eine gewisse Krebserkrankungshäufigkeit - auch der Atemwege und wohl auch am Kehlkopf - sei bei Straßenteerarbeiten immer zu erwarten. An der Exposition des Klägers gegenüber krebserzeugenden Teerprodukten hatte Prof. Dr. H keinen Zweifel. In dem Schreiben des BMA vom 19. April 1978 wird auf den erwähnten Forschungsbericht Bezug genommen, ohne ihn zu werten.

Die von Prof. Dr. M vermittelten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse sind auch neu iS des § 551 Abs 2 RVO. Der bereits erwähnte Forschungsbericht, in dem die Erkenntnisse erstmals veröffentlicht wurden, ist erst Anfang 1977 erschienen, nachdem die Verordnung zur Änderung der 7. BKVO vom 8. Dezember 1976 bereits verkündet war; er konnte daher vom Verordnungsgeber nicht mehr berücksichtigt werden (vgl BSGE 21, 296; 44, 90). Zwar wurde der Zusammenhang zwischen Teerexposition und Krebs bereits seit Jahren diskutiert, wie den in diesem Verfahren erstatteten Gutachten zu entnehmen ist, aber erst 1977 haben sich die Erkenntnisse darüber zur Berufskrankheitenreife verdichtet.

Den ursächlichen Zusammenhang zwischen der beruflichen Teerexposition des Klägers und seinem Kehlkopfkrebsleiden hat das LSG verfahrensfehlerfrei bejaht. Die Feststellung der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit des Klägers als teerexponierter Straßenbauarbeiter und der Krebserkrankung im naturwissenschaftlich -philosophischen Sinn ist eine Tatsachenfeststellung (vgl BSGE 1, 268, 270; 7, 288, 290). Insoweit sind von der Beklagten keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgetragen worden; der Senat ist daher gemäß § 163 SGG an diese Feststellung gebunden. Ob das LSG die Rauchgewohnheiten des Klägers für die Entstehung oder die Verschlimmerung des Krebsleidens überhaupt als eine weitere Bedingung in naturwissenschaftlich-philosophischem Sinn, wenn auch nicht als wesentliche Bedingung angesehen hat, kann dem angefochtenen Urteil nicht eindeutig entnommen werden. Sofern das LSG die Rauchgewohnheiten des Klägers nicht schon in tatsächlicher Hinsicht als Bedingung ausgeschieden, sondern sie als rechtlich nicht wesentliche Bedingung gewertet hat, liegt ein Verstoß gegen die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltende Kausalitätsnorm nicht vor. Als Ursache oder Mitursache im Rechtssinn sind unter Abwägung ihres unterschiedlichen Wertes nur die Bedingungen (im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn) anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (vgl BSG 1, 72, 76). Unter Berücksichtigung der Ausführungen von Prof. Dr. M daß die Rauchgewohnheiten des Klägers nur eine untergeordnete, weder die Krebserkrankung auslösende noch begünstigende Rolle gespielt haben, ist das LSG ohne Verstoß gegen die Kausalitätsnorm mit Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Teerexposition des Klägers eine rechtlich wesentliche Ursache für seine Krebserkrankung gewesen ist. Das LSG brauchte sich auch nicht gedrängt zu fühlen, eine Quantifizierung des Krebsrisikos durch Rauchen und durch Teerexposition vorzunehmen, zumal da der Kläger den Tabakkonsum bereits 1966 eingestellt hatte.

Da somit die Voraussetzungen für eine Entschädigung des Klägers nach § 551 Abs 2 RVO vom LSG zutreffend bejaht und - von der Revision unangefochtenen - auch die Voraussetzungen für eine Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Leistungen dem Grunde nach festgestellt worden sind, mußte die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658793

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