Leitsatz (amtlich)

Für die Frage, ob der Versicherte seiner früheren Ehefrau aufgrund einer zwischen ihnen im Zusammenhang mit der Scheidung getroffenen Unterhaltsvereinbarung unter Berücksichtigung zwischenzeitlicher Veränderung der Verhältnisse zur Zeit seines Todes Unterhalt zu leisten hatte, kommt es allein auf die materielle Rechtslage an; die Rechtskraft eines zwischen dem Versicherten und seiner früheren Ehefrau ergangenen Unterhaltsurteils kann einen Anspruch auf Unterhaltsleistung ebensowenig ausschließen wie das Unterlassen einer Änderungsklage durch die frühere Ehefrau.

 

Normenkette

AVG § 42 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; ZPO § 323 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12, § 325 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12, § 767 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. November 1974 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 4. Oktober 1972 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat der Beigeladenen die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die 1919 zwischen der Beigeladenen und dem Versicherten geschlossene Ehe wurde 1940 aus dessen Verschulden geschieden. Zuvor hatten die Eheleute für den Fall der Scheidung gemäß § 80 des damaligen (§ 72 des heutigen) Ehegesetzes (EheG) vereinbart, daß der Versicherte der Beigeladenen monatlich 100,- RM an Unterhalt zahlen sollte; Wiederheirat des Versicherten und Einkommen der Beigeladenen sollten keinen Grund für eine Abänderungsklage nach § 323 Zivilprozeßordnung (ZPO) bilden. Der Versicherte hatte damals ein jährliches Nettoeinkommen von 5.500,- RM. Im November 1960 heiratete er die Klägerin. 1964 verklagte ihn die Beigeladene auf Zahlung von Unterhalt in Höhe von 150,- DM monatlich; das Amtsgericht (AG) Obermoschel verurteilte den Versicherten unter Klageabweisung im übrigen zu einer monatlichen Zahlung von 60,- DM, die Berufungen wurden vom Landgericht (LG) Kaiserslautern im März 1966 zurückgewiesen.

Der Versicherte zahlte den festgesetzten Unterhalt bis zu seinem Tode im Dezember 1970. Er erhielt 1970 Rente von der Beklagten in Höhe von monatlich 815,10 DM. Die Beigeladene bezog 1970 ebenfalls Versichertenrente in Höhe von monatlich 202,40 DM sowie Sozialhilfe. Die Klägerin hatte 1970 ein Arbeitseinkommen in Höhe von 14.824,- DM; außerdem erhielt sie Rente wegen Erwerbsunfähigkeit in Höhe von 259,30 DM monatlich.

Im Dezember 1970 beantragten die Klägerin und die Beigeladene Hinterbliebenenrenten. Mit Bescheid vom 25. Februar 1971 bewilligte die Beklagte der Klägerin Witwenrente; mit Bescheiden vom 1. Juni 1971 gewährte sie der Beigeladenen eine Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und berechnete deswegen die Witwenrente neu, wobei sie den Gesamtbetrag der Renten nach der Dauer der Ehen mit dem Versicherten aufteilte. Die auf Zahlung der vollen Witwenrente gerichtete Klage wies das Sozialgericht (SG) Heilbronn ab; die Berufung der Klägerin hatte Erfolg. Zur Begründung hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt (Breith. 1975, S. 671):

Die Beigeladene habe zwar zur Zeit des Todes des Versicherten gegen diesen "an sich" einen Unterhaltsanspruch in Höhe von mindestens 100,- DM monatlich gehabt, weil seit 1941 die Kaufkraft der RM/DM so weit gesunken und die Lebenshaltungskosten so weit gestiegen seien, daß ein darunter liegender Betrag im Jahre 1970 als unangemessen erscheinen mußte, zumal die wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten und der Klägerin damals verhältnismäßig günstig gewesen seien. Dieser Unterhaltsanspruch sei aber durch das Urteil des LG Kaiserslautern auf 60,- DM monatlich und damit auf einen Betrag begrenzt worden, der hinter 25 % des notwendigen Mindestbedarfs zurückgeblieben sei; 25 % dieses Mindestbedarfs hätten 1970 82,19 DM ausgemacht. Daß das Urteil im Verhältnis zur Beklagten keine Rechtskraft entfalte, ändere nichts daran, daß die Beigeladene einen über 60,- DM hinausgehenden Anspruch, der rechtstheoretisch gegeben gewesen sein möge, nicht habe verwirklichen können. Zwar hätte die Beigeladene 1969 oder 1970 durch Änderungsklage eine Verurteilung des Versicherten zur Zahlung eines über 82,19 DM liegenden Betrages erreichen können, sie habe eine solche Klage aber nicht erhoben.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückweisung der Berufung.

Das LSG habe verkannt, daß bei der Beurteilung der Unterhaltspflicht nach dem Ehegesetz (EheG) allein die materielle Rechtslage maßgebend sei. Deswegen komme es auf die Rechtskraft des zivilgerichtlichen Urteils ebensowenig an wie auf das Unterlassen einer Klage nach § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO), von der die damals 75-jährige Beigeladene wohl durch den ersten Prozeßausgang abgeschreckt worden sei.

Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision.

Sie hält das angefochtene Urteil für im Ergebnis zutreffend, ist jedoch der Meinung, das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß der Beigeladenen "an sich" ein Unterhaltsanspruch in Höhe von mindestens 100,- DM monatlich zugestanden habe; in Wahrheit habe nach § 58 EheG nur ein monatlicher Unterhaltsanspruch in Höhe von 68,80 DM bestanden.

Die Beigeladene schließt sich dem Antrag der Beklagten an.

Alle Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Die Beigeladene hat Anspruch auf Rente nach § 42 AVG.

Nach § 42 Satz 1 AVG erhält Hinterbliebenenrente eine frühere Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG oder aus anderen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat.

Das LSG ist unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Entwicklung seit der Scheidung sowie der wirtschaftlichen Lage der früheren Eheleute und der Klägerin zur Annahme eines Unterhaltsanspruchs der Beigeladenen in Höhe von monatlich mindestens 100,- DM zur Zeit des Todes des Versicherten gelangt. Darin kann ein Verstoß gegen gesetzliche Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze und damit eine Rechtsverletzung nicht gefunden werden. Soweit die Klägerin insoweit Bedenken geltend macht, übersieht sie, daß sich die Höhe des Anspruchs hier zumindest nicht unmittelbar aus § 58 EheG, sondern aus dem Unterhaltsvertrag unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich veränderten Verhältnisse ergibt. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob der Vertrag nur den gesetzlich geschuldeten nachehelichen Unterhalt der Höhe nach näher bestimmt hat (vgl. RGZ 164, 65 (68); BGHZ 31, 210 (218); BSG 34, 192 (193)) oder ob er inhaltlich mehr oder minder unabhängig von den Vorschriften der §§ 58 ff EheG eine selbständige Leistungspflicht begründen sollte - wie das AG Obermoschel hier angenommen hat -; steht nämlich fest, daß der Versicherte nach materiellem Recht zur Unterhaltsgewährung verpflichtet war, so ist es ohne Belang, ob diese Verpflichtung auf dem EheG oder auf sonstigen Gründen beruhte.

Das LSG hat jedoch zu Unrecht das Vorliegen eines 25 v. H. des notwendigen Mindestbedarfs der Beigeladenen erreichenden Unterhaltsanspruchs (vgl. BSG 22, 44; SozR Nr. 5 zu 2200 § 1265 RVO) mit der Begründung verneint, daß der Unterhaltsanspruch durch das Urteil des LG Kaiserslautern auf einen geringeren Betrag begrenzt worden sei, und daß die Beigeladene die Möglichkeit, durch Klage nach § 323 ZPO eine Verurteilung des Versicherten zu einer den Mindestbedarf überschreitenden Unterhaltszahlung zu erreichen, nicht genutzt habe. Der Versicherte hatte in erster Linie dann im Sinne von § 42 Satz 1 AVG Unterhalt zu leisten, wenn er nach materiellem Recht zum Unterhalt verpflichtet war. Eine solche Verpflichtung braucht nicht in einem vollstreckbaren Titel - hier: einem neuen vollstreckbaren Titel - ihren Niederschlag gefunden haben; zumindest in den Fällen, in denen ein sachlich-rechtlicher Anspruch gegeben gewesen war, wäre es unbefriedigend und unverständlich, wollte man den unter Umständen jahrzehntelangen Rentenbezug von den Zufälligkeiten abhängig machen, die mit der Führung von Unterhaltsprozessen und Abänderungsklagen vielfach verbunden sind (vgl. SozR Nr. 5 zu § 1265 RVO). Ebensowenig wie es für einen Unterhaltsanspruch i. S. von § 42 Satz 1 AVG darauf ankommt, ob und ggf. in welchem Umfang tatsächlich Unterhalt gezahlt worden ist und ob eine solche Zahlung erzwungen werden konnte (vgl. BSG 20, 1 (5)), kann es darauf ankommen, ob und mit welchem Erfolg der Anspruch - erstmalig oder durch Abänderungsklage - gerichtlich geltend gemacht worden ist; dies gilt um so mehr, als der Rentenversicherungsträger nicht zu denen gehört, für die und gegen die das Unterhaltsurteil Rechtskraftwirkung entfaltet (§ 325 ZPO), und auch für die Annahme einer sogen. Drittwirkung der Rechtskraft (vgl. Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl., S. 843 mit weiteren Nachweisen) kein Raum ist. Das rechtskräftige Unterhaltsurteil ist daher ebenso wie das Unterlassen einer Abänderungsklage ohne Einfluß auf den Unterhaltsanspruch der Beigeladenen und damit auch auf ihren Anspruch aus § 42 Satz 1 AVG.

Allerdings hat der Große Senat (GS) des BSG in seinem Beschluß vom 27. Juni 1963 (BSG 20, 1 (3) ausgesprochen, daß auch ein vollstreckbarer Titel ein "sonstiger Grund" i. S. von § 42 Satz 1 AVG sein könne. Hierbei ist jedoch nur ein weiterer "sonstiger Grund" aufgezeigt, der neben die im materiellen Recht wurzelnde Verpflichtung tritt. Es handelt sich dann um eine meist zusätzliche, jedenfalls aber um eine besondere prozessuale Rechtsposition, aus der sich eine Haftung des Versicherten ergab, so daß sie unter dem Gesichtspunkt der Unterhaltsersatzfunktion der Hinterbliebenenrenten eine Grundlage für einen Anspruch aus § 42 Satz 1 AVG bilden kann. Ihre Anerkennung rechtfertigt nicht eine restriktive Auslegung dieser Vorschrift im übrigen. Gerade die vom GS angestellte Erwägung, der Gesetzgeber habe den Begriff des "sonstigen Grundes" nicht auf bestimmte Rechtspositionen beschränken wollen (BSG 20, 1 (4)) schließt es aus, den aus prozessualen Gründen nicht realisierten materiell-rechtlichen Ansprüchen die Eignung abzusprechen, einen Rentenanspruch aus § 42 Satz 1 AVG zu begründen. Dabei kann nicht unbeachtet bleiben, daß der Unterhaltstitel einen "sonstigen Grund" dann nicht mehr darstellt, wenn der Versicherte "zur Zeit seines Todes" die Wirkungen des Titels nach den Vorschriften der §§ 323, 767 ZPO und damit letztlich aus sachlich-rechtlichen Gründen hätte beseitigen können (BSG 20, 1 (6)). Muß sich somit einerseits die frühere Ehefrau, wenn sie einen Titel für einen 25 % des Mindestbedarfs übersteigenden Unterhalt in Händen hat, entgegenhalten lassen, daß gegen sie eine Abänderungsklage mit Erfolg hätte erhoben werden können, so wäre es befremdlich, wollte man es ihr andererseits, wenn der Titel auf einen geringeren Unterhaltsbetrag lautete, zum Nachteil gereichen lassen, daß sie selbst eine solche Klage nicht erhoben habe.

Nach alledem ist der Anspruch der Beigeladenen aus § 42 Satz 1 AVG mit der sich auch für die Klägerin nach § 45 Abs. 4 Satz 1 AVG ergebenden Folge begründet. Da sich somit das Urteil des SG als im Ergebnis zutreffend erweist, war das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 160

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